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Unsagbares in Worte fassen

Psychosomatische Therapie hilft, mit den Folgen von Missbrauch zu leben

Eine 56-jährige Patientin hat erlebt, was niemand erleben sollte. Mit den Folgen kämpft sie bis heute. In der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn hat sie viele Werkzeuge erhalten, um die Kontrolle über ihr Leben zu behalten.

Mit elf Jahren begann der Missbrauch, ausgeübt von einem Mann aus dem engen Verwandtenkreis. „Keine Vergewaltigung, aber mit antatschen und so.“ Die Patientin erzählt ihre Geschichte ruhig und wählt ihre Worte mit Bedacht. Dass das Erlebte ihr noch heute nahegeht, ist nicht erst dann klar, als ihre Augen sich mit Tränen füllen. Jahrzehnte nach dem Erlebten sagt sie selbst: „Wer hätte denn gedacht, dass der Missbrauch so viel nach sich zieht.“ Seit vielen Jahren kämpfe die Patientin mit Bulimia nervosa, auch bekannt als Ess-Brech-Sucht. Sie hat Kontrollverluste, in denen sie sich nach eigener Aussage als „ferngesteuert“ erlebt. Zwischenzeitlich ist sie abhängig von Alkohol gewesen, erzählt sie.

Ein langer Weg zu neuer Zuversicht

Seit 2013 lebt die sportliche Patientin abstinent. Sie geht zwar offen mit ihrer Geschichte um, findet aber bis heute noch nicht die Kraft, allen in ihrem Umfeld von ihren Erlebnissen zu berichten. Aber sie sagt „Ich kann das Ziel mittlerweile am Ende des Horizontes schemenhaft erkennen.“ Denn die Therapie in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn hat ihr die notwendigen Werkzeuge in die Hand gegeben, um mit ihren psychischen Beeinträchtigungen umgehen zu können. Auf vier Säulen ist diese neue Zuversicht gebaut, sagt sie: Ihre Söhne, von denen sie sich in jeder Situation unterstützt fühlt, ihre Psychotherapeutin, bei der sie zum ersten Mal den Mut hatte, über den Missbrauch zu sprechen, die Liebe ihres Lebens, die seit mittlerweile zwei Jahren an ihrer Seite ist und die Erkenntnisse aus der Therapie.

Es liegt ein langer Weg hinter der Patientin. Der Missbrauch begann im Alter von elf Jahren. Erst als dieser Mann aus beruflichen Gründen wegzog, ist die Patientin aus der unerträglichen Situation befreit gewesen. Sie hat sich niemandem anvertrauen können. Wenig später ist sie an einem Magen-Darm-Virus erkrankt. „Dadurch habe ich wohl gelernt, dass man durch Erbrechen innerlichen Druck abbauen kann.“ Trotz einer sich entwickelnden Bulimie hat sie eine qualifizierte Ausbildung absolviert und einen Mannschaftssport auf Niveau der zweiten Bundesliga gespielt. Bis sich die Sportlerin so schwer verletzte, dass ein Krankenhausaufenthalt notwendig war. Dort hat sie ihren späteren Ehemann kennengelernt. Die beiden haben schnell geheiratet und zwei Kinder bekommen. Im weiteren Verlauf prägte häusliche Gewalt die Beziehung. Sie ertrug alles und griff schließlich zur Flasche. „Bis zum Schluss bin ich geblieben. Als er unheilbar an Krebs erkrankt ist, habe ich ihn die Monate bis zu seinem Tod trotzdem gepflegt.“ Danach kamen der Zusammenbruch und der Entschluss, für sich zu kämpfen und mit professioneller Hilfe den Weg aus der Alkoholsucht zu suchen. Der Unterstützung der Söhne sicher, konnte sie gute Erfahrungen zulassen und eine abstinente Lebensweise beginnen. Doch ihre Essstörung und wiederkehrende Erinnerungen an ihr frühes Trauma mit psychovegetativen Störungen sind geblieben und beeinträchtigten ihre Lebensqualität weiter erheblich.

