Wer die Zukunft gestalten will, sollte die Vergangenheit kennen – Geschichten einer vergessenen Generation. Symposium beschäftigt sich mit Studie zu Kranken- und Lebensgeschichten von langjährigen Bewohnern der Heilpädagogischen Einrichtungen
„Sind Sie ein guter Mann?“ – die erste Begegnung von Professor Erik Weber mit einer unserer Bewohnerinnen beginnt mit einer Frage. Seine etwas unbeholfene Antwort „Ja, ich denke schon“ kann die Zweifel zunächst nicht aus dem Weg räumen. Sie fragt erneut kritisch nach. Mit Zweifeln an der Richtigkeit seiner Antwort, aber der Notwendigkeit einer klaren Aussage bewusst, antwortet er: „Ja, ich bin ein guter Mann“. In diesem Moment entspannt sich die Bewohnerin, das Interview kann beginnen.
Geschichten, die das Leben schreibt. Doch immer im Rahmen des institutionellen Korsetts. Geprägt von Erfolgen, Misserfolgen, Demütigungen, Krisen und Zweifeln. Als Forschungsprojekt haben wir eine Studie zur Lebenssituation der Bewohner der ehemaligen Heilpädagogischen Einrichtungen (HPE) 25 Jahre nach dem Auszug aus der Psychiatrie in Auftrag gegeben. Anfang Juni wurde die Studie bei einem Symposium in Kassel vorgestellt.
Wie die Idee zum Forschungsprojekt entstand
Die Idee, eine Studie in Auftrag zu geben, kam uns bei der Vorbereitung des 25jährigen Bestehens der Heilpädagogischen Einrichtungen. Das feierten wir 2014. Der Gedanke war folgender: Die Entwicklung von 25 Jahren HPE mal nicht aus der Expertenperspektive, sondern aus der Perspektive unserer Bewohner betrachten.
Dieser Vorschlag kam bei den Pädagogischen Leitern der HPE gut an. Also machten wir uns daran, eine Ausschreibung vorzubereiten. Verschiedene Hochschulen schickten uns ihre Angebote. Am meisten überzeugte uns das Konzept von Professor Erik Weber. Er ist Diplom-Heilpädagoge und hat eine Professur im Fach Integrative Heilpädagogik an der evangelischen Hochschule Darmstadt inne.
Zum Hintergrund der Studie
In unseren ehemals Heilpädagogischen Einrichtungen, heute in der Gesellschaft Vitos Teilhabe unter dem Namen Vitos Behindertenhilfe gebündelt, leben Menschen mit geistiger Behinderung. Sie haben eine lange institutionell geprägte Lebensgeschichte. Vor 25 Jahren lebten die meisten unserer Bewohner in den Psychiatrien des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Im Laufe der Zeit haben sie vielfältige Veränderungsprozesse miterlebt. Die Geschichte der hessischen HPE ist eng verknüpft mit der sogenannten Enthospitalisierung. Bis 1988 waren die psychiatrischen Krankenhäuser in Hessen auch für die Gestaltung von Unterstützungsleistungen von Menschen mit geistiger Behinderung zuständig. 1989 startete dann die Enthospitalisierung. Menschen mit geistiger Behinderung zogen von den psychiatrischen Krankenhäusern in die neu entstandenen Heilpädagogischen Einrichtungen um.
Konzept und Umsetzung – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Die Studie befasst sich mit den Geschichten unserer Bewohner. In Frage kamen diejenigen, die nicht nur seit über 25 Jahren in unseren Heilpädagogischen Einrichtungen leben, sondern bereits vorher in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren. In der Studie wird die Zeit vor, während und nach der Gründung der HPE aus Sicht der Bewohner reflektiert. Für uns ist es wichtig, die Geschichten unserer Bewohner zu verstehen. Nur so können wir sie adäquat betreuen.
Die Lebensgeschichten sind also weit mehr als nur eine spannende Lektüre. Sie sind eine kostbare Quelle für unsere weitere Arbeit. Auf dem Weg zu mehr Autonomie, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit einer geistigen Behinderung sind wir bereits viele Schritte gegangen. Und es liegen noch viele vor uns.
Quellen über Quellen
Zuerst machten sich Professor Erik Weber und sein Team an die umfangreiche Quellensichtung. Zu diesem Zweck bekamen sie eine verschlüsselte Liste. Darin aufgeführt waren alle unsere HPE-Bewohner, die bereits vor 1989 in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht waren. Wir wussten nicht, welche das Team auswählen würde. Daneben spielten bei der Auswahl auch das Geschlecht sowie der Wohnort eine Rolle. Nachdem die insgesamt zehn Teilnehmer der Studie feststanden und alle nötigen Genehmigungen eingeholt waren, konnte es losgehen.
