Interview mit den Pflegedirektor/-innen Ursel Basener-Roszak und Oliver Gaartz anlässlich des Tags der Pflege.
Jedes Jahr am 12. Mai, dem Geburtstag von Florence Nightingale, feiern wir den internationalen Tag der Pflege. Die britische Krankenschwester gilt als die Pionierin der modernen westlichen Krankenpflege und setzte sich zeitlebens für die Verbesserung der Gesundheitsstandards ein.
Damals galt es vor allem, eine einheitliche Pflegeausbildung zu schaffen und Hygienestandards zu etablieren. Heute stellen der demografische Wandel und der Fachkräftemangel die Pflege erneut vor großen Herausforderungen. Gleichzeitig gewinnen mit der fortschreitenden Digitalisierung Künstliche Intelligenz, Robotik und neue Technologien immer mehr an Relevanz. Ihr Einsatz in der Pflege kann ein Teil der Lösung sein. Wie können ChatGPT oder Robotik die Pflegenden entlasten? Was sind die Chancen und Risiken des technologischen Wandels?
Um diese und weitere spannende Fragen drehte sich die diesjährige Vitos Fachveranstaltung zum Tag der Pflege in Herborn.
Oliver Gaartz, Pflegedirektor der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel und Ursel Basener-Roszak, Pflegedirektorin von Vitos Herborn, haben das Programm ausgearbeitet und berichten im Interview.
Wie kam es zu dem Themenschwerpunkt „KI und Robotik“ für die Fachveranstaltung anlässlich des Tags der Pflege?
Basener-Roszak: Die Idee, KI und Robotik – also neue Techniken – im Bereich der Gesundheitsversorgung und Pflege als Programmschwerpunkt aufzugreifen, kam im Grunde von Herrn Gaartz. Das Thema vereint aus unserer Sicht somatische und psychiatrische Pflege in vielen Bereichen. Die jeweils spezifischen Erwartungen und Anforderungen an die neuen Techniken lassen uns ins Gespräch kommen. Die Stärken der somatischen Pflege liegen vielfach in funktionalen Kompetenzen. Die Stärken der psychiatrischen Pflege sind in den weichen Faktoren wie Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehung zu finden.
Gaartz: KI und Robotik halten Einzug in die Medizin. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Das beschäftigt die Kolleginnen und Kollegen in der Pflege natürlich. Wir möchten das Thema deshalb frühzeitig aufgreifen und Aufklärungsarbeit leisten. Es geht darum zu zeigen, wo ein Einsatz von KI und Robotik bei Vitos denkbar und sinnvoll sein könnte, weil es unsere Arbeit leichter macht. Oder wo wir eine entsprechende Technologie vielleicht schon nutzen.
In welchen Bereichen kommt KI bei Vitos bereits zum Einsatz?
Basener-Roszak: Wir haben uns in der Dokumentation mit Programmen vertraut gemacht, die auch undifferenzierte bis schwer verständliche Sprache und Schrift in professionelle Dokumentation umwandeln. Je mehr Beispiele verfügbar sind, desto ausgereifter werden diese Programme funktionieren. KI basiert im Grunde ja auf eine künstlich entworfene Netzwerkstruktur, die das menschliche Gehirn jeden Tag leistet. KI ist somit eine Kopie unserer Hirnleistungen. Wenn KI eine sehr breite und unspezifische Fragestellung präsentiert bekommt, fällt die Antwort ähnlich allgemein aus. Ist die Aufgabenstellung klar, eingegrenzt und an Bedingungen gebunden, sind die Ergebnisse der KI sehr viel genauer und praxistauglicher.
In welchen Bereichen kommt Robotik bei Vitos bereits zum Einsatz?
Gaartz: In der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel haben wir einen OP-Roboter im Einsatz. Er unterstützt das Operationsteam bei Eingriffen an der Wirbelsäule und am Becken. Die Eingriffe werden präziser, die Schnittführung kürzer. Patient/-innen tragen deshalb geringere Gewebeschäden davon.
Auf gerontopsychiatrischen Stationen ist ein Therapieroboter in Form einer kleinen Robbe zum Einsatz gekommen, die dazu beigetragen hat, Patientinnen und Patienten zu beruhigen und zu entspannen.
Basener-Roszak: Die Vitos Begleitenden Psychiatrischen Dienste Südhessen und Rheingau haben sich gemeinsam mit der Frankfurter Universität of Applied Science an einem Forschungsprojekt beteiligt. Temi, den die Pflegenden am Tag der Pflege in Herborn kennenlernen durften, unterstützt die Klient/-innen darin, selbständiger den Tag zu gestalten. Temi erinnert an die Medikamenteneinnahme oder an geplante Aktivitäten. Temi kann z. B. beim Kochen helfen, wenn ein Klient wissen möchte, wie Nudeln gekocht werden müssen oder Gemüse geschnitten wird. Wir hatten am „Tag der Pflege“ außerdem noch einen weiteren Roboter live vor Ort, der präsentierte, was Robotik bereits leisten kann.
