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Stress am Arbeitsplatz

Wie die Pandemie die Arbeitswelt verändert

Die Pandemie wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, auch auf die Arbeit. Doch die Auswirkungen sind sehr unterschiedlich: Während Mitarbeiter/-innen im Gesundheits- und Sozialwesen oftmals an der Belastungsgrenze arbeiten, fürchten Beschäftigte in einigen Branchen um ihren Job. An anderen Arbeitsplätzen führt die Pandemie wiederum zu einem Digitalisierungsschub, zu mehr Homeoffice und damit zu einer veränderten Arbeitswelt. Welche Chancen und Risiken bergen diese Veränderungen? Und wie können Menschen damit umgehen? – Das beantworten Dr. Matthias Bender und PD Dr. Peter M. Wehmeier im Interview. Beide haben kürzlich das Buch „Stress am Arbeitsplatz“ veröffentlicht.

An vielen Arbeitsplätzen gibt es auf einmal viel mehr digitale Anwendungen, zum Beispiel für Video-Konferenzen. Was bedeutet dieser plötzliche Digitalisierungsschub für Mitarbeiter/-innen?

Dr. Matthias Bender: Es bedeutet nicht zwangsläufig mehr Stress. Denn diese Anwendungen können auch zu einer Entlastung am Arbeitsplatz beitragen. Termine können beispielsweise sehr flexibel geplant werden, weil die Menschen sich unabhängig von ihrem Aufenthaltsort kurzfristig zu einer Konferenz zusammenschalten können. Außerdem können sie Kontakte aufrechterhalten, ohne sich und andere dem Risiko einer Infektion auszusetzen. Ich habe gerade gestern einen Patienten in einer Videosprechstunde behandelt. Er ist über 80 Jahre alt, gehört also zur Risikogruppe. Er hat dieses Angebot gerne in Anspruch genommen, weil er dafür den Schutz seines Zuhauses nicht verlassen musste. Es war für ihn sogar eine Motivation, sich mit der Technik auseinander zu setzen. Dass er das hinbekommen hat, hat ihn gefreut und gestärkt.

Dr. Peter Wehmeier: Ich denke ebenfalls, dass die Digitalisierung viele Chancen und Hilfestellungen bietet. Aber natürlich verstärkt sie die Tendenz, sich einer ständigen Verfügbarkeit auszusetzen. Das kann zu einer Stressbelastung führen. Hinzu kommt, dass der Digitalisierungsschub auch Bereiche erfasst hat, die bislang kaum digitalisiert waren. Arbeitnehmer mussten sich also mitunter sehr plötzlich umstellen, was natürlich ebenfalls zu Stress führen kann.

Dr. Bender: Ein weiterer Stressfaktor ist die Abhängigkeit von der Technik. Gerade weil sich manche Arbeitsbereiche sehr schnell digitalisiert haben, funktioniert nicht immer alles auf Anhieb. Auch das kann Stress auslösen.

Sie haben die ständige Verfügbarkeit als Stressfaktor angesprochen. Wird das durch das Arbeiten im Homeoffice verstärkt?

Dr. Wehmeier: Dieses Risiko besteht. Denn wenn sich der Arbeitsplatz plötzlich in der eigenen Wohnung befindet, ergeben sich völlig neue stressauslösende Faktoren. Das liegt daran, dass sich zwei wichtige Lebensbereiche, nämlich Arbeit und Privatleben, vermischen und durcheinandergeraten können. Sich im Homeoffice gut zu organisieren, ist deshalb besonders wichtig. Das kann man aber auch gut üben.

Welche weiteren Risiken bringt das Homeoffice mit sich?

Dr. Bender: Neben der drängenden und konfliktträchtigen Enge in Familien gibt es bei Alleinlebenden eine stärkere Tendenz zu vereinsamen. Der Arbeitsplatz ist ja auch ein Ort der sozialen Begegnung. Ein Ort, an dem wir Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft erleben können. Wer alleine von zu Hause aus arbeitet, fühlt sich in diese Gemeinschaft vielleicht nicht mehr ausreichend eingebunden. Außerdem gibt es für Einzelne sicher auch eine Tendenz zur Disziplinlosigkeit: Manche Menschen schaffen es weniger gut, sich zu organisieren, gerade wenn die soziale Kontrolle durch das persönliche Arbeitsumfeld fehlt.

Dr. Wehmeier: Natürlich bietet das Homeoffice auch die Chance, Stress zu reduzieren. Die Pendelzeit zum Arbeitsplatz, die für viele mit Hektik und Zeitdruck verbunden ist, entfällt. Genauso die soziale Kontrolle durch Kollegen und Vorgesetzte, die ja auch ein Stressfaktor sein kann. Darüber hinaus empfiehlt es sich, im Sinne der Selbstfürsorge die Ansprüche, die man an sich stellt, deutlich herunterzuschrauben. Das betrifft auch die eigenen Arbeitsergebnisse: „gut genug“ ist das neue „sehr gut“!

Stress am Arbeitsplatz kann krankmachen. Gibt es durch die Pandemie in Ihren Kliniken mehr Patient/-innen, die sich deshalb behandeln lassen?

Dr. med. Matthias Bender ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Kurhessen.

