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„… und ich befürchtete das Schlimmste“

Vitos erinnert am 1. September an die Opfer der NS-Krankenmorde

Ab 1933 wurden Menschen, die nicht dem Ideal des nationalsozialistischen Regimes entsprachen, diskriminiert, zwangssterilisiert und ermordet. Auch Einrichtungen, die heute von Vitos betrieben werden, waren in dieses menschenverachtende System eingebunden. Anlässlich des Gedenktags am 1. September erinnert Vitos an die Opfer der NS-Krankenmorde. Zu ihnen gehört Ludwig Kaiser, der 1941 in Hadamar ermordet wurde. Seine Lebensgeschichte stellen wir hier exemplarisch vor.

Über Ludwig Kaiser ist kaum etwas bekannt. Nur einige wenige biografische Daten sind im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) vorhanden. Und ein Brief, den seine Tante an die damalige Landesheilanstalt Haina schickte, um sich nach dem Neffen zu erkundigen. Aus diesen Informationen ergibt sich ein Bild seines Lebens- und Leidenswegs, wenn auch kein genaues:

Geboren wurde Ludwig Kaiser 1909 in Walburg, dem heutigen Walbourg im französischen Elsaß. Zur damaligen Zeit hatte die kleine, ländlich geprägte Gemeinde um die 500 Einwohner. Aus dem Brief der Tante lässt sich schließen, dass Ludwig Kaiser eine schwere Jugend hatte. Grund scheint eine Stiefmutter gewesen zu sein, die „wenig nach ihm fragte“, wie es in dem Brief heißt. Ob und an welcher psychischen Krankheit Ludwig Kaiser litt, ist nicht mehr nachvollziehbar. Als weiterer Wohnort ist Hanau bekannt. Wie es ihn dorthin verschlug, ob er dort gemeinsam mit seiner Familie lebte und für welchen Zeitraum, geht aus den vorhandenen Unterlagen des LWV-Archivs nicht hervor.

Im August 1931 wurde Ludwig Kaiser in der damaligen Landesheilanstalt Haina aufgenommen. Sie war seit 1929 eine Heil- und Pflegeanstalt für „geisteskranke Männer“, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß. Nach Kriegsbeginn wurde dort auch ein Reservelazarett für Soldaten der Wehrmacht eingerichtet sowie ein Lazarett für Kriegsgefangene. Die Anstaltsleitung musste für diese Zwecke hunderte Betten zur Verfügung stellen. Die Versorgung der psychisch kranken Patienten verschlechterte sich in dieser Zeit dramatisch. Mit furchtbaren Folgen: Ab 1940 starben in Haina jährlich etwa dreimal so viele Patienten wie in den Vorkriegsjahren.

Weilmünster war „Zwischenanstalt“

Knapp zehn Jahre blieb Ludwig Kaiser in Haina. Im Juni 1941 wurde er in die damalige Landesheilanstalt Weilmünster verlegt. Er blieb dort nur wenige Wochen, denn die Anstalt in Weilmünster war eine sogenannte „Zwischenanstalt“. Patientinnen und Patienten aus anderen Anstalten wurden zunächst dorthin verlegt, bevor sie in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht wurden. Zwischen Januar und August 1941 wurden in Hadamar im Rahmen der sogenannten „T4-Aktion“ mehr als 10.000 Menschen ermordet.

NS-Tötungsanstalt Hadamar mit rauchendem Schornstein, 1941

NS-Tötungsanstalt Hadamar mit rauchendem Schornstein, 1941

Ludwig Kaiser gelangte am 10. Juli 1941 in einem Transport mit 62 weiteren Patientinnen und Patienten nach Hadamar. Wenn die Menschen dort ankamen wurden sie üblicherweise noch am selben Tag in einen Kellerraum der Anstalt geführt, der als Duschraum getarnt war. Dort wurden sie mit Kohlenmonoxid ermordet. Ihre Leichen wurden anschließend eingeäschert.