Von der teilnehmenden Beobachtung zum Interview
Professor Weber und seine Kollegen suchten sich alle nötigen Informationen zu den Studienteilnehmern aus alten Krankenakten, Berichten und Hilfsplänen zusammen. Zudem hospitierten sie in allen fünf HPE-Standorten. Diese Methodik wird als teilnehmende Beobachtung bezeichnet. In Kennenlerngesprächen machten sie sich mit unseren Bewohnern und Mitarbeitern vertraut. Im nächsten Schritt konnten die Interviews starten. Diese fanden stets im Beisein einer dem jeweiligen Bewohner vertrauten Person statt. Nicht alle unsere Bewohner sind in der Lage, sich mithilfe von Sprache auszudrücken. War dies nicht der Fall, führte das Team um Professor Erik Weber stellvertretende Interviews mit Angehörigen, ehemaligen Mitarbeitern und aktuellen Unterstützungspersonen. Folgenden Fragen wollten sie dabei auf den Grund gehen:
- Wie wird die damalige Lebenssituation in den Psychiatrien mit Abstand von vielen Jahren von den ehemaligen Bewohnern der Psychiatrien wahrgenommen und bewertet?
- Gibt es Erinnerungen an den Reformprozess? Welche? Wie werden diese mit dem Abstand von vielen Jahren heute wahrgenommen und bewertet?
- Wie hat sich das eigene Leben in den letzten 25 Jahren verändert? Gibt es hierzu Wahrnehmungen und Bewertungen?
- Wie sehen Träume und Wünsche für die Zukunft aus?
Die Angaben haben Professor Weber und seine Kollegen dann in schriftliche Lebensgeschichten überführt. Das bedeutet, sie haben versucht, die Biografien aus der Zeit vor der HPE, während des Umzugs in die HPE und danach zu rekonstruieren.
Ein essenzieller Punkt war, Zukunftsperspektiven zu formulieren. Die Lebensgeschichten können eine wichtige Quelle sein. Gerade dann, wenn es darum geht, Handlungsweisen unserer Bewohner zu verstehen. Genauso, um weitere Reformschritte auf dem Weg zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung zu entwickeln.
Für unsere Bewohner war die Teilnahme an der Studie etwas ganz Besonderes. Sie kannten es nicht, dass jemand von außen an sie herantritt und sich so intensiv für ihr Leben und ihre Geschichte interessiert. Einige reagierten aufgeschlossen, andere zurückhaltend. Sie mussten sich erst einmal an die neue Situation gewöhnen.
Die Studie beim Symposium
Anfang Juni fand im Ständesaal des Ständehauses in Kassel das Symposium zur Präsentation der Studienergebnisse statt. Der Titel: „Von Krankengeschichten und Lebensgeschichten“. Zahlreiche interessierte Vitos Mitarbeiter folgten der Einladung von Edeltraud Krämer, Geschäftsführerin von Vitos Teilhabe.
Nach Edeltraud Krämers Eröffnungsrede richtet Dr. Andreas Jürgens, 1. Beigeordneter des LWV, ein Grußwort an die Teilnehmer. Anschließend stellten Professor Erik Weber und seine Mitarbeiter Stefano Lavorano und David Cyril Knöß die Studie sowie ihre Handlungsempfehlungen vor.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen teilten sich die Teinehmer in drei unterschiedliche Workshops auf. Unter Anleitung von Professor Webers Team ging es darum, konkrete Ziele und Handlungsempfehlungen aus den Studienergebnissen abzuleiten. Kleine Kaffeepause, dann ging es weiter. Die Workshop-Teilnehmer präsentierten ihre Ergebnisse der großen Runde.
Zum Schluss hatte noch einmal Edeltraud Krämer das Wort und verabschiedete alle Besucher.
In unserer Bildergalerie können Sie sich einen guten Eindruck der Veranstaltung machen.
Wir sind stolz, uns als Einrichtung dem Forschungsprojekt gegenüber geöffnet zu haben, und danken allen Beteiligten für ihr Mitwirken!
Die Studie fügt sich sehr stimmig in unser Teilhabe-Konzept. Nun stehen wir vor der spannenden Aufgabe, die Ergebnisse der Studie abzuleiten. Sie sollen in die tägliche Arbeit der Behindertenhilfe einfließen.
Bei Interesse an der Studie wenden Sie sich gerne an Frau Angelika Birle, Unternehmenskommunikation Vitos Teilhabe (angelika.birle@vitos-teilhabe.de).
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