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„Unsere Aufgabe ist es, Delikte zu verhindern“

Arbeiten in der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz Hessen

Wer in der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz (FPA) Hessen arbeitet, hat eine fordernde, verantwortungsvolle Aufgabe: Die ambulante Therapie von Menschen, die nicht nur psychisch krank, sondern auch straffällig geworden sind.  „Das wichtigste Ziel unserer Arbeit ist es, Delikte zu verhindern“, sagt Heiko Müller. Der Psychologische Psychotherapeut arbeitet am Standort Gießen der Vitos FPA Hessen. Wie die Balance gelingt, einerseits für die Erkrankten da zu sein und andererseits die Gesellschaft vor Straftaten zu schützen, berichtet er in diesem Beitrag.

Unsere Ambulanz [1] behandelt hessenweit etwa 350 Menschen, die unter sogenannter Führungsaufsicht stehen. Das sind in erster Linie Patientinnen und Patienten, die aus einer Maßregelvollzugsklinik entlassen wurden. Wir übernehmen dann die Nachsorge. Auch Erkrankte, die zwar eine Straftat begangen haben, bei denen das Gericht aber keine Unterbringung in einer Klinik angeordnet hat, können unter Führungsaufsicht stehen und werden dann von uns ambulant behandelt.

Heiko Müller arbeitet seit 2008 für die Vitos FPA Hessen.

Darunter sind auch immer einige Patient/-innen, die sich in einer Entlassungserprobung befinden. Das ist eine Maßnahme zur Vorbereitung auf die Entlassung aus einer forensischen Psychiatrie. Sie dauert in Hessen in der Regel sechs Monate. Während dieser Zeit halten sich die Patientinnen und Patienten bereits außerhalb der Klinik auf und beginnen damit, ein selbstständiges Leben zu führen. Als Ambulanz steigen wir in dieser Zeit in die Behandlung der Klinik mit ein und beginnen mit dem Aufbau der therapeutischen Beziehung, um den Übergang in die Führungsaufsicht zu erleichtern. Das geschieht in enger Abstimmung mit der jeweiligen verantwortlichen Klinik.

Wir behandeln hessenweit auch etwa 200 psychisch Erkrankte, die nicht, noch nicht oder nicht mehr unter Führungsaufsicht stehen. Für ihre Therapie bei uns muss es allerdings gute Gründe geben, denn wir sind ja eine Spezialambulanz. Manchmal sind das ehemalige Patienten oder Patientinnen, die wir weiterbehandeln oder erneut aufnehmen. Manchmal sind es auch psychisch Erkrankte, die zu Gewalt neigen. Sie werden an uns überwiesen, weil wir ihnen ein spezialisiertes Behandlungsangebot machen können.

Die Mehrzahl unserer Patienten ist männlich

Wir behandeln nur wenige Frauen, mehr als 90 Prozent sind Männer. Das sind Verhältnisse wie im Strafvollzug. Zwei Drittel leiden an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Außerdem behandeln wir Patienten und Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzminderungen, affektiven und organisch bedingten psychischen Störungen. Zwei von drei Patient/-innen haben außerdem einen Missbrauch oder eine Abhängigkeit von Alkohol und/oder Drogen in ihrer Krankengeschichte. Die typischen Delikte, die unsere Patient/-innen begangen haben, sind schwere Gewalttaten, wie Körperverletzungen oder Tötungsdelikte aber auch Brandstiftungen und Sexualdelikte.

Für unsere Ambulanz arbeiten hessenweit sieben Teams an fünf Standorten. Zu den einzelnen Teams gehören Pflegekräfte, (Fach-)Ärzt/-innen, Psycholog/-innen,  Psychotherapeut/-innen, aber auch Erzieher/-innen, Sozialarbeiter/-innen, Heilerziehungspfleger/-innen, Ergotherapeut/-innen und medizinische Fachangestellte. Wir sind viel unterwegs, weil wir die Patienten und Patientinnen häufig in ihrem Umfeld aufsuchen: Wir treffen sie Zuhause oder an ihrem Arbeitsplatz. Auf diese Weise bekommen wir einen guten Eindruck davon, wie sie im Alltag zurechtkommen und haben einen schärferen Blick auf die Risiken. Manche leben in einem Wohnheim oder in einer Einrichtung des Betreuten Wohnens, manche arbeiten in einer Reha-Werkstatt. Mit den Kolleginnen und Kollegen dieser Einrichtungen stehen wir in engem Austausch, um uns ein möglichst umfassendes Bild von den Patienten und Patientinnen machen zu können.

Großer Teil der Arbeit: Die Risikobewertung

Das wichtigste Ziel unserer Arbeit ist es, Delikte zu verhindern. Wir sind verpflichtet zu handeln, wenn sich der Zustand eines Patienten oder einer Patientin verschlechtert und ein Risiko besteht, dass er oder sie beispielsweise gewalttätig wird. Bei jedem Kontakt mit dem Patienten oder der Patientin vergleichen wir die individuellen Risikofaktoren mit der aktuellen Situation und stellen eine Prognose: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie unter den bestehenden Umständen gefährlich wird? Diese Prognose erstellen wir für den Zeitraum bis zum nächsten Treffen, in aller Regel für die nächsten 10 bis 14 Tage. Sollte die Situation zu unklar sein, erhöhen wir die Kontaktfrequenz.

Für die Risikobewertung nutzt die FPA Hessen eine Ampel.

Für die Risikobewertung nutzen wir eine Ampel. Steht die Ampel auf Grün, kann die Behandlung normal fortgesetzt werden. Nehmen wir eine bedenkliche Veränderung war, ist der Patient oder die Patientin beispielsweise auffallend nervös oder fahrig, springt die Ampel auf gelb. Wir erhöhen dann zum Beispiel die Behandlungsfrequenz, suchen den Patienten oder die Patientin also häufiger auf, nehmen medikamentöse Veränderungen vor oder reduzieren Stressoren, also Reize, die Stress verursachen können. Springt die Ampel auf Rot, müssen wir sofort handeln. In der Regel bedeutet das, dass der Patient oder die Patientin stationär behandelt werden muss.

Schwierige Balance: Vertrauen einerseits, Kontrolle andererseits

Unsere Arbeit ist immer ein Balanceakt. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es erforderlich, dass die psychisch Erkrankten freiwillig mitwirken. Das setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient/-in und Behandler/-in voraus. Andererseits besteht unsere Arbeit eben auch aus der Kontrolle der Patient/-innen. Wir führen beispielsweise regelmäßig Drogentests durch. Und unseren Patient/-innen ist klar, dass sie mit Sanktionen rechnen müssen, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Dieses Spannungsfeld prägt unsere Arbeit. Und wir müssen gegenüber den Patienten und Patientinnen stets klar und transparent innerhalb unserer jeweiligen Rolle agieren. Manchmal können wir es nur auflösen, indem wir uns aufteilen: Ein Teammitglied übernimmt die therapeutische Behandlung, ein zweites führt die Kontrollen durch. Oder der Part der Kontrolle kann auf die obligate Bewährungshilfe ausgelagert werden.

Die Therapie unserer Patientinnen und Patienten

Unsere Patientinnen und Patienten sind psychisch schwer krank, häufig chronisch, mit mehreren Störungen und langer Krankengeschichte. Unsere ambulante Therapie ist multimodal und auf ihre Bedürfnisse angepasst. Sie umfasst die medikamentöse Behandlung, Psychoedukation, Soziotherapie und Psychotherapie im weiteren und engeren Sinne. Außerdem sind wir auf eine deliktspezifische Kriminaltherapie spezialisiert. Hierfür ist es wichtig, die Krankengeschichte und Biografie sehr gut zu kennen. Wir analysieren sehr sorgfältig, welche Umstände beispielsweise zur Gewalttätigkeit führen und erstellen ein individuelles Delinquenzmodell. Gewalt kann verschiedene Formen und Ursachen haben. Wir müssen also immer sehr genau betrachten, wann welcher Patient in welcher Form gefährlich werden könnte und welche Therapie vor diesem Hintergrund die geeignete ist. Einfach gesagt: Ein Patient, der emotional instabil ist und deshalb zu impulsiven, gewalttätigen Ausbrüchen neigt, benötigt eine ganz andere Therapie als ein schizophrener Patient, der auf Wahnvorstellungen mit Gewalt reagiert.

