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Unfreiwillig mitbestraft – oder was macht eine Giraffe im Maßregelvollzug?

Projekt Kinderpfade in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar

Wenn ein Elternteil in den Straf- oder Maßregelvollzug muss, hat dies meist folgenschwere Konsequenzen für die ganze Familie, insbesondere für die Kinder.

Bereits seit mehreren Jahren begegnet die Vitos Klinik für forensische Psychiatrie in Hadamar diesen Konsequenzen mittels intensiver Eltern-Kind-Arbeit.

In Deutschland sind schätzungsweise 100. 000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen (Coping- Studie: Children of Prisoners Europe, 2015).

Häufig sind Überforderung, Stigmatisierung, Isolation, Beziehungsabbrüche, Lernschwierigkeiten und Entwicklungsstörungen, aber auch Armut, Wohnort- oder Schulwechsel die Folge der Trennung vom inhaftierten Elternteil.

Es reicht ein Blick auf die Belegungszahlen der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar, um zu erkennen, wie wichtig es ist, sich mit der Thematik „Elternschaft im Maßregelvollzug“ auseinanderzusetzen. Zwischen 50 und 75 Prozent der Patientinnen sind Mütter, ca. 40 Prozent der Patienten sind Väter.

Im Juni 2023 stellten wir die Giraffe „Schorsch“ in Hadamar als Maskottchen für alle Besucherkinder der Öffentlichkeit vor. Sie soll den Kindern von Patientinnen und Patienten ihren Besuch in der Klinik erleichtern und sie von Ängsten und Unsicherheiten in der ungewohnten und beunruhigenden Umgebung ablenken.

Hintergrund dieser Neuerung ist ein ganzheitlicher Ansatz verbunden mit dem Ziel, sowohl den Patienten/-innen als auch deren Kindern Hilfe und Erleichterung in ihrer besonderen Lebenslage anzubieten.

Hintergrund – das Eltern-Kind-Projekt:

Im September 2018 begann ich meine Arbeit und rief das Eltern-Kind-Projekt in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie in Hadamar ins Leben (siehe dazu auch folgenden Artikel im Vitos Blog: https://blog.vitos.de/allgemein/eltern-sein-trotz-sucht-und-straffaelligkeit [1]).

Während der Erarbeitung eines Konzepts standen folgende Fragen im Vordergrund:

Ich betrachte es als meine wichtigste Aufgabe, den Patienten/-innen mit all ihren Ängsten und Schamgefühlen offen und vorurteilsfrei zu begegnen, ihnen zuzuhören und konkrete Hilfe anzubieten. Dabei erscheint es mir als äußerst wertvoll, sie dafür zu sensibilisieren, was die Kinder in ihrer Situation denken und fühlen. Wie verändert sich deren Leben? Ich ermutige die Eltern dazu, sich immer wieder in ihre Kinder hineinzuversetzen und mögliche Auswirkungen und Herausforderungen zu erkennen. Dabei können sie erkennen, was das Kind wirklich braucht und Kontakte dementsprechend gestalten.

Auch der Trennungsschmerz der Patienten/-innen, verbunden mit Trauer- und Schuldgefühlen, nimmt einen großen Raum innerhalb des Projekts ein. Sich selbst zu verstehen, die eigene Elternrolle zu reflektieren und sich Fehler aus der Vergangenheit zu verzeihen, macht den Umgang mit dem eigenen Kind leichter. Meist bringen die Eltern enorme Kompetenzen und Ressourcen im Umgang mit ihren Kindern mit, haben diese jedoch, aufgrund von Selbstvorwürfen und anderen Problemen, aus den Augen verloren. Die Erkenntnis, dass es nicht ausgeschlossen ist, trotz Sucherkrankung und Delinquenz eine gute Mutter bzw. ein guter Vater zu sein und sich an der Erziehung der Kinder beteiligen zu können, macht den Patienten/-innen Mut, an sich zu arbeiten und ihre Therapie abzuschließen.

