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Stress lass nach!

Mit Biofeedback zu Selbstwirksamkeit und Kontrollerleben

„Darf ich vorstellen? Hier sehen Sie Ihr Werkzeug, um sich selbst und Ihr Wunderwerk Organismus wahrzunehmen und verstehen zu lernen.“ So begrüße ich den ersten Patienten zur Biofeedback-Therapie.

Seit kurzem nutzt die Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster Biofeedback begleitend als verhaltenstherapeutische Methode. Damit lernen Patienten, körperliche Funktionen wahrzunehmen und zu beeinflussen, um so ihre Beschwerden zu lindern.

Biofeedback, was ist das genau?

Bei diesem Verfahren werden Sensoren am Körper des Patienten angebracht – zum Beispiel an der Fingerkuppe, auf einem Muskel oder der Schläfenarterie. So können wir physiologische Parameter messen, die in der Regel unbewusst ablaufen. Dazu zählen Atmung, Hautleitwert, Temperatur, Herzratenvariabilität, Puls und Muskelspannung. Diese Messergebnisse werden in Computersignale umgewandelt und dann als Linie, Bild oder Ton dargestellt. Der Monitor oder Lautsprecher gibt ein unmittelbares Feedback, eine gezielte Rückmeldung darüber, was sich im Organismus gerade tut.

Zu abstrakt?

Innere Anspannung zeigt sich durch eine erhöhte Tätigkeit der Schweißdrüsen und somit durch einen erhöhten Hautleitwert. Ein Training zur Selbstregulation des Erregungszustandes könnte wie folgt aussehen:

Baseline: alle ableitbaren Parameter werden in Linienform dargestellt, Hintergrundbilder,-farben und-musik sind individuell gestaltbar

Gesicht: wenn der Hautleitwert sinkt, lächelt das Gesicht am Monitor

Morphing: hier findet eine Verwandlung statt, zum Beispiel von einer Knospe in eine blühende Rose oder von einem geschlossenen Kokon in einen fliegenden Schmetterling

Puzzle: ein Bild vervollständigt sich

Da der Hautleitwert sehr sensibel reagiert, wird er auch anfänglich genutzt, um Patienten das Biofeedback-Prinzip nahezubringen:Was man wahrnehmen kann, kann man auch lenken.“

Für viele ist es überraschend zu sehen, wie schnell unser Körper reagiert, wenn man versucht, sich selbst in eine belastende Situation zu versetzen oder sich an ein schönes Ereignis erinnert.

Oh, das geht ja!

Es geht für den Patienten oder die Patientin darum zu erkennen, wie sich das Erleben von Entspannung überhaupt anfühlt. Das Niveau des Hautleitwerts spielt dabei eigentlich eine geringe Rolle. Die Hauptsache ist, er oder sie sieht, wie gut es gelingt, den Wert nach unten zu bewegen.

Abbildung zeigt den Einsatz des Muli-Point Sensor zur Messung von Hautleitwert, Puls, Durchblutung, Temperatur, Motilität und Herzratenvariabilität. Die ermittelten Daten werden via Bluetooth an den PC übertragen.
Medieninhaber: SCHUFRIED GmbH A2340 Mödling, Bildquelle: SCHUHFRIED ©Schiffleitner

Die Bauchatmung als Schlüssel zu mehr Entspannung

Vielen ist die Bauchatmung völlig fremd geworden. In Stresssituationen neigen wir dazu, schneller zu atmen. Eine flache Brustatmung wiederum sorgt dafür, dass noch mehr Stresshormone ausgeschüttet werden – ein Teufelskreis.

Mittels verschiedener Trainingsprogramme kann man eine ökonomisch richtige, entspannende Atmung erlernen. Das Programm erstellt auf Grundlage des Atemmusters des Patienten eine ideale Atemkurve. Dabei geht es von einer Zeitaufteilung von 30 Prozent für die Einatmung, 60 Prozent für die Ausatmung und zehn Prozent für die Atempause aus. Der Patient versucht, seine Atmung an diese optimale Kurve anzupassen. In der Einatmungsphase steigen Herzfrequenz, Blutdruck und Muskeltonus, bei der Ausatmung sinken diese Werte. Durch die Betonung der Ausatemphase kommt es zu einer Wirkungsreduktion des Sympathikus und somit zu einer Senkung des vegetativen Erregungsniveaus. Ein großer Vorteil des Atembiofeedbacks ist, dass die Atmung für viele Patienten ein sehr bewusst kontrollierbarer Parameter ist. Man kann also rasch Erfolge erzielen und der Patient erlebt Selbstwirksamkeit.

