- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

Schritte aus der Psychose – Zurück in die Normalität

Psychische Erkrankungen sind immer noch kein allgemeingültiges Thema. Das Wissen ist hier deutlich geringer, als bei somatischen Erkrankungen. Daher gebe ich Antworten auf einige wichtige Fragen: Wie merke ich, ob ich psychisch krank bin? Wie entsteht eine Psychose? Was passiert mit einem Menschen, der an einer Psychose erkrankt ist? Wie sieht der Alltag in einem psychiatrischen Krankenhaus aus? Wie werden psychische Erkrankungen behandelt? Welche Therapieziele gibt es bei Psychosen? Beispiele sollen helfen, die Theorie praktisch zu gestalten.

Wie merke ich, ob ich psychisch krank bin?

Bevor eine Behandlung überhaupt angeboten werden kann, muss der Patient selbst erkennen, dass er krank ist. Es gibt verschiedene Symptome, die auf eine Erkrankung hindeuten:

Eine 14-jährige Patientin, deren Nacktbilder auf Facebook veröffentlicht worden sind, zeigte all diese Symptome. Sie musste zwanghaft die über sie abgegebenen Kommentare lesen. Sie dachte, dass jeder über sie spreche und jeder Blick auf der Straße ihr galt. Sie hatte das Gefühl, dass jeder ihre Bilder kannte. Einschlafen konnte sie aus Sorge nicht mehr. Am nächsten Morgen war es ihr unmöglich, sich auf irgendwelche Dinge zu konzentrieren. Aus Scham- und Schuldgefühlen heraus ging sie bereits nach wenigen Tagen nicht mehr in die Schule. Laut ihrer Mutter, war es nicht mehr möglich, mit ihr über irgendetwas anderes zu sprechen, als über diese für sie sehr große Peinlichkeit. Ihre Stimmung war gedrückt und sie dachte sogar über Selbstmord nach.

Diagnostisch sahen wir eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen oder eine akute Belastungsreaktion mit psychotischen Symptomen.

Mobbing in sozialen Netzwerken – Was tun, wenn ich es nicht mehr aushalte? Ein Beispiel …

Eine Auflage der Behandlung war, dass sie sich vorerst bei Facebook abmelden und auch ansonsten aus sozialen Netzwerken fernhalten musste. Eine Aufnahme in die Tagesklinik für drei Monate mit regelmäßigen, emotional stabilisierenden und später selbstwertsteigernden Gesprächen brachte eine Zustandsberuhigung. Ein parallel stattfindender Besuch der angegliederten Schule für Erkrankte, ermöglichte ihr einen schulischen Neubeginn.

Nach zwei Monaten traute sie sich, stundenweise wieder in ihre alte Schule zu gehen. Dabei haben ihr eine Vielzahl von Therapieangeboten und Gespräche mit Mitpatienten geholfen. Sie gewann an Realitätsbezug, Selbstbewusstsein und ihre Stimmung verbesserte sich. Nach der tagesklinischen Behandlung ist sie noch regelmäßig zu Gesprächen in unserer Ambulanz, aber nur noch alle vier Wochen. Sie hat neue Freunde, nutzt das Internet sehr vorsichtig und kann ihre Stimmung durch sportliche Aktivitäten in Spannungssituationen gut regulieren. Eine medikamentöse Behandlung war in ihrem Fall nicht notwendig.

Er schottet sich vollkommen ab! – Was tun? Ein Beispiel …

Dagegen sahen wir einen 17-jährigen Abiturient, der sich zunehmend zurückzog, nur noch in seinem Zimmer vor dem Computer saß, um Verschwörungstheorien auf die Spur zu kommen. Auch er ging nicht mehr in die Schule. Er nahm nur noch unregelmäßig Nahrung zu sich und vernachlässigte sich und seine Umgebung. Gesprächen mit seinen besorgten Eltern entzog er sich oder reagierte sehr aggressiv. Die Eltern wendeten sich verzweifelt an die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihnen wurde geraten, einen Beschluss beim zuständigen Familiengericht zu beantragen. Er sollte die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik für eine Heilbehandlung auch gegen den Willen des Patienten ermöglichen. Dieser wurde nach einem Gutachten und einer persönlichen Anhörung des Jugendlichen vom zuständigen Richter ausgestellt. Daraufhin wurde er in die Vitos Klinik Herborn eingewiesen.

