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Teletherapie: Behandlung am Bildschirm

Vitos Gießen-Marburg entwickelt virtuelles Therapiekonzept

Die Corona-Pandemie hat unsere Welt auf den Kopf gestellt. Die obersten Regeln heißen Abstand halten und soziale Kontakte reduzieren. Diese Maßnahmen beeinflussen den therapeutischen Alltag in einer psychiatrischen Klinik enorm, denn für eine erfolgreiche Behandlung bedarf es vor allem einer Sache: Kontakt! Vitos Gießen-Marburg hat auf diese Herausforderung eine Antwort gefunden: Teletherapie im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts. Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor am Vitos Klinikum Gießen-Marburg, erläutert die Hintergründe.

Professor Franz, was kann man sich unter Ihrem Konzept der „Teletherapie“ vorstellen?

Prof. Dr. Michael Franz: Die Teletherapie bietet die Möglichkeit, Patienten virtuell zu behandeln. Die Therapieangebote, Abläufe und die Kontaktgestaltung sind angelehnt an die auf einer realen Station – nur eben mithilfe von Telefon oder Videoschaltung. Daran können mehrere Personen teilnehmen, sodass auch Visiten und Besprechungen bis hin zu kleinen Gruppenangeboten möglich sind. Demnächst wollen wir Ergo- und Bewegungstherapie mit kleinen Videoclips vorhalten, eine Online-Skills-Gruppe ist in Planung und vieles mehr. Einen physischen Kontakt gibt es in der Regel nur einmal im Rahmen der Aufnahme, da hier auch eine körperliche Untersuchung zum Procedere gehört.

Wie läuft eine Woche in der Teletherapie für Patienten derzeit ab?

Franz: Sie haben als Patient täglich morgens einen Kontakt mit der Pflege, zudem einzeln oder in kleinerer Gruppe eine Morgenrunde zum Sammeln von Anliegen. Dazu zurzeit täglich ein Einzelgespräch mit ihrem Behandler, einem Psychologen oder Arzt sowie Bezugspflegegespräche. Es finden einmal pro Woche eine Oberarztvisite und einmal eine ärztliche Visite statt. Außerdem stellt sich der Sozialdienst bei jedem Patienten vor und bietet Unterstützung an. Wie gesagt: Das Angebot wird Schritt für Schritt ausgebaut. Es ist angelehnt an den Ansatz des „Blended Care“ (Integration von Online-Interventionen in die reguläre Psychotherapie), der zurzeit als Goldstandard gilt. Daher gibt es initial bei der Aufnahme einen direkten Kontakt mit einem Behandler, der auch zur Erhebung der körperlichen Befunde dient.

Welche technische Ausstattung brauchen die Patienten, um daran teilzunehmen? Reicht ein Smartphone?

Franz: Die Mindestvoraussetzung ist ein funktionierendes Telefon. Damit können wir schon sehr viel erreichen. Ideal ist natürlich ein Endgerät mit Kamera und Mikrofon für eine Verbindung mit Bild und Ton, wie beispielsweise beim Programm ClickDoc. Hier sehen sich der Patient und mehrere Behandler, zum Beispiel bei einer Visite. Sie können Dokumente hochladen, austauschen oder zusammen betrachten – etwa ein therapeutisches Wochenprotokoll. Es gibt sogar ein virtuelles Wartezimmer. Wir wollen in der Psychiatrie aber auch Patienten erreichen, die nicht diese technische Ausstattung vorhalten können. Daher arbeiten wir auch mit normalen Telefongesprächen. Der telefonische Kontakt ist nicht zu unterschätzen. In der Behandlung von Borderline-Patienten nutzen wir in akuten Krisen schon lange Telefon-Coachings, die sich als sehr wirksam erwiesen haben.

Für wen ist die Teletherapie geeignet?

Franz: Es kommt prinzipiell eher auf die Zuverlässigkeit und Absprachefähigkeit eines Patienten an als auf seine Diagnose. Allerdings liegt in der Natur der Sache, dass Erkrankungen, die mehr sprachlich-therapeutisch beeinflussbar sind, mehr profitieren als solche, die eher einen strukturierten Rahmen und Kurzkontakten benötigen. Gut behandelbar sind demnach in der Regel Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Borderline-Störungen, Traumafolgestörungen, Persönlichkeits- und somatoforme Störungen.

