

Trainingsprogramm YourCoach unterstützt Kinder psychisch erkrankter Eltern
Mehr als drei Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland leben mit Eltern zusammen, die eine psychische Erkrankung haben. Sie sind oft starken Belastungen ausgesetzt und haben ein hohes Risiko, selbst zu erkranken. Die Gesellschaft wird auf diese Kinder jedoch oft erst dann aufmerksam, wenn sie auffällig werden. Das Vitos Klinikum Gießen-Marburg bietet mit YourCoach ein Coaching-Programm, welches viel früher ansetzt und die Kinder und Jugendlichen unterstützt.
Erkrankt ein Elternteil psychisch, ist das für ein Kind eine besondere Belastung. Ängste und Unsicherheiten entstehen. Wieso geht es meiner Mutter/meinem Vater nicht gut? Wie kann ich ihm/ihr helfen? Bin ich vielleicht schuld daran, dass er/sie so oft traurig ist? Auch die Angst vor Stigmatisierung spielt eine Rolle. Kinder fühlen sich dann schnell verpflichtet, gut zu funktionieren, um schwierige Situationen auffangen zu können.
Kinder können ihre Sorgen und Nöte gut verstecken
Die Aufmerksamkeit der Familie und des Umfelds richtet sich meist auf den psychisch erkrankten Elternteil. Kinder können ihre Sorgen und Nöte gut verstecken. Häufig merkt das Umfeld nicht, wie sehr auch sie unter der Situation leiden. Die Kinder und Jugendlichen kommen in einen Loyalitätskonflikt. Sie lieben ihre Eltern, halten zu ihnen und opfern sich auf. Sie haben in einem Moment Angst um und im nächsten Moment Angst vor ihrem erkrankten Elternteil. So kann es passieren, dass sie ihre eigenen Kräfte überschätzen und selbst eine psychische Erkrankung entwickeln. Doch erst, wenn die Kinder und Jugendlichen selbst krank oder auffällig werden und das Jugendamt informiert wird, wird die Gesellschaft auf sie aufmerksam. Wir wollen früher ansetzen und mit Präventionsmaßnahmen dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen bestärkt werden, ihren eigenen Weg im Leben zu finden.
Trainingsprogramm YourCoach – Coaching, keine Therapie
Dafür haben Prof. Dr. Michael Franz und Diplom Psychologin Beate Kettemann mit einer Arbeitsgruppe das Trainingsprogramm YourCoach entwickelt. Gestartet ist das Programm bei Vitos Kurhessen. Wir haben es mit einer Studie begleitet. Die Ergebnisse der ersten Studie belegen die Wirksamkeit des Coachings. Besonders wichtig erscheint, dass die positiven Effekte noch ein halbes Jahr nach dem Ende der letzten Sitzung bei den Betroffenen vorhanden sind. Die Kinder und Jugendlichen zeigten nach ihrer Teilnahme deutlich weniger depressive Symptome und hatten außerdem gelernt, sich besser abzugrenzen. Die Studie wird nun im Vitos Klinikum Gießen-Marburg fortgeführt.
Am Anfang und am Ende des Coachings findet ein Gespräch mit der ganzen Familie statt. In der Zeit dazwischen trifft sich das Kind oder der Jugendliche insgesamt sechs Mal zu Einzelsitzungen mit seinem persönlichen Coach. Das ist ein erfahrener Psychologe/eine Psychologin oder ein Arzt/eine Ärztin des Vitos Klinikums Gießen-Marburg. Gemeinsam mit ihm oder ihr erarbeitet das Kind Strategien, um gestärkt durchs Leben zu gehen. Etwa drei Monate nach dem Abschlussgespräch findet nochmal ein Treffen statt. Wir schauen zusammen, ob die gesteckten Ziele umgesetzt wurden und ob weitere Hilfen sinnvoll sind.
Kinder bestärken, eigene Perspektiven zu entwickeln
Zentrale Fragen, die wir mit den Teilnehmer/-innen besprechen, sind zum Beispiel, welche Wünsche und Ziele sie für ihr Leben haben. Auch, wie sie diese Ziele verwirklichen können. Im familiären Alltag dreht es sich viel um das erkrankte Elternteil. Die Kinder und Jugendlichen müssen lernen, für sich selbst eine Perspektive zu entwickeln. Sei es der angestrebte Schulabschluss oder später die Ausbildung oder das Studium.
Weiterhin beschäftigen wir uns mit der Rolle des Kindes innerhalb der Familie. Welche Aufgaben müssen übernommen werden und wo kann sich das Kind oder der Jugendliche Freiräume schaffen? Ist ein Elternteil psychisch erkrankt, übernehmen die Kinder oft Aufgaben, die eigentlich den Erziehungsberechtigten obliegen. Sie fühlen sich etwa für die Hausarbeit oder die Betreuung jüngerer Geschwister verantwortlich. Aus dem Wunsch heraus, dem erkrankten Elternteil zu helfen, muten sich die Kinder und Jugendlichen häufig zu viel zu.
Genauso können die Teilnehmer/-innen uns natürlich Fragen stellen, etwa, zur psychischen Erkrankung des Elternteils oder zu psychischen Erkrankungen ganz allgemein. Nicht in jeder Familie wird offen über eine psychische Erkrankung gesprochen. Kinder bekommen mit, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Das Unbekannte, über das oft nicht gesprochen wird, macht ihnen Angst und gibt ihnen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Es ist wichtig, dass wir die Kinder und Jugendlichen altersadäquat aufklären und ihnen alle nötigen Informationen an die Hand geben.
Ein aufmerksames Umfeld ist außerdem eine gute Unterstützung. Verwandte, Freunde oder Lehrer können zuhören, da sein und immer mal wieder nachfragen, wie sich das Kind fühlt, wie die Situation Zuhause ist und ob es Unterstützung braucht. Und es ist wichtig, dem Kind das Gefühl zu geben, dass die psychische Erkrankung der Mutter oder des Vaters nichts ist, wofür es sich schämen muss. Jeder Mensch kann psychisch erkranken und die meisten Erkrankungen sind gut behandelbar.
Wer kann teilnehmen?
Teilnehmen, können betroffene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus den Landkreisen Gießen und Marburg-Biedenkopf im Alter von zwölf bis 24 Jahre. Seit Beginn der Pandemie können Interessierte telefonisch Termine vereinbaren: 0160 – 6 15 77 20
Alle Infos finden Sie auch in unserem Flyer.
Anmerkung der Redaktion: Text verfasst vom Redaktionsteam des Vitos Blogs nach einem Gespräch mit Frau B. Kettemann, Dipl.-Psychologin, zuständig für die Studien-Betreuung „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ unter Leitung von Prof. M. Franz von 2009-2018 in Vitos Kurhessen und seitdem in Vitos Gießen-Marburg.
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