Fast zur selben Zeit muss in Haina ein Päckchen für Ludwig Kaiser eingetroffen sein. Seine Tante, die in Kehl am Rhein lebte, hatte es an ihren Neffen geschickt. In einer Antwortkarte teilte man ihr mit, dass ihr Neffe nach Weilmünster verlegt worden sei. Die Verlegung alarmiert die Tante. In ihrem Brief vom 15. Juli, der im LWV-Archiv erhalten ist, schreibt sie: „[…] wie erschrak ich über diese Karte und ich befürchtete das Schlimmste daß unser armer bedauernswerter Ludwig nicht mehr am Leben ist“. Sie bittet die Direktion in Haina um eine Nachricht, ob ihr Neffe verstorben ist und erkundigt sich für den Fall seines Todes nach dem Ort der Grabstätte. Und sie bittet für diesen Fall „[…] verteilen Sie den Inhalt des Paketchens an die armen Kranken in der Anstalt Haina.“

Wie seine Tante wohl schon vermutet hat, ist Ludwig Kaiser zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Er wurde 32 Jahre alt.

Die Patientenakten der Ermordeten gingen von Hadamar aus nach Berlin. In der dortigen Tiergartenstraße 4 befand sich die Verwaltungszentrale für die Umsetzung des NS-Krankenmordes, der nach der Adresse später „Aktion T4“ genannt wurde. In Berlin vernichteten Mitarbeiter der Verwaltungszentrale bis zum Ende des Krieges einen Großteil der Patientenakten. Die verbliebenen Akten wurden von der Stasi archiviert. Nach der Wende wurden diese Akten in die Bestände des Bundesarchivs Berlin überführt. Von den mehr als 10.000 Menschen, die 1941 im Rahmen der T4-Aktion in Hadamar ermordet wurden, werden im Bundesarchiv etwa 2.500 bis 3.000 Akten aufbewahrt. Die Patientenakte von Ludwig Kaiser ist nach Kenntnis der Gedenkstätte Hadamar nicht erhalten.

Aus dem Brief seiner Tante lässt sich deren Erschütterung über den vermuteten Tod ihres Neffen ablesen: „O es tut mir von Herzen recht leid denn wir alle hatten den armen Ludwig sehr lieb […].“

Gedenken am Jahrestag

Um die Opfer der NS-Euthanasieverbrechen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, richtet Vitos jährlich am 1. September Gedenkveranstaltungen aus. Die dauerhafte Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen sind Vitos ebenfalls Auftrag und Anliegen. An verschiedenen Vitos Standorten gibt es deshalb Orte des Gedenkens.

2019 haben der LWV Hessen und Vitos die vollständig überarbeitete Informationsschrift „Geschichte und Gedenken“ herausgegeben. Sie stellt auf 100 Seiten dar, wie heutige Vitos Einrichtungen in der Zeit von 1933 bis 1945 in das System der Diskriminierung und Ermordung von kranken und behinderten Menschen eingebunden waren. Sie informiert über Zwangssterilisationen, über die Verlegung von Patienten in Tötungsanstalten, über die gezielte Unterernährung von Patienten und den Mord durch Medikamente.

Die Broschüre „Geschichte und Gedenken“ finden Sie hier [1] auf unserer Website zum Downloaden.

Weitere Informationen zu den Krankenmorden während der Zeit des Nationalsozialismus gibt es bei der Gedenkstätte Hadamar des LWV Hessen: http://www.gedenkstaette-hadamar.de/webcom/show_article.php/_c-1159/i.html [2]

Quelle: Broschüre „Geschichte und Gedenken“, herausgegeben von Vitos und dem Landeswohlfahrtsverband Hessen

Der zitierte Brief stammt aus dem Archiv des LWV Hessen, B 13 Pat. 163.

Bildquellen: Vitos/Foto: Bettina Müller; Archiv des LWV Hessen