Intensive Therapie und der Einsatz diverser Medikamente halfen ihm zwar, weitestgehend einen Realitätsbezug herstellen zu können. Dennoch war der Jugendliche so in seiner Konzentration und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, dass das Abitur für ihn dauerhaft in unerreichbare Ferne rückte. Er wurde nach ausreichender Stabilisierung seiner Symptome in eine vollstationäre Jugendhilfeeinrichtung entlassen, die sich auf jugendliche Psychotiker spezialisiert hat. Im weiteren Verlauf hatte er noch zwei weitere akut psychotische Krankheitsphasen, nachdem er jeweils, die für ihn als nicht akzeptabel erlebte Medikation abgesetzt hatte. Bei diesem Patienten sprechen wir diagnostisch nach einem Beobachtungszeitraum von mehr als einem Jahr, von einer paranoid halluzinatorischen Schizophrenie (wahnhafte Bewusstseinsspaltung).

Wie entsteht eine Psychose?

Für das Entstehen einer Psychose gibt es nicht „die“ Ursache. Es werden immer mehrere Faktoren betrachtet und berücksichtigt. Die Familien- und Zwillingsforschung weist auf genetische Zusammenhänge in der Krankheitsentstehung hin. Zudem können frühkindliche Hirnschäden, Infektionen und toxische Ursachen biologische Risikofaktoren sein.

Jeder Mensch hat eine individuelle Persönlichkeit und Konstitution, welche berücksichtigt werden muss. Das bedeutet, dass der eine Mensch mehr, der andere weniger anfällig für eine Psychose ist. Insbesondere psychosoziale Bedingungen können Auslöser sein und sind für den Krankheitsverlauf von enormer Bedeutung. Ein solcher Auslöser kann beispielsweise Stress sein, wie im Fall der 14-jährigen Patientin. Es können aber auch Mobbingerfahrungen, Partnerschaftsverlust oder -konflikte, Leistungsdruck und ständige Abwertung sein. All das.

Was passiert mit einem Menschen, der an einer Psychose erkrankt ist?

Wenn eine Erkrankung vorliegt, kommt der Patient zur Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Entweder stellt der Hausarzt die Erkrankungen fest. Oder er kommt in einer akuten Situation mit dem Krankenwagen. Der Erstkontakt verläuft meist über die regional nächstliegende psychiatrische Ambulanz. Das Erstgespräch in der Klinik findet mit Stationstherapeuten oder außerhalb der regulären Arbeitszeit mit dem Arzt, der Ärztin vom Dienst jeweils im Beisein eines Mitarbeiters der Station statt. Die Patienten, die in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgenommen werden, sind immer freiwillig dort. Ausnahmen gibt es nur dann, wenn eine akute Gefahr für das eigene Leben oder das anderer besteht, wie im Fall unseres 17-jährigen Abiturienten.

Die Gefährdung war bei dem 17-Jährigen schleichend, daher konnten die Eltern einen Unterbringungsbeschluss erwirken. Dieser erlaubt einer Klinik, Patienten gegen ihren Willen zu behandeln, wenn diese eine Behandlungsbedürftigkeit krankheitsbedingt selbst nicht sehen können. Hierzu bedarf es der Zustimmung mehrerer Stellen. Die Eltern bzw. Sorgeberechtigten des Patienten müssen einverstanden sein. Ein fachlich kundiger und vom Gericht bestellter Gutachter stellt eine psychiatrische und behandlungsbedürftige Erkrankung fest. Das Gericht kommt nach persönlicher Anhörung des Patienten zum selben Schluss wie der Gutachter. Und die aufnehmende Klinik sieht eine erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeit.

Wie sieht der Alltag in einem psychiatrischen Krankenhaus aus?

Der Alltag auf Station nach der Aufnahme lässt sich durch verschiedene Punkte beschreiben. Der Patient soll in eine Umgebung kommen, die gut für ihn ist, wo er sich erholen kann. Daher ist die reizarme Umgebung wichtig für die Angstreduzierung. Der Patient soll Wege der Entspannung finden. Durch einen strukturierten Tagesplan wird der Alltag gelebt. Für den Patienten gibt es pro Schicht immer einen Ansprechpartner. Besuche von Bezugspersonen muntern zudem auf und fördern die Genesung. Daher gehören auch diese zum Alltag in einem psychiatrischen Krankenhaus. Zudem ist es wichtig, dass der Patient seine eigenen Grenzen erkennt und eine emotionale Entlastung erfährt. Durch die Behandlung wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe ermöglichen.

