- Vitos Blog - https://blog.vitos.de -

Unterzeichnet: Der Direktor

Gedenken zum ersten September – die Geschichte von Maria Schreiner

Jedes Jahr am 1. September erinnert Vitos an die Opfer der NS-Krankenmorde. Eine von ihnen ist Maria Schreiner. Sie wurde 1944 in einer Einrichtung ermordet, die heute von Vitos betrieben wird. Grund für ihre Ermordung war, dass Maria Schreiner den „Rasse“-idealen und dem Nützlichkeitsdenken des NS-Regimes nicht entsprach. Die als „Euthanasie“ bezeichnete systematische Tötung von behinderten und psychisch kranken Menschen, die mit Blick auf die Adresse der Berliner Verwaltungszentrale später „Aktion T4“ genannt wurde, nahm ihren Anfang im Jahr 1939.

Der folgende biografische Text entstand auf der Basis der Krankenakte von Maria Schreiner. Die dort verwendete Sprache spiegelt vielfach die menschenverachtende Haltung der Ärzte und des Pflegepersonals wider, die Diagnosen wurden nach heutiger Erkenntnis willkürlich und zum Teil bewusst falsch erstellt. Sie dienten dazu, die menschenunwürdige Behandlung und Ermordung der Patientin zu rechtfertigen.

„Bitte sind Sie so gut und schicken Sie meine Frau sofort ab. Für die Logiskosten meiner Frau bezahle ich.“ Robert Schreiner schreibt diese Zeilen am 28. November 1938 an den Direktor der Landesheilanstalt Hadamar. Er ist verzweifelt, ohne seine Frau Maria funktioniert zu Hause mit den fünf Kindern nichts. Maria, ein Foto zeigt sie: Ihr Gesichtsausdruck spiegelt ein einziges „Ach“, ein fragender Blick, einer, der von Kummer spricht. Ein weiches, fülliges Gesicht mit Stupsnase, eingerahmt von dunklem Haar, kinnlanger Pagenschnitt. Um die Schultern gelegt ein kariertes Tuch mit Fransen. Gutmütig sieht sie aus. Seit einigen Monaten lebt sie in der Anstalt, Diagnose: Schizophrenie.

Maria Schreiner

Ihr Mann hofft auf Besserung, auf die baldige Heimkehr der Frau, doch die Antwort ernüchtert: „Ihre Frau ist äusserst stumpf und gleichgültig. Ab und zu beschäftigt sie sich mit einfachen Arbeiten. Mit ihrem Aeusseren ist sie unsauber und nachlässig. Irgendwelche Teilnahme oder gemütliche Aeusserungen zeigt sie nicht.“ Unterzeichnet: Der Direktor.

Für die Familie Schreiner folgt eine lange Leidenszeit. Dabei schien in ihrem Leben alles ganz normal. Mit 24 Jahren heiratet Maria 1927 den drei Jahre älteren Robert Schreiner. Sie bekommt Kinder, ihr Mann arbeitet. Doch während ihrer fünften Schwangerschaft 1937 mischt sich der Staat in das Familienleben ein. In einem Schriftwechsel geht es um die „Unfruchtbarmachung“ ihres Mannes, der wegen angeborenen Schwachsinns bereits am 10. August1937 „unfruchtbar gemacht“ worden sei. Maria Schreiner entgeht der bereits beschlossenen Sterilisation nur, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt im Januar 1938 im siebten Monat schwanger ist.

Doch mit der Geburt des fünften Kindes bricht das Leben der Familie gänzlich auseinander. Maria Schreiner ist nicht mehr sie selbst. Sie kommt nach Hadamar. Ihr Ehemann Robert ist fortan für die fünf Kinder alleine verantwortlich. Seine Frau fehlt ihm an allen Ecken und Enden. So sehr, dass er sich im April 1939 entschließt, ein Kind zur Adoption frei zu geben. Der Notar ist bemüht, die Einwilligung der Mutter einzuholen. Doch aus Hadamar heißt es: „Frau Maria Schreiner […] ist wegen geistiger Störung (Schizophrenie) zur Abgabe von Willenserklärungen nach menschlichem Ermessen dauernd ausserstande.“

