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Und plötzlich ist alles anders – oder doch nicht?

Das Coronavirus und der Klinikalltag in der Psychosomatik

Das Coronavirus bestimmt seit einigen Wochen unseren Alltag. Das Thema steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sozial zu sein, bedeutet plötzlich, auf Abstand zu gehen. Dass wir derzeit einer Ansteckung aus dem Weg gehen und Rücksicht auf unsere Mitmenschen nehmen, ist wichtig. Neben den ernsten gesundheitlichen Folgen, die durch das Virus ausgelöst werden können, dürfen wir jedoch andere Erkrankungen nicht aus dem Blick verlieren. Wie zum Beispiel die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Dr. Thorsten Bracher, Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville, erläutert, welche Rolle das Virus im Klinikalltag spielt und was Menschen allgemein tun können, um ihre Psyche dieser Tage zu schützen.

Dr. Bracher, wie wirkt sich das Coronavirus auf den Klinikalltag aus? Wie gehen Ihre Patienten mit der Situation um?

Dr. Thorsten Bracher: Wir haben aktuell weniger Patienten als sonst. Das hat zum einen damit zu tun, dass wir einige regulär wieder in ihr häusliches Umfeld entlassen konnten. Zum anderen spielt die Coronakrise natürlich eine Rolle. Menschen, die sich wegen ihrer psychischen Erkrankungen normalerweise um eine Aufnahme bemüht hätten, bleiben jetzt lieber zu Hause. Sie fühlen sich dort sicherer und befürchten, dass sie in der Klinik mit mehr Menschen in Kontakt kommen und sich deshalb leichter anstecken könnten.

Ist diese Sorge denn berechtigt?

Bracher: Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Menschen verunsichert sind und sich deshalb für den vermeintlich sichereren Weg entscheiden. Wer jedoch an einer psychischen Krankheit leidet und einen dringenden Behandlungsbedarf hat, sollte einen Klinikaufenthalt nicht scheuen. Unsere üblichen Therapien laufen weiter wie bisher. Dabei berücksichtigen wir natürlich die Empfehlungen der Hygiene-Experten und die Anordnungen der Regierung. Das heißt, wir praktizieren die erforderliche räumliche Distanzierung. Die Teilnehmerzahl in den Gruppentherapien haben wir deutlich reduziert. So kommen sich die Patienten nicht zu nahe. Unsere Bewegungs- und auch Tanztherapeuten gehen mit den Patienten so häufig wie möglich an die frische Luft. Wir haben auf unserem Gelände sehr gute Bedingungen, wie zum Beispiel den Pavillon, der eine überdachte Außenfläche bietet. Das tolle Wetter eignet sich hervorragend für Aktivitäten Draußen.

Tragen Sie in der Klinik Schutzmasken?

Bracher: Nein. Solange der Infektionsschutz dies nicht erforderlich macht, tragen wir bewusst keine Masken, weder die Behandler noch die Patienten. Kittel und Mundschutz sind ein irritierendes Bild, das nur zu mehr Verunsicherung beitragen würde. Trotz des Abstandsgebots wollen wir noch nahbar bleiben. Und wir wollen sehen, wie es unseren Patienten geht. Wenn das halbe Gesicht abgedeckt ist und nur noch die Augenpartie frei bleibt, können wir die Stimmung sehr viel schwieriger beurteilen.

Wie sieht es an den Wochenenden aus?

Bracher: Samstags und sonntags ist das Therapieprogramm deutlich reduziert. Aktuell bleiben die Patienten an den Wochenenden in der Klinik, um die Zahl der Kontaktpersonen und damit das Ansteckungsrisiko möglichst gering zu halten. Sie kommen meist gut damit zurecht, bei uns auf der Station zu bleiben. Die Patienten überlegen sich gemeinsam, wie sie die Wochenenden in der Klinik gestalten können. So kommen sie auch in das uns so wichtige eigenständige Tun. Gleichzeitig sind sie sich bewusst, dass sie Abstand halten müssen. Gern nutzen sie die Möglichkeit, sich im „Kunstatelier“ unter Anleitung künstlerisch frei zu betätigen.

Was können Menschen tun, die „draußen“ leben?

Bracher: Gleichgültig, ob es sich um psychisch gesunde oder kranke Menschen oder unsere Patienten handelt, gilt für alle das gleiche Prinzip: eine vernünftige Tagesstruktur ist das A und O. Das fängt bereits mit regelmäßigen Mahlzeiten an. Auf keinen Fall sollte man aus Langeweile immer wieder zum Kühlschrank laufen. Frühstück, Mittagessen, Abendessen helfen, einen geregelten Ablauf beizubehalten. Den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben, ist dagegen keine gute Idee.

Bewegung hält unsere Psyche stabil und unser Immun- sowie Herz-Kreislaufsystem fit. Aktivitäten im Freien bieten sich bei dem tollen Wetter momentan besonders an. Regelmäßig spazieren gehen, entweder allein oder in Begleitung einer Person, sowie walken, joggen, wandern oder Fahrrad fahren.

Was machen Menschen, die in häuslicher Quarantäne sind?

Bracher: Wer das Haus oder die Wohnung nicht verlassen darf, sollte keinesfalls auf Bewegung verzichten. Sport ist auch mit einfachen Mitteln möglich. Es gibt viele Anleitungen im Internet für Gymnastik- oder Yogaübungen und sogar komplette Fitness- und Tanzkurse.

