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So jung und schon so depressiv und ängstlich

Über Adoleszenzkrisen bei jungen Erwachsenen

Erwachsen zu werden, ist anstrengend und geht mit zahlreichen Herausforderungen einher. Die einen durchleben eine kurze anstrengende Phase, können aber relativ problemfrei damit umgehen und machen gelassen weiter. Die anderen erleben sehr ähnliche Turbulenzen, kommen allerdings weniger schnell wieder in einen stabilen Modus. Sie geraten ins Trudeln und müssen sehr viel Kraft und Energie aufwenden, um dagegen anzukämpfen. Wie kommt es zu diesen Unterschieden?

Mein Name ist Janine Hillmann und ich arbeite als Psychologische Psychotherapeutin in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn auf einer Station, welche sich darauf spezialisiert hat, jungen Erwachsenen dabei zu helfen, sogenannte Adoleszenzkrisen zu bewältigen. Dieser Begriff ist vielen nicht vertraut und klingt kompliziert. Im Grunde ist er das aber nicht, denn er beschreibt einen Zustand, den jeder von uns zu einem gewissen Grad durchlebt: mit den verschiedenen Entwicklungsaufgaben beim Erwachsenwerden konfrontiert zu sein.

Was sorgt dafür, dass manche jungen Erwachsenen schon so depressiv und ängstlich sind? Ich möchte von meiner sehr bereichernden Arbeit mit diesen Menschen erzählen. Ich bin ihnen ausgesprochen dankbar, dass sie sich mir gegenüber mit ihren belastenden Themen öffnen und mich in ihre Welt eintauchen lassen. In dieser Welt gibt es neben viel Schmerz, Verzweiflung, Unsicherheit und Selbstzweifeln auch ganz viel Licht, Kreativität, Lebendigkeit und Potenzial zu entdecken.

Viele Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten

Ich berichte von zwei sehr unterschiedlichen Patient/-innen, wenn man sich die klassischen Merkmale wie Alter, Geschlecht und Ausbildungs- bzw. Berufssituation anschaut. Es geht um Jana, 30 Jahre alt, gelernte Bürokauffrau, gegenwärtig nicht in einem Beschäftigungsverhältnis, in ihrem Elternhaus auf einer eigenen Etage und aktuell ohne Partner lebend. Und es geht um Ben, 21 Jahre alt, der nach dem Besuch einer Förderschule bisher keine Ausbildung begonnen hat, noch nie eine Freundin hatte und bei seiner Mutter in einer kleinen Wohnung lebt. Ja, die beiden sind in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Und doch teilen sie sehr viel anderes: Sie kommen mit vielen depressiven Symptomen, wie Traurigkeit, Verzweiflung, Zukunftsängsten, Grübeln, Schlafstörungen, Dauermüdigkeit, Erschöpfung, Antriebsmangel, Konzentrationsproblemen, einem Verlust an Tagesstruktur und einem Rückzug aus ihren Hobbys sowie ihrem Freundeskreis in die Klinik. Beide leiden zudem unter verschiedenen körperlichen Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen, Schwitzen, Druckgefühl auf der Brust, Verdauungsprobleme), die sich medizinisch nicht erklären lassen und oft mit einem Angst- oder Panikgefühl verbunden sind. Und was sie sich vor allem teilen, sind die ständig in ihrem Kopf kreisenden Selbstzweifel, ein Gefühl der Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, ein Überforderungserleben bei dem Blick in ihre Zukunft sowie starke Minderwertigkeits- und Schamgefühle. Die beiden sind so jung, haben ihr ganzes Leben noch vor sich und doch gehören sie zu denen, die auf ihrem Weg in das Erwachsenenwerden in Turbulenzen geraten sind. Aus Angst, einen schlimmen Sinkflug zu erleiden, kommen sie in die Klinik, auch wenn das eine riesige Überwindung für sie darstellt, denn auch das wird sie von ihren Gleichaltrigen, die einfach unbeeinträchtigt weitermachen, unterscheiden.

