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„Wir können diesen Kindern nur gemeinsam helfen“

Wie viel Sprengstoff bieten Systemsprenger wirklich?

Mit voller Wucht wirft sie ein Spielzeugauto gegen eine Fensterscheibe, knallt den Kopf eines anderen Kindes auf eine Tischplatte und schreit, dass man meint es in Mark und Bein zu spüren. Benni ist neun Jahr alt und vor allem drei Dinge: laut, wild und unberechenbar. Weder Pflegefamilie oder Wohngruppe noch Sonderschule, und erst recht nicht ihre eigene Mutter, können Benni unter Kontrolle bringen. Die Veränderung ist ihr ständiger Begleiter und verlässliche Beziehungen gibt es in ihrem Leben nicht. Dabei möchte Benni nur eines: geliebt werden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist Micha. Micha ist Anti-Gewalttrainer und scheint einen Zugang zu dem jungen Mädchen zu finden. Als er jedoch beginnt, die nötige berufliche Distanz zu verlieren, bricht auch er die Betreuung ab. Benni ist das, was man als Systemsprenger bezeichnet.

Mit Ulrike Bender, Betriebsstättenleiterin der Vitos Jugendhilfe, und Thilo Ast, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und stellvertretender Klinikdirektor der Vitos Klinik Rheinhöhe, haben wir über den Film SYSTEMSPRENGER von Regisseurin Nora Fingscheidt gesprochen. Wir wollten wissen, welchen Blick Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie auf den „Fall Benni“ haben und wie viel Sprengstoff in solchen Kinder wirklich steckt.

Um den Begriff direkt zu Beginn zu klären: Was sind Systemsprenger?

Ulrike Bender: Aus Sicht der Jugendhilfe sind das Kinder und Jugendliche, die mit den herkömmlichen Mitteln der Pädagogik nicht erreicht werden können. Sie zeigen auffälliges Verhalten gepaart mit Aggressionen. Ständig testen sie Grenzen aus.

Thilo Ast: Genau. Es sind Jugendliche, die die Helfer hilflos machen. Damit meine ich Helfer unterschiedlicher Professionen: Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendgerichtshilfe bzw. Gerichte und Polizei sowie niedergelassene Kolleginnen und Kollegen. Egal wie unterschiedliche Maßnahmen kombiniert werden, man kommt nicht weiter und ist rat- und hilflos.

Wie realistisch fanden Sie den Film SYSTEMSPRENGER und was hat er in Ihnen ausgelöst?

Ast: Aus fachlicher Sicht fand ich den Film beeindruckend und sehenswert. Die Besonderheit liegt darin, dass das, was in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen schiefgehen kann, in Kombination gezeigt wird. In der Realität geschieht das in dieser Verdichtung nur in seltenen Fällen. Die einzelnen Sequenzen sind aber für sich genommen sehr authentisch. Allerdings gibt es zwei, drei Szenen, in denen die Reaktion des Fachpersonals nicht ganz realistisch ist. Beispielsweise als die engagierte Sozialarbeiterin vor Benni weinend zu Boden geht. Das ist vermutlich dem Plot geschuldet und auch eine künstlerische Freiheit, die man einem solchen Film zugestehen sollte.

Mich persönlich hat der Film sehr betroffen gemacht. Es werden Situationen gezeigt, die ich kenne und die mich auch immer wieder an verschiedene Patienten erinnert haben.

Bender: Mir ging es ganz genauso wie Ihnen, Herr Ast. Was wir in dem Film sehen, ist eine Verdichtung von Vorfällen und Ereignissen. Die schnelle Aufeinanderfolge der Szenen, hat eine hohe Betroffenheit in mir hervorgerufen. In dieser Dichte ist das – Gott sei Dank – nicht der Realität geschuldet. Dennoch spiegelt jede einzelne Sequenz das wider, was wir in der Jugendhilfe erleben. Auch die Darstellung der Helfer in ihrem Wunsch zu unterstützen war authentisch. Durch meine ehemalige Beschäftigung beim Jugendamt, konnte ich mich sehr gut in die Sozialarbeiterin reindenken.

Was mich persönlich sehr betroffen gemacht hat, war die Verzweiflung und Einsamkeit des Mädchens. Der Film hat erreicht, dass man ein hohes Maß an Empathie für Sie empfunden hat.

Gibt es solche Systemsprenger auch bei Vitos?