Viele Menschen nutzen die durch Kurzarbeit, Homeoffice oder auch häusliche Quarantäne gewonnene Zeit für einen gründlichen Frühjahrsputz oder entrümpeln Dachboden und Keller. Das ist eine gute Idee, denn diese Tätigkeiten sind sinnvoll und halten vom Grübeln ab. Ein bisschen Spaß sollte aber auch sein. Jetzt ist eine gute Gelegenheit, wieder Interessen oder Hobbys aufleben zu lassen, die man lange Zeit nicht mehr gepflegt hat. Das muss nichts Großartiges sein. Es reicht schon, endlich mal das Buch zu lesen, was man schon lange lesen wollte, dafür aber nie die Zeit und Muße gefunden hat. Bewusst Musik zu hören ist auch sehr wohltuend.

Selbst kreativ zu werden ist natürlich noch besser. Zum Beispiel Osterdekoration basteln, malen, stricken, häkeln. Wer ein Instrument spielt, kann wieder anfangen zu musizieren. Entweder alleine oder man verabredet sich via WhatsApp mit Menschen in der Nachbarschaft und einigt sich auf ein Stück. Die Italiener haben es uns vorgemacht, andere Länder sind dem Beispiel gefolgt. Auch hierzulande gibt es schon viele solcher Stadtteil-Projekte, die gleichzeitig die Solidarität stärken. Die Menschen rücken so psychisch näher zusammen.

Solidarität ist ein schönes Stichwort. Was bringt sie uns?

Bracher: Solidarität mit unseren Mitmenschen erreichen wir zum Beispiel schon durch regelmäßige Telefonate, Skypen oder Briefe schreiben.

Menschen, die allein leben, sind oft einsam und fühlen sich momentan sehr isoliert. Oder nehmen wir ältere Menschen, die Angst haben, vor die Tür zu gehen. Wenn wir wissen, wer in der Nachbarschaft Hilfe gebrauchen könnte, dem können wir unsere Unterstützung anbieten. Wir können zum Beispiel einkaufen gehen oder etwas mitbringen, wenn wir ohnehin schon zum Supermarkt fahren. Die direkte Begegnung lässt sich ja leicht vermeiden, indem man die Einkäufe einfach vor der Tür abstellt.

Das Schöne am Solidaritätsgedanken ist das Gefühl, das man etwas für andere Menschen tun kann. Dieses Gefühl gebraucht zu werden und nützlich zu sein, sorgt für Zufriedenheit und erhöht den Selbstwert.

Das Coronavirus wirft viele Fragen auf, auf die es noch keine Antworten gibt. Dieses Nichtwissen führt bei vielen Menschen zu einer großen Verunsicherung.
Was kann man tun, um die eigene Unsicherheit gut aushalten zu können?

Bracher: Dafür gibt es kein einfaches Patentrezept. Wichtig ist, sich seriös zu informieren. Man sollte der Versuchung widerstehen, zu viel und häufig im Internet zu recherchieren. Bei der Vielzahl an Informationen, die im Netz kursieren, ist es leicht, unseriösen Quellen aufzusitzen. Wir sollten uns nicht in trügerischer Sicherheit wiegen, genauso wenig aber auch in übertriebene Vorsicht verfallen. Das Robert Koch-Institut ist eine gute Adresse für seriöse, gut aufbereitete und verständliche Informationen.

Haben Sie noch eine letzte Empfehlung für uns?

Bracher: Eine Empfehlung, die gerade in Corona-Zeiten wieder an Aktualität gewinnt, ist die regelmäßige Praxis der Achtsamkeit. Achtsamkeits- und Entspannungsübungen wirken Ängsten entgegen, sie entschleunigen und lösen physische wie psychische Anspannung.

Lassen Sie uns auch auf die positiven Aspekte schauen, das Coronavirus individuell für uns haben kann. Wir verbringen mehr Zeit mit dem Partner/der Partnerin und den Kindern, kümmern uns mehr um Nachbarn, Freunde und Bedürftige. Und es ist so viel stiller geworden am Himmel und auf den Straßen. Auch das führt zu einer Reduzierung von Stress.

Wem das nicht hilft, dem lege ich noch ein Online-Angebot der Deutschen Depressionshilfe ans Herz: Die Organisation ermöglicht Menschen mit Depressionen einen Gratiszugang zum Online-Tool iFightDepression*.

Und natürlich können sich weiterhin alle, die unter einer akuten psychischen Krise leiden, an unsere Klinik wenden. Dafür sind wir da!

Informationen zum Umgang mit dem Coronavirus bei Vitos, finden Sie auf unserer Website [1].

*Das iFightDepression-Tool ist ein begleitetes, internetbasiertes Selbstmanagement-Programm für Menschen mit leichteren Depressionsformen, d. h. leichte bis mittelgradige Depressionen. Es richtet sich an Erwachsene und Jugendliche ab 15 Jahren und unterstützt Betroffene im eigenständigen Umgang mit den Symptomen der Depression.

 

[2]Zur Person: Dr. Thorsten Bracher studierte Medizin an der Frankfurter Goethe-Universität. Seine ärztliche Tätigkeit begann er 1994 an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Elisabethenstifts in Darmstadt. Über verschiedene Stationen im Rhein-Main-Gebiet, bei denen er als Oberarzt und leitender Oberarzt sowie als Chefarzt tätig war, kam er Anfang 2019 zu Vitos Rheingau und leitet seitdem die neu eröffnete Psychosomatik Eltville. Behandlungsschwerpunkte der Vitos Klinik für Psychosomatik in Eltville sind somatoforme Störungen (seelisch bedingte körperliche Beschwerden) sowie Depressionen, Angststörungen und Stressfolgeerkrankungen wie chronische Erschöpfung und Erschöpfungsdepressionen, Burn-out und Schlafstörungen.

Bildquelle: Vitos