Wie sind die bisherigen Erfahrungen?
Basener-Roszak: Bislang sind die Rückmeldungen sehr positiv. Wichtig ist, dass Pflegende die Technik erleben und ausprobieren dürfen. Die Bedenken sind sehr schnell aufgelöst, wenn die Technik praktisch erfahrbar wird. Sind wir in der Lage, Spaß und Freude bei der Anwendung zu erzeugen, schlagen Bedenken in Entwicklungsfreude um. Davon berichtete auch Natascha Brand während der Fachveranstaltung am 13. Mai. Sie stellte uns ein Projekt im Rahmen einer Weiterbildung an der Universitätsmedizin Halle vor.
Wie nehmen Mitarbeitende und Patient/-innen bisherige Angebote auf und welche Wünsche und Bedenken gibt es?
Gaartz: Es gibt die Befürchtung, dass menschliche Arbeitskraft durch neue Technologien ersetzbar wird. Außerdem empfinden es Kolleginnen und Kollegen oftmals als herausfordernd, sich mit neuen IT-Systemen oder Technologie zu befassen. Es kostet Zeit und die Umstellung im Arbeitsalltag läuft nicht immer reibungslos.
Basener-Roszak: Hier finden wir alle Facetten, Freude, Erwartungshaltung, Offenheit aber auch Bedenken. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Bedenken die Antwort auf Ängste sein können, sind schnell Brücken gebaut. Brückenbauer, also Menschen, die Angebote erklären und bei der Anwendung unterstützen, sind also wichtig. Wünsche und Bedenken sind im Grunde zwei ungleiche Schwestern, die eng miteinander verbunden sind. Sie sind nie ganz voneinander zu trennen, auch wenn manchmal nur eine der Beiden sichtbar zu sein scheint. Nehmen wir die Bedenken ernst, begleiten die Bedenkenträger in den Prozessen der Auseinandersetzung, werden erfahrungsgemäß Bedenken in Wünsche umformuliert.
Welche Chancen bietet der Einsatz von KI für die Mitarbeitenden und die Patienten?
Basener-Roszak: KI kann uns Tätigkeiten abnehmen, die die Netzwerkfähigkeiten eines Gehirns benötigen. KI erkennt z. B. aus einem Gespräch oder Diktat einzelne Worte, gleicht diese mit unendlich vielen Beispielen ab und nutzt alle Treffer, mit erkennbaren Worten und Satzkonstruktionen. Aus der Fülle verdichtet KI auf eine erkennbare professionelle Sprache in Sekunden- bis Minutenschnelle. Die Programme erfordern immer noch die Prüfung von einem Menschen. Erst wenn der Text plausibel und genehmigungsfähig ist, kann der Dokumentationsprozess abgeschlossen werden. Schnelligkeit und Genauigkeit sind auf diese Weise perfekt miteinander vereint.
KI in der Verkehrstechnik steuert z. B. den Verkehrsfluss. In der Übersetzung kann die Tourenplanung in unseren StäB-Teams unterstützen. Auch im Bereich der Personalplanung schreiten die Entwicklungen stetig voran und bieten mehr und mehr Vorteile. Dienstplanwünsche von mehr als 15 Personen zu vereinen, wird sicher bald ein Kinderspiel.
Gaartz: KI kann neben Sprache auch Verhalten auswerten und sinnhaft verständlich machen. Mit einem sekundenschnellen Abgleich und Verfügbarwerden von sinnhaften Sätzen und erklärbarer Gestik und Mimik, könnten Pflegende Patient/-innen mit Sprachproblemen besser verstehen.
Patient/-innen könnten sich geleitet mit medizinische und gesundheitliche Fragestellungen auseinandersetzen. KI wäre in der Lage zu erkennen, wann es eine reale ärztliche oder pflegerische Visite oder Intervention benötigt und darauf verweisen bzw. Termine koordinieren.
Wo soll die Reise zukünftig hingehen?
Basener-Roszak: Neue Techniken, die unsere ethischen Ansprüche genügen, sind in der Medizin zukünftig nicht mehr wegzudenken. Zum einen ist Entwicklung etwas natürliches, fortwährend Geschehendes. Zum anderen wird es etwas Erforderliches. Unter anderem der vielfach benannte Fachkräftemangel macht es notwendig, dass auch Pflegende technische Helfer an ihre Seite bekommen. Erst dadurch werden zukünftig die Bedarfe der Menschen in der Fülle zufriedengestellt werden können.
Gaartz: KI wird die Pflege sicherlich von Routine-Aufgaben entlasten können, zum Beispiel bei der Dienstplanung oder in der Dokumentation. Vieles wird sich hierbei automatisieren, sodass die Pflege dadurch hoffentlich mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten gewinnt. Und auch bei Aus- und Weiterbildungen sind Einsatzfelder denkbar, wenn Wissen dadurch anschaulicher vermittelt werden kann.
Bildquelle: Studio Blåfield
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