Ulrike Bender, Betriebsstättenleiterin Vitos TeilhabeBender: Ich war mit mehreren Kollegen in diesem Film und viele haben im Nachhinein gesagt: „Ja, so etwas kennen wir.“ Bei uns in der Jugendhilfe gibt es vornehmlich zwei Bereiche, in denen wir Kinder und Jugendliche mit diesen ausgeprägten Störungsbildern betreuen. Zum einen ist das Homberg, wo wir zwei Intensivgruppen betreiben. Hier leben Kinder und Jugendliche, die diese extremen Verhaltensweisen zeigen und z. B. mit dem Messer attackieren, Gegenstände durch die Gegend werfen, Mitarbeiter beschimpfen und bespucken. Zum anderen beobachten wir diese Entwicklung auch bei Kindern und Jugendlichen im Bereich der Behindertenhilfe, z. B. auf dem Kalmenhofgelände. Aber auch in unseren Regelgruppen in Idstein betreuen wir immer wieder Kinder und Jugendliche, die einzelne dieser massiven Auffälligkeiten aufweisen.

Manche Verhaltensweisen sind darauf zurückzuführen, dass keine Impulssteuerung stattfindet. Wir erleben aber auch sich steigernde Respektlosigkeit. Und eben eine hohe Aggressivität, die bis hin zu suizidalen Handlungen führen kann. Ich möchte aber auch noch einmal betonen, dass wir im Film eine Verdichtung haben, was nicht unbedingt unserem Alltag widerspiegelt. Dennoch bildet es Krisensituationen ab, die wir so erleben.

Ast: Ich kann mich dem anschließen. Dass es genau so einen Fall „Benni“ gibt, mit all diesen – ich nenne es jetzt mal – Katastrophen, das habe ich so noch nicht erlebt. Aber ich kenne viele Patienten, die ihr ähnlich sind, wenn vielleicht auch nicht so intensiv.

Im Film wird gezeigt, wie Benni von Einrichtung zu Einrichtung geschickt wird, weil ihr in keiner wirklich geholfen werden kann.
Wann stoßen Jugendhilfe und Psychiatrie an ihre Grenzen?

Bender: In der Jugendhilfe sind es meist die Momente, in denen es um Eigen- und Fremdgefährdung geht. Wir dürfen die Kinder und Jugendlichen nicht festhalten und haben keine Time-out-Räume. Wir dürfen Notfallmedikationen verabreichen, die aber zum richtigen Zeitpunkt gegeben werden müssen.

Wenn das nicht mehr möglich ist und das Risiko massiver Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, müssen wir die Polizei oder den Notarzt alarmieren. Wenn die Situation dann eskaliert und das Kind gewalttätig wird, sind wir hilflos und müssen, wie man es im Film gesehen hat, uns selbst und die anderen Kinder in Sicherheit bringen.

Ast: Eigen- und Fremdgefährdung, das sind Situationen, in denen wir von der Kinder- und Jugendpsychiatrie bereitstehen, weil es unsere Expertise ist. Hier übernehmen wir. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist in der Lage, aus einer ärztlich-therapeutischen Position heraus, Fälle zu behandeln oder Maßnahmen zu ergreifen.

Allerdings – und diese zugespitzte Aussage muss man bitte differenziert betrachten – gibt es keine Pille für folgsames Verhalten. Darum ging es im Film nicht explizit, aber das ist mitunter eine Erwartungshaltung, die an uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrie herangetragen wird. Therapie kann aber nur da helfen, wo sich auf therapeutische Hilfe eingelassen wird. Jemanden zur Annahme von Hilfe zu bewegen, kann ein therapeutischer Prozess sein – dieser benötigt allerdings Zeit. Dieser Prozess kann im Rahmen von akuten Kriseninterventionen nicht stattfinden. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann nur einen bestimmten Teil des Weges mitgehen. Danach müssen pädagogische Maßnahmen greifen. Bei solchen Kindern braucht es ein langfristiges Konzept.

Gibt es für Kinder, wie Benni, also keine Lösung?

Ast: Der Begriff „Systemsprenger“ impliziert, dass es kaum Aussicht auf Hilfe gibt und alle ratlos sind. Aber im Film wird auch deutlich, dass es um Beziehung geht: Beziehung aufbauen, Beziehung aushalten und auch Frustration annehmen und damit umgehen.

Es geht um Beziehung: Beziehung aufbauen, Beziehung aushalten und auch Frustrationen annehmen und damit umgehen.

Aus meiner Sicht hätte es für Benni möglicherweise eine Lösung geben können: eine Einzelmaßnahme. Der Anti-Gewalttrainer Micha hat einen Zugang zu Benni aufbauen können. Unter Supervision hätte man diesen Kontakt eventuell in eine beständige, professionelle Beziehung überführen können. Durch die ständig wechselnden Maßnahmen konnte dies aber nicht erfolgreich sein. Wie haben Sie das wahrgenommen, Frau Bender?