Reden ist der Anfang jeder Therapie

Im August 2016 brachten dann ein Sturz und seine Folgen die Patientin zu dem Punkt, an dem sie heute steht. „Ich hatte viel Zeit und habe beschlossen, mir weitere Hilfe zu suchen.“ Neben dem gestörten Essverhalten sowie den sich aufdrängenden Erinnerungen an früher und damit verbundener Unruhe, Anspannung, Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen litt die Patientin unter einer depressiven Stimmung, Hoffnungslosigkeit sowie starken Konzentrationsstörungen. Für häufiges Herzrasen, wiederkehrende Verdauungsbeschwerden und Schmerzen in verschiedenen Körperbereichen konnten im Vorfeld der Behandlung durch andere medizinische Untersuchungen keine Ursachen gefunden werden. Zwölf Wochen verbrachte die Patientin in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn. „Ich akzeptiere mich, meine Lebensgeschichte und die Bulimie jetzt mehr als früher, schäme mich nicht mehr so. Die Therapeuten haben mir die notwendigen Werkzeuge gegeben“, fasst sie ihre jetzige Situation zusammen.

„Die Zeit in der Klinik verging wie im Flug.“ Dabei haben ihr am meisten Therapien geholfen, „über die ich früher gelächelt hätte“. Musik- und Kunsttherapie sind ihr eindrücklich im Gedächtnis geblieben. Genauso die ganzheitliche Bewegungstherapie Eurythmie, die ihr half, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, wieder ein besseres Körpergefühl zu entwickeln und viel achtsamer mit sich umzugehen. Gemeinsam mit ihren Mitpatient/-innen ließ sie mit energischen Trommelschlägen dem Frust freien Lauf und wurde bei leisen Klängen melancholisch. „Wir konnten nie etwas falsch machen“, erzählt die Patientin. Während der Kunsttherapie hat sie zwischen zwei Oberthemen gewählt. Die Ergebnisse sind dann später im Gespräch mit der Psychotherapeutin analysiert worden. Bereits früher war Malen ein Hobby der Patientin. Durch die Therapie hat sie es für sich wiederentdeckt. Allmählich hat sich ihre Stimmung wieder verbessert, die Patientin konnte zur Ruhe kommen. Die Schlafstörungen, das Herzrasen und auch die Magen-Darm-Beschwerden sind abgeklungen. Ganz schmerzfrei ist die Patientin nicht. Sie sagt aber, dass sie den Ursprung der Schmerzen durch ein neu gewonnenes psychosomatisches Krankheitsverständnis besser versteht und weiß, was sie machen kann, um sich davon nicht ausbremsen zu lassen.

„In einer Nacht habe ich in einem realistischen Traum zum ersten Mal wieder alles durchlebt, was damals geschehen ist.“ Mit ihrer Psychotherapeutin konnte die Patientin durch unterschiedliche traumatherapeutische Techniken eine hilfreiche Durcharbeitung und Bewältigung der früheren Schrecken erfahren. Die Patientin konnte wieder viele positive Perspektiven entwickeln und Zuversicht gewinnen. Mit ihrem Partner hat sie einiges geplant, darunter auch einen Urlaub. Auf jedes dieser Ereignisse freut sie sich schon jetzt sehr. Wer Ähnliches wie sie erlebt hat, dem empfiehlt sie: „Reden ist der Anfang jeder Therapie.“

Schwerwiegende Erlebnisse können manche Menschen emotional so sehr belasten und zu einer so tiefgreifenden psychosomatischen Verletzung führen, dass sie eine anhaltende Stressreaktion auf traumatische Lebenserfahrungen entwickeln (sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung, Traumafolgestörung). Diese Stressreaktion kann sich in verschiedenen Symptomen ausdrücken, beispielsweise wiederkehrenden Erinnerungen, Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, Reizbarkeit, starken Anspannungszuständen, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden, Schmerzen und sozialem Rückzug. In der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn [1] erhalten Patient/-innen Unterstützung dabei, wieder psychische Stabilität zu erlangen, psychosomatische Zusammenhänge zu verstehen, mit Symptomen besser umzugehen und negative Gefühle und Spannungen zu regulieren. Sie lernen, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und ins eigene Leben zu integrieren. Dadurch werden die Patient/-innen in die Lage versetzt, wieder Zukunftsperspektiven zu entwickeln und mehr Lebensqualität und –zufriedenheit zu verspüren.