Vor allem bei Angsterkrankungen und für alle stressbedingten Erkrankungen ist das Atembiofeedback bestens geeignet. Bereits nach etwa fünf Trainingssitzungen sollte es dem Patienten möglich sein, das therapeutisch günstige Atemmuster auch ohne Feedback zu reproduzieren.

„Was uns kaum bewusst ist, dass wir alle einen Biosensor mit uns tragen, nämlich unsere Hand.“ Ein Sinnesorgan, ausgestattet mit tausenden Nervensinneszellen, die feinste Druck-, Bewegungs- und Vibrationsreize wahrnehmen kann. Etwa eine Handbreit über dem Bauchnabel in ca. 15 cm Tiefe, liegt der Solarplexus, das Sonnengeflecht. Ein Geflecht aus Fasern und Knoten (Ganglien) des vegetativen Nervensystems. Durch leichtes Auflegen unserer Hand können wir fühlen, wie der Atem unsere Muskelfasern „streichelt“ und dabei spüren, wie alle Körperzellen ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Atemübungen können den Solarplexus ähnlich einer Batterie aufladen und wirken wie ein Nerventonikum.

Abbildung zeigt den RESP-Point Sensor zur Messung des Atemmusters. Der Sensor misst die Atemfrequenz, Atemsteilheit und Prozentanteile der Ein- und Ausatmung.
Medieninhaber: SCHUFRIED GmbH A2340 Mödling, Bildquelle: SCHUHFRIED ©Schiffleitner

Biofeedback ist ein Therapieprozess, in dem der Patient gefordert ist, selbst etwas zu tun

Über Konditionierung prägen sich gesündere Verhaltensmuster aktiv ein. Die Stimme der eigenen Seele kann man schnell überhören oder einfach ignorieren. Die Signale des Körpers nicht.

Nehmen wir das Beispiel einer Supermarktkassiererin mit Schulterschiefstand. Durch eine falsche Körperhaltung am Band und das ständige Über-die-Schulter-Schauen auf den Kassenmonitor zog sie sich eine Sehnenreizung, später eine starke Entzündung in der Schulter zu. Doch anstatt auf die Bremse zu treten, hat sie Tabletten geschluckt und weitergemacht. Der Körper wird schon funktionieren, bloß nicht krank werden und auf die Zähne beißen. Schmerz tritt in den Mittelpunkt ihres Lebens und Erlebens. Zwanghaftes Leben mit dem Schmerz wird zu ihrer Routine.

Anhand eines EMG-Trainings messen wir die Muskelaktivität. Dabei kleben wir Elektroden auf beide Schultermuskeln. Die Messeinheit wird in Mikrovolt dargestellt. Die Patientin lernt ihre Körperhaltung vor einem Spiegel wahrzunehmen und erkennt im Feedback Veränderungen im Muskeltonus beim Ausüben verschiedener Bewegungsmuster. Wir fragen sie: „Wie fühlt es sich an?“

Wichtig ist, sich mehrmals am Tag an dieses Gefühl zu erinnern und es dann im Alltag aufzurufen.  Hilfreich bei dieser Trainingsmethode ist die „roter Punkt-Methode“. Die Patientin wird aufgefordert, überall dort, wo sie häufig hinsieht, einen kleinen roten Aufkleber anzubringen: auf ihrem Handy, dem Spiegel im Badezimmer, der Kaffeemaschine, dem Kühlschrank …

Wir empfehlen zehn Sitzungen, um die Konditionierung abzuschließen. Wichtig ist ständiges Üben. Ohne zu üben, wird die Patientin es wieder verlernen. Am besten wäre eine Trainingseinheit vormittags und nachmittags, dann zweimal die Woche, später abnehmend. Es ist nicht so, dass der Trainer nur passiv daneben sitzt, ganz im Gegenteil. Er übernimmt abwechselnd die Rolle des positiven aber auch des negativen Verstärkers. Das Anwenden imaginativer Techniken erweist sich als sehr wirkungsvoll. Biofeedback wirkt so gut, weil man das Gefühl hat, selbst etwas tun zu können und dem Schmerz nicht ausgeliefert zu sein. Denn es ist vor allem das Gefühl der Hilflosigkeit, das Schmerzen unerträglich macht.