Bender: Ich glaube auch, dass der Schlüssel das Angebot echter Beziehung war. Eine Beziehung, die viel aushält und die auch vorangeht. Der Anti-Gewalttrainer Micha hat Benni oft Dinge zugemutet, die andere vorher vermieden haben. Ich erinnere mich an eine eindrückliche Szene, in der mir die Luft weggeblieben ist. Benni, die oft schon aggressives Verhalten gezeigt hat, erhält von Micha eine Axt und darf Holz hacken. Vorher wurden solche Dinge von Benni ferngehalten, weil man Angst vor einer aggressiven Reaktion hatte. Micha hat das Muster verändert und Benni gezeigt, dass Drohgebärden und Manipulation von Beziehungen durch Gewalt nicht funktionieren. So konnte er einen neuen Zugang zu ihr gewinnen.

Dass diese Beziehung am Ende zu persönlich geworden ist, und er Benni sogar mit zu sich nach Hause genommen hat, das war sicherlich der Moment, in dem alle Profis den Kopf geschüttelt haben. Andererseits war diese Reaktion absolut nachvollziehbar und es gibt sicherlich Personen, die schon ähnlich agiert haben. Micha wollte die Beziehung, die sich langsam zwischen ihm und Benni entwickelt hat, nicht durch eine neue Maßnahme abbrechen und Benni wieder enttäuschen.

Sie haben diese Situation, in der für Benni die Aussicht auf Hilfe am größten war, als unprofessionell beschrieben.
Muss sich das aktuelle System folglich ändern?

Bender: Aus meiner Sicht geht es nicht anders. Wenn wir erwarten, dass die Kinder sich ändern, ist das der falsche Zugang. Wir müssen die Strukturen so weit verändern, dass diese Kinder die Möglichkeit haben, sich zu orientieren und innerhalb dieser Grenzen neue Alternativen für sich selbst zu finden. Das gelingt uns nur, wenn wir gemeinsam mit ihnen nach Alternativen suchen.

Ast: Ich kann mich dem anschließen. Aus meiner Sicht gibt es hierfür bereits Lösungsansätze. Was fehlt sind Ressourcen, diese auch umzusetzen.

Im Film werden Psychiatrie und Jugendhilfe als separate, vielleicht sogar konträre, Stationen für Benni dargestellt.
Nehmen Sie das in Ihrem Arbeitsalltag auch so wahr?

Ast: Ich persönlich erlebe das in meiner Arbeit nicht so. Die Motivation, diesen Kindern zu helfen, ist eine viel größere Schnittmenge, als die Punkte, bei denen man eventuell unterschiedlicher Ansicht ist. Letztendlich gibt es dann doch nicht so viel Sprengstoff für das System.

Bender: Es passt sehr gut, dass Sie das sagen, Herr Dr. Ast. 2019 haben wir in der Vitos Akademie die erste bereichsübergreifende Weiterqualifizierung [1] für die Jugendhilfe und die Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt. Wir haben ein gemeinsames Thema. Und wenn wir dieses Thema zusammen angehen und verstehen, was auf der jeweils anderen Seite möglich ist, kann uns das nur weiterbringen. Das nehme ich aus dem Film mit. Wir können diesen Kindern nur gemeinsam helfen.

Bildquelle: ©Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures, Vitos

Hintergrund: Nora Fingscheidt schrieb über einen Zeitraum von vier Jahren das Drehbuch zu SYSTEMSPRENGER und wurde dafür u. a. mit dem Thomas-Strittmatter-Drehbuchpreis 2017 ausgezeichnet. Bei ihrer sorgfältigen Recherche wurde sie von Dr. Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik, unterstützt. In ihrem ersten Kinospielfilm erzählt die Regisseurin die Geschichte der neunjährigen Benni, die auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit ihre Mitmenschen zur Verzweiflung treibt. Helena Zengel überzeugt als Benni – zusammen mit einem wunderbaren Ensemble, darunter Albrecht Schuch, Lisa Hagmeister und Gabriela Maria Schmeide.

SYSTEMSPRENGER gewann bei den 69. INTERNATIONALEN FILMFESTSPIELE BERLIN den Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis und war als deutscher Beitrag für den Oscar® in der Kategorie „International Feature Film“ nominiert.

Weiter Informationen zum Film finden Sie auf der offiziellen Website: https://www.systemsprenger-film.de/ [2]