Im August 1939 wird Maria Schreiner in die Landesheilanstalt Herborn verlegt mit ihrer ganzen Habe: ein Sommerkleid, ein Winterkleid, ein Unterrock, ein Hemd, ein Paar Strümpfe, zwei Taschentücher, ein Paar Schuhe, ein Beinkleid, ein Mantel. Persönliches? Braucht der Mensch in der Anstalt nicht zum Überleben. Robert Schreiner schreibt im November 1939, schwarze Tinte auf Papier, Sütterlin, die Rechtschreibung unsicher: „Ich bin Vamielenvater von vier Kinder, habe einen alten Vater u. eine alte Mutter bei mir u. habe keine Hilfe.. u. mit andern Leute einzustellen das wird mir zu deuer.“ Die Frau fehlt vor allem als Arbeitskraft zu Hause. Wieder die Bitte, zu antworten, verknüpft mit der Hoffnung auf Besserung – und dass mit der Rückkehr der Frau der Alltag leichter würde: „wird meine Frau noch einmal gesund oder nicht? Der Homburger Arzt meinte in einem halben Jahr könnte sie wieder hergestellt sein.“ Doch mit der Antwort stirbt der letzte Funken Hoffnung auf Genesung: Ein Brief der Frau liege bei, der zeige, dass sie noch sehr verwirrt sei und keinen zusammenhängenden Gedankengang habe. Eine Aussicht auf Besserung bestehe nicht, sie zeige kein Interesse an ihrer Umgebung und auch nicht an der Familie, sodass ein Aufenthalt in der Familie für absehbare Zeit ausgeschlossen sei. Im Jahr darauf, im August 1940, fragt ihr Mann erneut an: „Ich lebe in meiner Familie allein mit drei kleine Kinder und arbeite in der Grube. Oder soll die Nervenkrankheit auf ewig dauern. Bitte sind sie mal so gut und schreiben sie mal“. Drei kleine Kinder, müssten es nicht vier sein? Warum es nur noch drei sind, bleibt ungewiss.

Patientenbeobachtungen gibt es keine, die erzählen könnten, wie Maria Schreiner lebt, was sie sagt, was sie macht. Nur einige offizielle Schreiben dokumentieren die Übernahme der Pflegekosten „für bezirkshilfsbedürftige Kranke“. Ihr Mann weiß zwischenzeitlich nicht einmal mehr, wo sie sich aufhält. Er fragt im Februar 1941 in Herborn nach, ob sie sich dort befinde. Noch ist sie dort, sie verlässt Herborn erst im Juli, als das Gebäude von der Wehrmacht als Lazarett für verwundete Soldaten von der Ostfront benötigt wird. Maria Schreiner kommt in die Landesheilanstalt Weilmünster, die bis Mitte 1941 „Zwischenanstalt“ für die Todeskandidaten ist, die in Hadamar ermordet werden. Zwei weitere Jahre verbringt sie in Weilmünster, bis sie am 16. Juli 1943 tatsächlich entlassen wird „zum Ehemann nach Stennweiler“. Die Hoffnungen von Robert Schreiner auf Unterstützung im Alltag erfüllen sich nicht. Im Gegenteil, Maria ist eine Last. Schon sechs Wochen später nimmt Weilmünster sie wieder auf. Dieses Mal ist ihre Widerstandskraft gegen das Anstaltsleben nicht stark genug. Nun heißt es nicht länger, sie sei körperlich in guter Verfassung. Am 10. Mai 1944 erhält ihr Ehemann ein Schreiben: „Der Gesundheitszustand Ihrer Ehefrau, Maria Schreiner, geboren am 3.4.1903, hat sich in den letzten Tagen derart verschlechtert, dass er zu ernsten Befürchtungen Anlass gibt. Besuch ist an einem beliebigen Tage gestattet.“ Ob Robert Schreiner seine Frau noch einmal lebend gesehen hat? Am 3.7.1944 ergeht ein Telegramm an ihn: „Ehefrau verstorben. Beerdigung Donnerstag 14.15 Uhr.“

Der Tod seiner Frau lässt ihm auch viele Jahre später keine Ruhe. An ihrem 30. Todestag schreibt Robert Schreiner, immer noch wohnhaft in Stennweiler, mit Kugelschreiber in Sütterlin an die Landesheilanstalt Weilmünster. Er bittet „hochachtungsvoll“ um die Krankenakte seiner Frau, die er seinem Hausarzt zeigen möchte. Und erhält mit Datum 4. November 1974 zwei nüchterne Zeilen zurück: „Wie aus unseren Unterlagen ersichtlich, hat es sich bei Ihrer verstorbenen Frau um eine Schizophrenie gehandelt. Mit freundlichem Gruss! Der Direktor.“

Bildquellen: Bettina Müller (Foto Heppenheimer Gedenkplatte im Titel)
Archiv des LWV Hessen (Foto Maria Schreiner)

Der vorliegende Beitrag ist der Broschüre „Geschichte und Gedenken“ entnommen, die Vitos gemeinsam mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen herausgegeben hat. Die Broschüre beschreibt auf 100 Seiten, wie heutige Vitos Einrichtungen in der Zeit von 1933 bis 1945 in das System der Diskreminierung und Ermordung von kranken und behinderten Menschen eingebunden waren. Die Broschüre sowie weitere Informationen zur Gedenkarbeit bei Vitos finden Sie hier auf unserer Website [1].