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Verschieden und doch verbunden!

Ein Patient aus dem Maßregelvollzug berichtet

Menschen aus über 30 Nationen leben gemeinsam und friedlich auf engstem Raum. Ist das überhaupt möglich? Ich, war mir sicher, dass dem so nicht ist. Nicht, wenn man schaut was in der Welt so los ist.

In der forensischen Klinik in Hadamar leben Menschen aus über 30 Nationen unter einem Dach. Sie sind verschieden und doch verbunden durch das gemeinsame Ziel, ein drogen- und straffreies Leben zu führen. Engagierte Mitarbeiter/-innen haben kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine das Flaggenprojekt ins Leben gerufen. Alle Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund haben eine Fahne ihres Heimatlandes auf Stoff gemalt. Die Ergotherapie nähte sie zu einer großen Patchworkfahne zusammen. So zeigen sowohl Mitarbeitende als auch Patient/-innen der Klinik Flagge für ein friedliches Miteinander und bekennen sich zu Demokratie und Frieden in dieser Welt.

Wir geben einem Patienten das Wort, der einen Erfahrungsbericht zu diesem Projekt geschrieben hat:

Ich war mir sicher, dass ich mich in ein Umfeld begebe, wo Streitereien und Konflikte genauso oft vorkommen wie im Fußball die gewonnenen Meisterschaften des FC Bayern München. So viele Charaktere aus so vielen Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da sind verschiedene Glaubensrichtungen, andere Lebensweisen und Mentalitäten sowie abweichende Moral- und Wertvorstellungen. Einige kommen aus Ländern, die sich genau aus diesen Gründen, in kriegerischen Konflikten gegenüberstanden oder es immer noch tun. Na supi dachte ich mir, das sind keine guten Voraussetzungen für ein gemeinsames Miteinander beziehungsweise Auskommen.

Wie sieht die Wirklichkeit aus?

Ich bin seit 25 Monaten Patient in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar. Das waren 25 Monate voller ungläubigen Kopfschütteln und Unverständnis, aber in vielerlei Hinsicht auch, was ich zugegeben zu Anfang wirklich nicht gedacht hätte, anerkennender Bewunderung. Ich bin deutscher Staatsbürger und hatte früher kaum was mit Menschen anderer Herkunft zu tun. Mein Wissen war beschränkt. Bezog es sich doch meist auf oberflächliches Allgemeinwissen der Länder, aber nichts von Kultur oder Glaubensrichtungen, die dort vorherrschen.

Die Anfangszeit war schwer, muss ich zugeben. Mehr als einmal wurde es dabei laut. Mal prallten verschiedene Sprachen oder die länderbezogene Musik aufeinander und mal die sehr stark abweichenden Essensgewohnheiten. Es gab so manches, was mir nicht geheuer war.

Da ist doch mehr Gemeinsames als das, was uns unterscheidet

Nach einiger Zeit musste ich aber feststellen, dass wir ja gar nicht so unterschiedlich sind, wie ich zuerst annahm. Im Gegenteil, da ist doch mehr Gemeinsames als das, was uns unterscheidet. Damit meine ich nicht nur den Grund, der uns allen den Aufenthalt hier bescherte. Wir alle haben die gleichen Probleme oder zu mindestens doch ähnliche. Wie müssen alle durch das gleiche Therapieprogramm. Teilen alle die gleichen Sorgen und Ängste. Wir alle haben eine Familie, die uns fehlt. Haben Mutter und Vater sowie Geschwister. Einige haben Frau und Kind und andere wiederum eine Freundin oder Lebenspartnerin.

Die Corona Pandemie mit all ihren negativen Auswirkungen, sie ging in den letzten zwei Jahren an keinem hier im Haus spurlos vorbei. Um uns das Zusammenleben nicht noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon war, waren wir alle angehalten, noch etwas näher zusammen zu rücken. Wir wohnen hier schließlich in einer Gemeinschaft. Wir arbeiten gemeinsam in verschiedenen Werkhallen zusammen. Lernen gemeinsam in der Schule und geben gelerntes jedweder Art weiter. Hin und wieder, eigentlich des Öfteren, verbringen wir auch mal unsere Freizeit zusammen. Die unsichtbaren Grenzen der Herkunft lösten sich dabei komplett auf. Spätestens da war es auch mir im Grunde völlig egal, wer woher kam und was er getan hatte.

Klingt so, als hätte ich Vorurteile gehabt, oder? Die hatte ich auch. Doch die sind nun fort! Hin und wieder schaue ich mir auch mal etwas von ihnen ab. Patienten aus über einem Dutzend Nationen inspirieren und unterstützen mich unter anderem dabei, neue Speisen zu kochen und altbekannte auf neue Art zu zubereiten. Ich verarbeite dabei Zutaten und Gewürze, die ich nie zuvor in der Küche verwendet habe – mit Erfolg! Gandhi hätte für eins meiner Essen seine Fastenzeit unterbrochen 😉

Auch fiel mir hier und da auf, wie herzlich und körperlich sich doch manche Patienten begrüßen. Auch dann wenn die letzte Begegnung grade mal einen Tag her war. Eine Innigkeit, wie sie meist nur bei Familien vorkommt, die mit drei oder vier Generationen gemeinsam unter einem Dach leben. Das kommt in unserem Land leider kaum noch vor. Das ist nur eines der Dinge, die ich beneidenswert finde. Wenn ich ehrlich bin, habe ich vieles an anderen Kulturen entdeckt, was unser aller Leben bereichern könnte. Ja so kann es gehen!!!

Ein Miteinander ist jederzeit möglich

Jetzt im Nachhinein kann ich mit Bestimmtheit behaupten, ein gemeinsames Miteinander so verschiedener Menschen und Kulturen wird nie völlig reibungslos verlaufen. Es ist aber dennoch jederzeit, auch unter erschwerten Bedingungen, möglich. Besonders dann, wenn man sich einer gemeinsamen Hürde gegenübersieht. Mit Blick auf die derzeitige Krise in Europa und besonders darauf, wie diese Menschen mit der Krise umgehen, ist das eine Behauptung, die wohl nicht übertrieben ist. Die große Nationen-Flagge, die Patienten aus eben diesen Nationen in mühevoller Kleinarbeit geschaffen haben, ist unser Symbol für Gemeinschaft und Solidarität. ALLE Nationen die auf dieser Flagge abgebildet sind, haben keine Abgrenzung. Sie laufen alle übergangslos ineinander und bilden so eine Einheit. Sind verschieden und doch verbunden. Das ist unsere Gemeinschaft. Obwohl wir derzeit keinen Mitpatienten haben, der aus der Ukraine kommt, haben wir dennoch die Farbe dieser Nation eingefügt. Wir taten das aus Verbundenheit und Solidarität.

Das Wenigste was wir tun können!

Nationalitäten auf der Flagge: