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Tanz Dich gesund!

Interview mit Ute Borger, Tanztherapeutin der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn

Ute Borger arbeitet als Tanztherapeutin in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn. Warum sich das Tanzen auf die Seele auswirkt und bei welchen psychiatrischen Erkrankungen die Tanztherapie eine sinnvolle therapeutische Ergänzung sein kann, berichtet sie Kerstin Pulverich im Interview.

Woher kommt die Tanztherapie und seit wann gibt es sie?

Ute Borger: ‚Bewegung ist Leben, Leben ist Bewegung‘. Schon sehr früh war Tanzen gleichbedeutend mit wichtigen Aspekten des menschlichen Lebens wie Arbeit, Liebe, Ritual oder Kampf. Ein mexikanischer Indianerstamm hatte für Tanz und Arbeit sogar ein und dasselbe Wort.

Die Tanztherapie entwickelte sich in den USA in den 1940er Jahren aus dem Ausdruckstanz. Bei der Tanztherapie geht es um ein psycho-, körper- und bewegungstherapeutisches Verfahren, das im Kanon der wissenschaftlichen Psychotherapie als künstlerische Therapie gilt. In dieser Therapieform kann Selbstwirksamkeit aktiv auf der Handlungsebene erfahren und Tanz als Ressource wahrgenommen werden.

Was verändert sich beim Tanzen?

Ute Borger: Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Beim Tanzen werden wir mit unterschiedlichen Rhythmen, Techniken, Abfolgen und freien Sequenzen konfrontiert. Die Herausforderung besteht darin, sich diesen zu stellen. In der Bewegung wird mögliches neues Verhalten erprobt. Ein Perspektivwechsel findet statt. Man übernimmt eine Rolle. Man lernt sich durch die Bewegung besser kennen. Durch die Gruppe erfolgt ggf. eine Realitätsüberprüfung. All dies fördert die Veränderungsbereitschaft.

Durch die Erweiterung des Bewegungsrepertoires, sprich spezifische tanztherapeutische Techniken, lernen wir also, uns Konflikten zu stellen. Tanzen hilft uns dabei, neue Möglichkeiten der Regulation und Interaktion auszuprobieren.

Warum wirkt Tanzen auch auf die Seele therapeutisch?

Ute Borger: Der Tanz beziehungsweise die tänzerische Bewegung im Sinne der Tanztherapie bedient den menschlichen Körper und stellt seine organischen Bewegungsmöglichkeiten ganz ohne Leistungsdruck oder Anspruch auf „Vollständigkeit“ in den Fokus. Der Bewegungssinn gilt als grundlegendster Wahrnehmungssinn. Er beleuchtet insbesondere die Wechselwirkung von Körper und Bewegung und wie diese unsere Emotionen beeinflussen. Emotionen verändern sich nämlich, sobald man sie in (tänzerische) Bewegung bringt. Hier ist der Weg ist das Ziel. In der Tanztherapie gibt der Tanz (oder die tänzerische Bewegung) Raum, uns als Person zu verwirklichen. Im tänzerischen Ausdruck können wir Themen und Gefühlen einen ganz individuellen Ausdruck verleihen und unterdrückte Emotionen freisetzen.

Bei welchen psychiatrischen Erkrankungen kann die Tanztherapie eine sinnvolle therapeutische Ergänzung sein?

Ute Borger: Die Tanztherapie kann vielfältig eingesetzt werden, zum Beispiel bei der Behandlung von Persönlichkeits-, Ess- oder Angststörungen sowie Autismus, Burnout, Trauma und Depressionen, ganz unabhängig vom Alter. In der Geriatrie sowie bei Kindern und Jugendlichen kommen tanztherapeutisch angepasste Angebote zum Einsatz.

Die Tanztherapie wird auch bei der Behandlung von neurodegenerativen oder neurologischen Erkrankungen sowie bei onkologischen Patientengruppen eingesetzt. Auch Schmerzpatient/-innen und Patient/-innen mit Herz-Kreislauferkrankungen können von der Tanztherapie profitieren.

Wirkt sich Tanzen auch auf die eigene Beziehungsfähigkeit aus?

Ute Borger: Durchaus. Über gegensätzliche Bewegungsrollen und den Perspektivwechsel beziehungsweise das häufige Sich-Einstellen auf andere Personen, Ansichten und Gegebenheiten, und die daraus resultierende Realitätsüberprüfung, wirkt sich das Tanzen direkt auf die eigene Beziehungsfähigkeit aus. Eigene Verhaltensmuster werden überprüft und kritisch hinterfragt und bekommen im Tanz eine ganz neue, sozialintegrierende Dimension.

Wie ist Ihre Erfahrung: Können sich die Patient/-innen sofort auf das Tanzen einlassen oder benötigen sie Ermutigung? Welche Hindernisse gibt es im tanztherapeutischen Alltag?

Ute Borger: Das ist unterschiedlich. Der Zugang zum Tanz ist so facettenreich wie wir Menschen. Es gibt Patienten, die von etwaigen schambesetzten Gefühlen davon abgehalten werden, zu tanzen oder sich in der tänzerischen Bewegung „zu zeigen“. Wie oft höre ich von Patient/-innen den Satz: „Ich kann doch nicht tanzen“. Das wäre das gleiche, als ob jemand, der sich ganz normal bewegen kann, sagt, er könne sich nicht bewegen. Oft steckt hier Leistungsdruck oder Perfektionismus dahinter, aber auch „Kopfmenschen“ haben oft einen erschwerten Zugang zu ihrem Körper und ihren Emotionen. Dass Bewegung dabei helfen kann, über einen anderen, nonberverbalen „Kanal“ in Kontakt mit uns selbst zu treten. Das stellen Patienten der Kreativtherapien, auch der Tanztherapie, immer wieder fest. Dahin zu kommen, bedarf es manchmal jedoch einer anfänglichen Überwindung.

Wie sind Sie zum Tanzen gekommen?
Tanztherapeutin

Ute Borger

Ute Borger: Geboren und aufgewachsen bin ich als Teil einer deutschen kulturellen Minderheit in Siebenbürgen. Das liegt heute in Rumänien. Als Kind und Heranwachsende habe ich mich sehr stark über Tanz und Kultur definiert. Diese Standards haben mich mein Leben lang begleitet. Die Wechselwirkung zwischen Tanz und Kultur haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. In den USA und in Tübingen habe ich Literatur- und Sprachwissenschaften der Amerikanistik und Hispanistik studiert. Und später in Ecuador gearbeitet. Da bleibt es nicht aus, dass man auch mit der lateinamerikanischen Tanzszene in Berührung kommt. Sie hat mich nachhaltig geprägt und begleitet. Als Tanzlehrerin habe ich ebenfalls lateinamerikanische Rhythmen wie Salsa, Bachata und Merengue unterrichtet, und tue es in unregelmäßigen Abständen heute noch. Der Weg in die Tanztherapie führte bei mir über die Ausbildung zur Tanzpädagogin. Dort habe ich selber die heilende Wirkung des Tanze(n)s erfahren und wollte diese weitergeben.

Was bedeutet Tanzen für Sie selbst?

Ute Borger: Sich in Lateinamerika dem Tanz(en) zu entziehen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Seitdem begleiten mich vor allem die südamerikanischen Rhythmen auf meinem Lebensweg.

Tanzen und daraus resultierend, auch die Tanztherapie, resoniert gleich mehrfach in mir. Zum einen, weil es den Menschen da „abholt, wo er steht“, und, zum anderen, weil der Tanz mit seiner Möglichkeit zum individuellen Heilerleben in seiner Ganzheitlichkeit per se zur Sensibilisierung und zum Verständnis menschlicher Facetten beiträgt. Tanzen hilft, die eigene Person zu würdigen und als Ressource anzuerkennen. In einem erweiterten Schritt kann man dann selbstbewusst und um die eigenen persönlichen wie kulturellen „Eigenheiten“ wissend, den Blick nach außen wagen. Meine Diplomarbeit zur Tanztherapeutin habe ich daher auch zum Thema „Kulturelle Eigenheiten als Ressource aner-/kennen und tanztherapeutisch nutzen“ geschrieben.

Wie lange arbeiten Sie bereits in der Tanztherapie?

Ute Borger: In der Tanztherapie an sich seit Herbst 2019. Davor habe ich als Tanzpädagogin viele Jahre – ebenfalls ‚tanztherapeutisch‘ – im prophylaktischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen sowie mit älteren Menschen gearbeitet.

Welche Ausbildung ist dafür nötig?

Ute Borger: Ich habe beim Frankfurter Institut füt Tanztherapie eine fünfjährige berufsbegleitende Ausbildung zur Tanztherapeutin absolviert, die aus zwei Jahren Grundstufe und drei Jahren Aufbaustufe bestand.

Mittlerweile gibt es jedoch auch einen Master-Studiengang Tanz- und Bewegungstherapie an der Hochschule Heidelberg, an dessen Entwicklung auch die Dozentinnen „meines“ Ausbildungsinstituts mitgewirkt haben. Der Ausbildungs- sowie der Studiengang ist anerkannt durch den Berufsverband der Tanztherapeut/-innen Deutschlands e. V.

Zum guten Schluss: Welches war Ihr schönstes Erlebnis mit psychosomatisch erkrankten Menschen in der Tanztherapie?

Ute Borger: Ich durfte im Verlauf meiner tanztherapeutischen Tätigkeit bereits viele schöne Momente erleben. Zum Beispiel, wenn jemand zu Beginn der Therapieeinheit den hohen Grad der eigenen Belastung signalisiert und am Ende die Gruppenstunde mit leuchtenden Augen und einem Lächeln im Gesicht (das man trotz Mundschutz-Maske erkennen konnte) verlässt. Die bislang schönste Rückmeldung, die ich von einem sehr stark belasteten und zurückgezogenen Patienten bekam, war seine Aussage, dass er in der Tanztherapie wieder an ein Gefühl anknüpfen konnte, das er mit „Leben“ verbindet. Diese Aussage hat er dann noch mit einer Geste untermalt, die dieses ‚Lebensgefühl‘ auch in der Bewegung beschrieb.

Hier schließt sich der Kreis: „Bewegung ist Leben, Leben ist Bewegung“.

Das Interview führte Kerstin Pulverich.

Weiterführende Informationen zu unseren Vitos Kliniken für Psychosomatik finden sie hier [1].