Letztlich geht es darum, eine gute und tragfähige Beziehung zwischen den Eltern und deren Kindern herzustellen bzw. nicht abreißen zu lassen. Den Patienten/-innen Unterstützung bei dem Schreiben von Briefen oder dem Führen von (Video-) Telefonaten anzubieten und sie bei Kinderbesuchen in der Klinik zu begleiten, ist dabei genauso wichtig, wie gemeinsam mit ihnen und allen Beteiligten passende Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Im Bestfall entwickelt sich dadurch eine gesunde Beziehung auch über die Inhaftierung hinaus. Selbstverständlich hat das Kindeswohl immer oberste Priorität.

Ein weiteres Ziel des Eltern-Kind-Projekts ist, ein gesellschaftliches Bewusstsein für Eltern und Kinder in dieser besonderen Lebenslage zu schaffen und einen offeneren Umgang mit diesem Thema herzustellen. Gerade für die Kinder sind Geheimnisse und rätselhafte Fantasien über den Verbleib des Elternteils in den meisten Fällen schwerer auszuhalten als die Wahrheit.

Die Zusammenarbeit mit den Patienten/-innen wird in Form von Einzelgesprächen und regelmäßig stattfindenden Väter- und Müttergruppen organisiert. Die Vätergruppe leite ich gemeinsam mit meinem Kollegen Oliver Karl, der dank seiner langjährigen Erfahrung in der Klinik und seiner Bachelorarbeit über das Thema „Väter im Maßregelvollzug“ eine echte Bereicherung ist.

Aktueller Forschungsstand:

Im Rahmen meiner Recherche zu klinikinternen Verbesserungsmöglichkeiten für Besucherkinder in einer Forensik fiel auf, dass es keine wissenschaftlichen Studien gibt, die sich explizit damit befassen, mit welchen Herausforderungen die Kinder von Patienten/-innen im Maßregelvollzug konfrontiert sind. Auch Studien zum Thema „Kinder von Gefangenen in Justizvollzugsanstalten“ sind rar.

Eine von wenigen ist die von der EU-Kommission initiierte „Coping-Studie“ (Children Of Prisoners, Interventions and Mitigations to Strengthen Health). Der Auftraggeber ließ in der Zeit von 2010 bis 2012 in fünf europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, die körperlichen und psychischen Auswirkungen von Gefängnisaufenthalten der Eltern auf deren Kinder untersuchen. Erstmalig bezog man auch die Kinder in Form von Fragebögen mit ein. Das Ergebnis zeigt unter anderem, wie wichtig eine gute Kontaktqualität zum inhaftierten Elternteil für die Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit der Kinder ist. Ebenso ausschlaggebend für das Wohlbefinden der Kinder sind andere Unterstützungspersonen (Familienangehörige, Schule, Jugendhilfe, Vereine, JVA usw.) mit denen sie offen über ihre Gefühle sprechen können.

Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse wurden 56 Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft formuliert, die die Situation der Betroffenen verbessern könnten. Eine der Empfehlungen besagt, dass Gefängnis- und andere freiheitsentziehende Maßnahmen möglichst im Einklang mit dem Wohlbefinden des Kindes erfolgen sollten. Eine freundliche Atmosphäre sowie kindgerechte Besucherräume erachtete man dafür als dringend notwendig.

Bei der tiefergehenden Beschäftigung mit dem Thema begegneten mir gelungene Beispiele dafür, wie dieser Empfehlung bereits nachgekommen wird (unter anderem in der JVA Köln und in Strafanstalten in Dänemark und Italien).

Die Giraffe Schorsch:

Schorsch heißt die jungen Besucher/-innen Willkommen

Ich nutzte diese Beispiele und entwickelte Ideen, um auch in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie in Hadamar etwas zu verändern.

Eine Giraffe als Maskottchen, die die Kinder durch den gesamten Besuch begleitet, schien mir dafür genau richtig zu sein. Die hohen Mauern, Stacheldraht, Kameras und Detektoren machen den Kindern oft Angst und vermitteln ein bedrohliches Bild vom Inneren der Klinik. In den Kinderköpfen herrschen zum Teil skurrile und verschreckende Bilder aus den Medien und Erzählungen anderer Personen. Dagegen wollte ich angehen.