Es ist nicht nötig, alle Details aus dem bisherigen Leben von Jana und Ben zu erzählen. Ich fasse erneut die Gemeinsamkeiten zusammen: eine von Konflikten geprägte Beziehung zwischen den Eltern, ein Elternteil, das selbst mit psychischen Beschwerden belastet ist, mehrere Ablehnungs- und Ausgrenzungserfahrungen in der Schulzeit oder Arbeitswelt und in Freundschaften, die Suche nach einer sicherheit-, geborgenheit- und haltgebenden Atmosphäre, eine Flucht in vermeintlich bessere Welten (z. B. Substanzmissbrauch, exzessiver Medienkonsum, ständiges Schlafen, autoaggressives und zwanghaftes Verhalten als Kompensationsversuch) und ein dauerhaftes Aufschieben und Vermeiden von Tätigkeiten, von denen beide wissen, dass diese richtig, wichtig oder nötig sind, aus Angst, dabei zu scheitern.

Eine interessante gemeinsame Reise

Nachdem mich beide ihre Welt betreten lassen haben, habe ich mit diesen beiden ganz wunderbaren Menschen eine interessante Reise gemacht. Und interessant bedeutet genau das, was jetzt vielleicht viele sowieso denken: Wir haben gemeinsam viele erhellende Momente erlebt, welche es möglich machten, Neues auszuprobieren und konkrete Ideen und Pläne zu entwickeln. Wir haben aber auch Phasen gehabt, in denen es ernst und unangenehm wurde, die Meinungen sehr unterschiedlich waren und die von allen so sehr gewünschte Harmonie für eine gewisse Zeit gefährdet war. Was war passiert? Meine Erfahrung ist, dass sich in einer Psychotherapie Themen, Szenen, Interaktionsmuster und Konflikte wiederholen, welche bereits im früheren Leben der Patientinnen und Patienten Relevanz hatten oder in sehr ähnlicher Form stattgefunden haben. Jana fand mich zwischenzeitlich ziemlich gemein und nervig, weil sie das Gefühl hatte, ich würde einfach nicht verstehen wollen, warum sie nicht alleine vor die Tür geht und sich nicht in Gruppen beteiligt. Ben versuchte, die eine oder andere Regel für sich zu dehnen und fand es ätzend, dass er dafür wiederholt klärende Gespräche mit mir führen musste. Beide hatten auf ihre Art Grenzen innerhalb des großen, weiten Universums der Erwachsenenwelt ausgetestet und beide hatten nach einem annehmenden, wertschätzenden Widerhall gesucht, auch in unserem Arbeitsbündnis. Beide erfuhren ihn auf unterschiedliche Art und Weise, so wie sie in der Tat, trotz aller Gemeinsamkeiten, ganz eigene Persönlichkeiten waren. Wir setzten uns mit typischen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz auseinander und überprüften individuell, welche beide bisher bereits besser und welche weniger erfolgreich bewältigt hatten. Und das Wichtigste: Sowohl Jana als auch Ben konnten den schützenden Raum der Station nutzen, um sich in Ruhe und wertfrei damit auseinanderzusetzen, warum ihr bisheriger Lebensweg so war und wie SIE zukünftig weitermachen möchten. Es ging um Beziehungsgestaltung und Konfliktbewältigung, um mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, um die Übernahme von Eigenverantwortung, um die Verbesserung der Problemlösefähigkeiten, die Verbesserung der Anspannungs- und Gefühlsregulation sowie um die Entwicklung von Mut. Mut, etwas trotz aller Selbstzweifel und Ängste zu beginnen, dabei an sich zu glauben und nicht aufzugeben, sollte es schwierig werden oder auch einmal schiefgehen. Es ging darum, zu lernen, dass wir keine perfekten, fertigen Menschen sind, sondern dass wir neben den guten Phasen in unserem Leben auch durch schwierige Momente persönliche Entwicklung und Reifung erfahren, eben in einem ständigen Prozess sind.

Jana entschied sich am Ende ihres Aufenthalts in der Klinik dafür, bei ihren Eltern auszuziehen und sich auf einem Bauernhof mit recht weiter Distanz zum Elternhaus langsam wieder an das Berufsleben heranzutasten. Außerdem plante sie ihre Freizeit durch die Teilnahme an z. B. VHS-Kursen wieder aktiver zu gestalten. Ben begann damit, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen, sich in einem geschützten Rahmen in verschiedenen Praktika zu erproben, beschloss, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen und genoss es in vollen Zügen, mehr Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Beide haben nach wie vor ihre Geschichte und ihre Probleme, aber sie haben auch ihr Leuchten, ihre Wünsche, ihre Grenzen, ihre Kompetenzen und ihre Ziele wiederentdeckt. Danke, dass ich Reisebegleiterin sein durfte!