Die FPA Hessen arbeitet sehr erfolgreich. Die allermeisten Patientinnen und Patienten beenden ihre Nachsorge, ohne erneut straffällig zu werden. Das liegt zum einen sicherlich an unserem therapeutischen und kriminalpräventiven Ansatz. Zum anderen liegt es an den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen: Wir sind gut ausgestattet, zum Beispiel mit Dienstwagen. Und wir haben zeitliche Ressourcen, denn für jeden Einzelkontakt können wir uns mehr Zeit nehmen, als es in der allgemein-psychiatrischen Versorgung üblich ist. Außerdem bieten wir über die lange Dauer der Führungsaufsicht auch langfristig eine stabile Beziehung zwischen Patient/-in und Therapeut/-in. Stehen die Patienten unter Führungsaufsicht, dauert die Behandlung bei uns in der Regel fünf Jahre. Diese langfristige, konsequente Behandlung trägt dazu bei, dass die Patienten nur sehr selten rückfällig werden.

Die Arbeit in der FPA Hessen: Erfüllend und vielseitig

Ursprünglich war es für mich schwer vorstellbar, in der forensischen Psychiatrie zu arbeiten. Das hat sich eher zufällig ergeben, weil ich nach meinem Studium als Betreuer in einem Wohnheim arbeitete, in dem auch forensische Patient/-innen lebten. Der Wechsel war dann irgendwann naheliegend.

Inzwischen kann ich sagen: Ich habe einen spannenden und zufriedenstellenden Beruf. Meine Arbeit in der Vitos FPA Hessen empfinde ich als sehr erfüllend. Wir arbeiten sehr nah an den Patient/-innen und können viel für sie erreichen. Fachlich arbeiten wir auf sehr hohem Niveau. Wir sind gut vernetzt mit anderen Institutionen und Einrichtungen, was einen gewinnbringenden Austausch mit den dortigen Kolleginnen und Kollegen bedeutet.

Ich verstehe, dass es Nachwuchskräften schwerfällt, sich für die forensische Psychiatrie zu entscheiden. Wir arbeiten mit Menschen, die schon einmal Täter beziehungsweise Täterin geworden sind. Auch wenn wir deren Taten verurteilen, ist es wichtig, nicht die Person in Gänze zu verurteilen – diese Haltung zu entwickeln, ist nicht immer ganz leicht. Außerdem bringt unsere Arbeit natürlich eine hohe Verantwortung mit sich. Die Vorstellung, dass ein Patient oder eine Patientin wieder ein Delikt begeht, kann belastend sein und zu Stress führen. Allerdings werden schwerwiegende Entscheidungen immer im Team getroffen, sodass wir für alle Beteiligten viel Sicherheit gewährleisten können.

Kurzum: Ich kann die Arbeit in der forensischen Psychiatrie sehr empfehlen.

Zum Autor: Heiko Müller ist Psychologischer Psychotherapeut sowie Gesundheits- und Krankenpfleger. Er arbeitet seit 2008 für die FPA Hessen und seit 2010 am Standort Gießen.

Zum Hintergrund: FPA Hessen

Die Vitos forensisch-psychiatrische Ambulanz (FPA) Hessen [2] übernimmt die ambulante Nachbetreuung von Patientinnen und Patienten, die aus einer Vitos Klinik für forensische Psychiatrie (KFP) entlassen worden sind. Außerdem betreut sie Patient/-innen während einer Dauerbelastungserprobung. Das ist eine Maßnahme, bei der sich die Patient/-innen zur Vorbereitung auf ihre Entlassung über einen längeren Zeitraum außerhalb der Klinik in relativer Selbstständigkeit bewähren.

Für die Vitos FPA Hessen (§ 63 StGB) arbeiten spezialisierte Fachkräfte in sieben Teams an den Standorten Haina, Kassel, Gießen, Schotten und Wiesbaden.

Die Vitos FPA Hessen ist spezialisiert darauf, bei ihren Patienten individuelle Risiken einzuschätzen, sie zu beurteilen und zu bewerten. Sie arbeitet sehr erfolgreich: Seit ihrer Gründung hat sie über 2.000 ehemals stationär untergebrachte Patient/-innen des Maßregelvollzugs behandelt. Die meisten beendeten die Nachsorge, ohne erneut straffällig zu werden. Lediglich 3,8 Prozent (79 Patient/innen in 32 Jahren) sind während der Nachsorgebehandlung erneut straffällig geworden. Nur 1,7 Prozent (34 Patienten) wurden zu einer Haftstrafe oder neuerlichen Maßregel verurteilt.

Die Vitos FPA Hessen arbeitet sehr erfolgreich: Lediglich 79 Patient/-innen sind in 32 Jahren während der Nachsorgebehandlung erneut straffällig geworden. Davon wurden nur 34 Patienten zu einer Haftstrafe oder neuerlichen Maßregel verurteilt.