Die Idee hinter dem Giraffen-Maskottchen ist, dass dieser große Freund mit dem langen Hals und dem großen Herz bereits vor dem Besuch für die Kinder über die Mauern schaut. In Form eines Bilderbuches, das die Kinder schon vor ihrem ersten Besuch nach Hause geschickt bekommen, wird erklärt, was die kleinen Besucher erwartet. Wie sieht es in der Klinik aus? Wie gestaltet sich das Einlassprozedere? Wer arbeitet dort und wie läuft die Besuchszeit ab? Auf all diese Fragen gibt die Giraffe, die übrigens den schönen hessischen Namen „Schorsch“ trägt, Antworten.

Am Besuchstag begrüßt Schorsch die Kinder dann bereits am Eingang in Form eines großen Pappaufstellers. Ein buntes comicähnliches Plakat zeigt, wie die ersten Schritte in der Klinik aussehen werden.

Schorsch führt durch die Klinik

Anschließend bekommen alle Kinder ein Geschenk. Eine Tüte mit einem „Schorsch“-Malbuch, Buntstiften, Aufklebern und einem Kartenspiel soll den Kindern zeigen, dass sie willkommen sind. Gemeinsam mit Mama oder Papa können sie diese Sachen während des Besuches ausprobieren. Oft erleichtert dies auch den Einstieg in ein Gespräch.

Ab dem Detektor, durch den alle Besucher hindurchgehen müssen, entdecken die Besucherkinder Schorschs Hufabdrücke auf dem Boden. Wie bei einem Spiel werden sie dazu aufgefordert, den Spuren zu folgen, die sie in den Besucherflur bringen. Die Idee dahinter ist, sie vom Geräusch der Schlüssel und Türen aber auch von ihrer Nervosität abzulenken.

Auf dem gesamten Weg zu den Besucherräumen blickt Schorsch immer mal wieder in Form von Wandaufklebern um die Ecke und auch in jedem der sechs kindgerecht gestalteten Besucherzimmer findet sich die freundliche Giraffe wieder. Dort liegt auch ein Fotoalbum mit „schönen“ Bildern aus dem Inneren der Klinik auf dem Tisch. Da ein Rundgang im gesamten Gebäude nicht möglich ist, können Eltern ihren Kindern so ihren aktuellen Lebensmittelpunkt zeigen. Zu sehen sind ein Wohnraum, die Küche, ein Schlafraum, die Turnhalle und das Badezimmer. Unser Anliegen ist es, den kleinen Besuchern zu zeigen, dass Papa oder Mama hier gut aufgehoben sind, und dass sie nicht bei Wasser und Brot hinter Gitterstäben sitzen, wie es oft überspitzt in Fernsehsendungen gezeigt wird.

Liebevoll gestaltetes Besuchszimmer

 

Ein erstes Fazit:

Die ersten Erfahrungen sind durchaus positiv. Die Eltern berichten, ihre Kinder seien begeistert von Schorschs Empfang. Insbesondere die Erstbesuche der Kinder seien dank der Giraffe und den kleinen Geschenken nun insofern leichter, da mit ihnen ein Gesprächseinstieg möglich ist: Das Kartenspiel wird oft zur Auflockerung genutzt.

Nicht nur Schorsch, sondern auch das gesamte Eltern-Kind-Projekt sind inzwischen nicht mehr wegzudenken und fester Bestandteil der Therapiekonzepte. Es macht mir Freude, die Patienten/-innen auf ihrem Weg zu begleiten und dabei zu helfen, den Kontakt zu den Kindern aufrechtzuerhalten oder anzubahnen – wie gesagt, selbstverständlich permanent mit dem Kindeswohl im Blick.

Abschließend möchte ich mich bei meinen Kollegen und Kolleginnen sowie der Illustratorin Katharina Bußhoff und der Firma A&M Service aus Elz für ihre Unterstützung an diesem Projekt bedanken.

Wenn Schorsch auch Ihr Interesse geweckt hat, melden Sie sich gerne. Ich bin offen für Rückfragen und freue mich über jeden Austausch zu dem Thema.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie hier:

https://childrenofprisoners.eu/ [2]

https://www.netzwerk-kvi.de [3])