Wie werden psychische Erkrankungen behandelt?

Neben den Medikamenten, die den Patienten individuell helfen sollen, sich von seinen Wahnvorstellungen zu distanzieren und in die Realität zurückzufinden, werden verstärkt Therapien ein- und umgesetzt.

Was ist eine Ergotherapie?

Für jeden Patienten gibt es geeignete Therapieformen. Möglichkeiten gibt es hier viele. Eine häufig angewandte Therapieform ist die Ergotherapie. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Handeln, sich betätigen“.

Die Ergotherapie soll Menschen in der Akutphase einer Psychose ein Handlungsspektrum bieten, um

Um eine Ergotherapie zur Genesung des Patienten einzusetzen, muss diese zum Patienten passen. Daher wird vorher genau geschaut, ob der Patient belastbar genug ist, um beispielsweise handwerkliche oder gestalterische Techniken umzusetzen.

Was ist eine Drama- und Theatertherapie?

Eine speziellere und besondere Therapieform ist die Drama- und Theatertherapie. Dies ist eine Form der Kreativtherapie, zu der auch die Kunst-, Musik-, Tanz- und Bewegungstherapie gehört. Sie nutzen die verwandelnde Kraft des Theaterspielens zu individual- und sozialtherapeutischen Zwecken. Theater lädt dazu ein, im Spiel neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und erweist sich somit als Potenzial für die Verwandlung von Personen und einer Gemeinschaft. Die Dramatherapie konzentriert sich primär auf die gesunden Anteile der Persönlichkeit und stärkt diese. Der handlungs- und gegenwartsbezogene Aspekt steht im Vordergrund und die Person wird immer als Teil und in Bezug zu einem größeren Ganzen gesehen.

Ziele der Drama- und Theatertherapie:

Welche Therapieziele gibt es bei Psychosen?

Wenn die Ziele erreicht sind, werden Pläne für zu Hause erstellt. Dazu gehören ein Wochen- und ein Krisenplan. Der Krisenplan umfasst Fragen, wie „Wen rufe ich an, wenn es mir schlechter geht?“, „Wie kann ich Pausen einlegen, wenn es mir zu stressig wird?“ und „Was mache ich, wenn ich wieder Symptome wahrnehme“.

Erkrankte Menschen oder ihre Angehörigen müssen Erwartungen an sich deutlich reduzieren. Die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit, aber auch die innere Beweglichkeit bleibt als Folge der Erkrankung oft auf der Strecke. Nicht nur in der Akutphase ist es wichtig, immer noch als Mensch gesehen und nicht auf die Erkrankung reduziert zu werden, wie „die Schizophrenie aus Zimmer sieben“.

Patienten und auch Angehörigen hilft es, wenn jemand da ist, der zum Gespräch bereit ist und versucht zu helfen. Besonders wichtig ist es, die eigenen Sorgen und Gefühle, wie den Schmerz, die Trauer oder die Hoffnungslosigkeit ob all der Dinge, die der Betroffene gerade oder nie mehr wieder selbstständig machen kann, benennen zu können und sich verstanden zu fühlen.

Das Leben mit einer Psychose – Ein Beispiel…

Einer meiner Patienten ist Jahrgang 1972. Seine erste Krankheitsepisode hatte er während eines Aufenthaltes in Italien, wo er bei einer Gastfamilie untergebracht war. Eigentlich gab es aus seiner Sicht keinen wirklichen Auslöser. Damals hat er gelegentlich gekifft. Unvermittelt hat er Angst vor seinen Gasteltern bekommen und fühlte sich von ihnen verfolgt. Ohne Ankündigung ist er weggelaufen und ist irgendwie zurück nach Deutschland gekommen.