Ausgeschlossen sind natürlich Patienten mit akuter Fremd- und Selbstgefährdung oder Suizidalität. Ebenso gibt es Grenzen bei Themen wie akuter Entgiftung oder dissozialen Störungen. Es muss immer auch individuell beurteilt werden, ob die Teletherapie für einen Patienten das Mittel der Wahl ist oder nicht.

Der persönliche Kontakt zwischen Menschen ist sehr wichtig. Ein virtuelles Angebot ist nicht das Gleiche wie ein Treffen Face-to-Face. Warum können Patienten trotzdem profitieren?

Franz: Wir haben ein sogenanntes Bindungssystem. Damit sind die Teile in unserem Gehirn gemeint, die unsere Beziehungen zu anderen Menschen tragen und verarbeiten. Wir wissen, dass dieses Bindungssystem eine sehr beruhigende und regelrecht gesundheitsfördernde Wirkung hat. Und dass die Ergebnisse von Therapien stark durch die Qualität der therapeutischen Beziehung beeinflusst werden. Es ist jedoch offen, ob eine Bindung immer nur dann wirksam wird, wenn jemand einem anderen leibhaftig gegenübersitzt. Daten aus Studien zu Online-Therapien und dem bereits genannten „Blended Care“ legen uns nahe, dass gute vorübergehende Bindungen auch dann entstehen können, wenn ein großer Teil der Interaktion telefonisch oder videogestützt stattfindet. Wenn der Kontakt gut ist, vervollständigt unser Gehirn das Gegenüber bis zu einem gewissen Grad. Daher ist eine gute Übertragung der Stimme so wichtig. Es gibt allerdings einzelne Menschen bei denen das nicht gelingt. Diese sind dann in der Regel auf die physikalische Präsenz eines Gegenübers angewiesen, um eine Beziehung aufzubauen.

Wird die Teletherapie auch nach der Corona-Pandemie ein fester Bestandteil im Therapieangebot von Vitos Gießen-Marburg sein?

Franz: Unser Teletherapiekonzept ist eine Innovation und gleichzeitig ein zeitgemäßes Format, auch über die Covid-Krise hinaus. Schon vor der Krise nahmen Anwendungsbereiche, Verfügbarkeit und Evidenzbasierung von Online- bzw. Teletherapie im internationalen Kontext stetig zu, zumal auch bislang unerreichte Patienten mit diesem Format erreicht werden können. Die Frage war nicht, ob es irgendwann ein solches umfassendes Teletherapieangebot gibt, sondern wann und wo. Jetzt haben wir damit angefangen und werden als Vitos Klinik zu einem sehr frühen Zeitpunkt dieser Entwicklung mit einem ausgearbeiteten Konzept sowie erprobten Erfahrungswerten dastehen. Mit Hilfe der Qualitätsindikatoren evaluieren wir unser Konzept und werden es kritisch auswerten. Eine Wirksamkeitsstudie im engeren Sinne sollte prospektiv und mit einer Kontrolle erfolgen.

 

Hintergrund: Wie das „Telemedizinische Konzept Psychiatrie und Psychotherapie (Teletherapie)“ bei Vitos Gießen-Marburg entstanden ist.

Als die Covid-19-Krise im März 2020 hierzulande Fahrt aufgenommen hat, begriffen wir schnell: Es gab für die Bundesrepublik kein Vorläuferkonzept für eine so umfassende telepsychiatrische Behandlung, wie wir sie uns vorstellen. Gleichzeitig mussten wir wirksame Maßnahmen sofort ergreifen. Dies sollte aber nach Vitos Maßstäben und nicht improvisiert in einem konzeptfreien Raum geschehen. Daher wurde von Dr. Sara Lucke und Dr. Johannes Krautheim in täglicher Rücksprache mit mir ein Konzept geschrieben bei gleichzeitiger Implementierung des Programms. Gleichzeitig wurden Mitstreiter gewonnen, die Bausteine schon umsetzten, bevor das ganze Konzept fertig war, vor allem Max Heuchert und Heike Kuhl als leitende Pflegekraft sowie Ärztinnen, Psychologinnen und Mitarbeiter aus der Pflege, dem Sozialdienst, Ergotherapie, etc. An der Erstellung und Umsetzung unseres Konzepts in unglaublich schneller Zeit hat ein sehr engagiertes Team mitgewirkt. Allen auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank!

Bildquelle: Vitos