„Die Patienten in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung stärken. Erreichen, dass sie an sich glauben, selbst das gewünschte Verhalten auch unter ungünstigen Umständen ausüben zu können.“ Das ist der Schlüssel.

Abbildung zeigt den EMG-Point Sensor zur Messung der Muskelspannung. Dieser wird unter anderem auch zum Entspannungstraining eingesetzt.
Medieninhaber: SCHUFRIED GmbH A2340 Mödling, Bildquelle: SCHUHFRIED ©Schiffleitner

Auch Migräne und auch Spannungskopfschmerzen lassen sich durch eine Biofeedback-Therapie gut in den Griff bekommen.

Neuere Empfehlungen zum Umgang und der Behandlung von Kopfschmerzen bewerten die Biofeedback-Therapie mittlerweile nicht nur als Ergänzung, sondern auch als Alternative zur medikamentösen Migräneprophylaxe (www.neurologen-im-netz.org [1]). Bei einem Migräneanfall ist eine Erweiterung der Gefäße im Kopf, die sogenannte Vasodilatation, für die Schmerzentstehung verantwortlich. Durch eine Biofeedback-gestützte Therapie können Patienten gezielt lernen, dieser Gefäßerweiterung zu begegnen, ähnlich wie es die gängigen Medikamente, sogenannte Triptane, auf chemischen Wegen tun.

Durch gezieltes Vasodilatationstraining erlernen die Patienten die Arteria temporalis willentlich zu verengen, um Schmerzen abzuwehren. Dabei wird mittels eines Stirnbandes ein kleiner Sensor in Höhe der Schläfenarterie befestigt. Die Rückmeldung auf dem Monitor erfolgt über einen roten Kreisring, der die Durchblutung der Arteria temporalis symbolisiert. Gemessen wird der Blutvolumenpuls. Das Training besteht darin, den dargestellten Kreisring möglichst oft enger zu stellen. Durch die Stabilisierung des Arterientonus‘ kann der Patient die Anzahl der Migräneattacken und/oder deren Schwere vermindern.

Entspannungstechniken sind sinnvoll, wenn sie zwischen den Attacken durchgeführt werden, ansonsten fördern sie die Vasodilatation. Gedanken hervorzurufen, die das Blutgefäß zusammenziehen lassen, können unterschiedlichster Art sein: Manche stellen sich vor in eine Zitrone zu beißen. Es kann der Gedanke an ein Wannenbad voller Eiswasser sein, die Vorstellung barfuß über spitze Steine zu laufen oder die gedankliche Fahrt in einen dunklen langen Tunnel … Hat man einmal den passenden Gedanken gefunden, gilt es, diesen festzuhalten und nicht nachzulassen. Hierbei geht es nicht um Entspannung, sondern um konzentriertes Training.

Abbildung zeigt den Multi-Point und Migräne Sensor (inkl. Stirnband) im Einsatz zur Messung des Blutvolumenpuls.
Medieninhaber: SCHUFRIED GmbH A2340 Mödling, Bildquelle: SCHUHFRIED ©Schiffleitner

Abschließende Gedanken

Wie Biofeedback nun konkret ausgeführt wird, muss jeder Mensch für sich selbst herausfinden. Um die Hirnaktivität anzukurbeln, muss der eine den Geschmack einer Eis-Sorte aus der Kindheit oder der andere an eine große haarige Spinne denken. Es ist vor allem wichtig, jedem die nötige Zeit dabei zu lassen, es zu erlernen.

Für einige Patienten eignet sich Biofeedback nicht: für schwer traumatisierte Patienten, da ganz viel mit inneren Bildern gearbeitet wird, für Patienten mit Wahnvorstellungen oder auch mit sehr schweren Depressionen. Epilepsie ist eine Kontraindikation und essgestörte Patienten gelten als sehr schwer zu beeinflussen (P. Roth, Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk Berlin).

Von vielen Patienten aber wird Biofeedback sehr gut angenommen. Fast alle sind begeistert davon, weil man wirklich sieht und hört, was in einem/mit einem passiert. Und das Beste dabei ist: Es funktioniert ganz ohne Nebenwirkungen und Medikamente!

„Durch nichts als die Seele sind die Sinne zu heilen, und durch nichts als die Sinne ist die Seele zu heilen.“ Oscar Wilde