Dort haben ihn seine Eltern zu einem Psychiater gebracht, der ihn teilweise angebrüllt hat. Ohne Vorankündigung hat er dann eine Spritze bekommen. So etwas wie Aufklärung oder Psychoedukation hat er nicht erfahren. Nur waren plötzlich die Nebenwirkungen der Medikamente da. Er konnte auf einmal nicht mehr sprechen und die Muskulatur im Nacken und Rücken hatten sich verkrampft. Zwar konnte der Arzt ihm die Nebenwirkungen nehmen, indem er ihm eine weitere Spritze gab. Aber das Vertrauen war zerstört.

Sein Vertrauen zu Ärzten hatte er seit dieser Zeit nur noch sehr vorsichtig aufbauen können. Sie haben sich aus seiner Sicht oft hinter der Medikation versteckt. Wenn irgendetwas nicht so lief, wie gewünscht, wurde oft nur an der Medikation geschraubt.

Er selber fand das Verhalten der Ärzte unprofessionell. 1994 war er dann zweimal für drei Monate in der, aus seiner Sicht beschriebenen, „Anstaltspsychiatrie mit starren Regeln und verschlossenen Türen“. Da war die tagesklinische Behandlung, die folgte, aus seiner Sicht, deutlich angenehmer. Wirklich geholfen haben ihm die Gespräche, nicht nur mit Therapeuten, sondern auch die mit Mitpatienten und Pflegern. Hier hat er Rückmeldungen über sein Verhalten erhalten. Er konnte hier aber auch einfach fragen, ob das, was er gerade erlebte, für die anderen auch real war.

Wenn er sehr angespannt war, häufiger aufgrund seiner Ängste, hat ihn die Bevormundung in der Klinik noch verzweifelter gemacht. Für ihn war es absolut hilfreich, wenn er selbst zu seiner Behandlung Vorschläge machen durfte. Teilweise hat ihm geholfen, wenn jemand ihm ein Glas Wasser angeboten hat. Durch diesen einfachen Akt der Herstellung eines Realitätsbezugs konnte er wieder in die Welt der anderen Menschen zurückkehren und sich beruhigen.

Oft machte er die Erfahrung, dass die vermeintlich professionellen Helfer durch ihre starren Vorstellungen seine Spannungszustände verschlimmerten. Dann kam es auch zur Eskalation der Situation, die in einer körperlichen Auseinandersetzung mit Zwangsmedikation und der Fixierung auf dem Bett geendet hat.

Uns riet er im Umgang mit Menschen, die unter einer Psychose leiden, in erster Linie ruhig zu bleiben. Wir sollen uns nicht zu schnell bewegen, keine langen Sätze sprechen und nicht klug daher reden. Einfach da sein, notfalls kleine Handlungsanweisungen geben oder Fragen stellen, die sie manchmal auch selber beantworten. Eben das Glas Wasser anbieten, was ihn wieder in die Realität und Normalität holen kann.

Wenn ihm alles zu viel wird und seine Gedanken wieder anfangen zu schnell zu werden, dann weiß er, was er zu tun hat. Am besten bleibt er dann zu Hause. Das Radio und der Fernseher bleiben aus. Vom Telefon zieht er den Stecker. Dann versucht er viel zu schlafen und ausreichend zu essen. Teilweise hilft es ihm, allein zu sein, teilweise das Gespräch mit einem vertrauten Menschen zu suchen. Und irgendwann geht es wieder.

Solche Zustände erlebt er heute zum Glück nicht mehr so oft. Wenn er sie schnell erkennt, reichen manchmal wenige Stunden, manchmal aber auch wenige Tage aus, um wieder seinen normalen Alltag durchstehen zu können. Ihn kostet dies teilweise unendlich viel Selbstbeherrschung und Kraft.

Die Eltern meines Patienten mussten einiges an Trauerarbeit leisten. Hatten sie sich doch für ihren Sohn ein anderes Leben gewünscht, als dieses, das er jetzt führt. Gerade der Austausch mit anderen Betroffenen war auch für die Eltern sehr hilfreich. So hatten sie das Gefühl, nicht allein mit ihren Sorgen um ihren Sohn zu sein. Der Wunsch nach Normalität war groß. Dieser Wunsch, zurück in die Normalität zu kommen, hat sich für sie nicht erfüllt. Aber dafür haben sich andere Türen geöffnet, auch für die Betroffenen selber. Durch diese zu gehen, ist allen nicht leicht gefallen. Was dahinter war, war nicht zwangsläufig besser, aber es ist ihr Leben.