Dr. Bender: Ja, die gibt es. Allgemein erleben wir derzeit viele Patienten, die erschöpft, zermürbt oder durch existenzbedrohend erlebte Einengungen lebensmüde sind oder die extrem unter der Einsamkeit leiden und deshalb eine depressive Störung entwickeln. Auch der arbeitsplatzbezogene Stress, den die Pandemie verursacht, wirkt sich aus. Es gibt beispielsweise viel mehr Patient/-innen, die an Schlafstörungen leiden. Da sind wir wieder bei der Digitalisierung: In der analogen Welt besteht ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus, der in der digitalen Welt völlig fehlt. Dadurch kann der Bio-Rhythmus aus den Fugen geraten. In manchen Branchen hat die Coronakrise auch zu einem plötzlichen Boom und zu einer extremen Flut an Aufträgen geführt. Es gibt Menschen, die deshalb mit Symptomen eines Burn-out zu uns kommen. Außerdem sehen wir Patient/-innen, die eine reaktive Psychose entwickeln, inklusive zeitweiligen Realitätsverlust. Beispielsweise haben wir eine in der Krankenhaushygiene tätige Pflegekraft behandelt, die Wahnvorstellungen entwickelt hat, weil ihre Gedanken permanent um das Thema Corona kreisten.

Dr. Wehmeier: Eine Folge der Pandemie ist leider auch, dass wir bei Menschen mit einer Suchterkrankung eine erhöhte Zahl von Rückfällen erleben. Oder dass Menschen eine Suchterkrankung entwickeln, weil sie beispielsweise versuchen, dem vermehrten Stress mit Hilfe von Alkohol zu begegnen. Darüber hinaus senkt Alkoholkonsum die Hemmschwelle zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen. Als Folge können intrafamiliäre Spannungen unter Pandemie-Bedingungen besonders schnell zu häuslicher Gewalt führen.

Was empfehlen Sie zur Stressbewältigung?

Dr. Bender: Akzeptanz und die Stärkung der Selbstwirksamkeit. Es gibt eine ganze Reihe wirksamer Methoden, den Stressabbau aktiv anzugehen, dazu zählen Achtsamkeitsübungen, Yoga, Autogenes Training oder die Progressive Muskelentspannung – und vor allem körperliche Aktivität: gehen Sie nach Möglichkeit täglich raus in die Natur, an die frische Luft!

Gibt es darüber hinaus Tipps für den Arbeitsalltag in der Pandemie?

PD Dr. med. Peter M. Wehmeier ist stellvertretender Klinikdirektor des Vitos Waldkrankenhauses Köppern.

Dr. Wehmeier: Ja, sogar eine ganze Reihe. Sorgen Sie dafür, die Informationsflut nach Möglichkeit zu begrenzen. Sich permanent mit der Krise und ihren Folgen zu befassen, kann mitunter viel Stress verursachen. Sorgen Sie im Alltag für eine feste Routine, besonders, wenn Sie zum Grübeln neigen. Eine Tagesstruktur, in die Sie Pausen und angenehme Aktivitäten einplanen, wirkt dem Grübeln entgegen. Erhalten Sie Ihre sozialen Kontakte – körperliche Distanz muss nicht zur sozialen Distanz führen. Sorgen Sie gut für sich: Achten Sie auf ihre Ernährung, auf ausreichend Schlaf und Bewegung. Und helfen Sie anderen: Fremdfürsorge trägt dazu bei, sich gebraucht und nicht allein zu fühlen.

Dr. Bender: Ich empfehle meinen Patienten gerne auch ein kleines Gedankenspiel: Versetzen Sie sich in die Zukunft. Gehen Sie zwei Jahre weiter und blicken Sie dann zurück. Dieser Blick relativiert manches und er hilft, die Gegenwart nicht als so starr, übermächtig und unabänderlich wahrzunehmen. Die Coronakrise wird uns noch eine Weile beschäftigten, aber sie wird – wie alle Krisen – vorübergehen.

Zu den Personen

Dr. med. Matthias Bender ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Kurhessen [1] und Klinikdirektor der Vitos Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal, Kassel und Hofgeismar.

PD Dr. med. Peter M. Wehmeier ist stellvertretender Klinikdirektor des Vitos Waldkrankenhauses Köppern [2].

Hintergrund

Zum Thema „Stress am Arbeitsplatz“ haben Dr. Matthias Bender und PD Dr. Peter Wehmeier kürzlich ein Buch veröffentlicht, gemeinsam mit der Diplom-Pädagogin Maja Illig und der Sozialarbeiterin Adriane Helfrich.

Das Buch beschreibt ein modulares Psychoedukationsprogramm zur Bewältigung von Stress, der am Arbeitsplatz entsteht. Therapeuten in verschiedenen psychiatrischen Kliniken und Fachabteilungen setzen dieses Programm bereits seit mehreren Jahren ein, auch in einigen Vitos Kliniken. Kürzlich ist das Manual erstmals als Buch im Kohlhammer Verlag unter folgendem Titel erschienen: Bender M, Wehmeier PM, Illig M, Helfrich A. Stress am Arbeitsplatz. Manual für die Psychoedukation zur Bewältigung von arbeitsplatzbezogenem Stress (PeBaS). Kohlhammer, Stuttgart 2021. ISBN 978-3-17-037166-8.