Beteiligte Berufsgruppen berichten von ihren Erfahrungen
Wenn Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation sind, vielleicht sogar trotz ärztlicher Behandlung und ambulanter Therapie, bleibt meist nur eine stationäre Aufnahme in die Klinik. Patient/-innen des Vitos Klinikums Kurhessen können zuhause bleiben und werden trotzdem behandelt.
Was offiziell Stationsäquivalente Behandlung – kurz StäB – heißt, wird durch die Bezeichnung des Angebotes Vitos Behandlung Zuhause auf den Punkt gebracht: Ein Team aus ärztlichem Personal, Pflegekräften, Mitarbeitenden aus Psychotherapie, Ergo- und Sozialtherapie kommt zu den Patienten. Ein Behandlungsplan regelt, wer wann vor Ort ist. Behandelt wird auch an Wochenenden und Feiertagen.
Wo liegen die Unterschiede zwischen einer Behandlung auf Station in der Klinik und im häuslichen Umfeld? Das haben wir Vertreter verschiedener Berufsgruppen gefragt.
Dr. Rainer Holzbach, Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal und Melsungen, Leitender Arzt – Behandlung Zuhause
Der größte Unterschied für mich: Die Behandlung findet in der Lebensrealität der Patientinnen und Patienten statt, in deren häuslichen Umfeld. In vielen Fällen ermöglicht das überhaupt erst eine Behandlung, beispielsweise, wenn sich der Patient/die Patientin um Kinder kümmern oder Haustiere versorgen muss. Ohne Behandlung Zuhause hätte er bzw. sie sich wahrscheinlich gar nicht therapieren lassen. Der Aufenthalt in der Klinik entspricht nicht dieser Lebensrealität.
Lebensrealität des Patienten
Ein weiterer Vorteil: Wir können die Ressourcen viel besser nutzen. Das beginnt bei der Angehörigenarbeit, die wesentlich besser umsetzbar ist, weil uns auch die Angehörigen in ihrem normalen Umfeld begegnen. Die Belastung durch ein ungewohntes Umfeld, wie in der Klinik und möglicherweise zusätzliche zwischenmenschliche Probleme entfallen.
Der Behandlungsansatz ist systemisch. Es finden bei Bedarf Netzwerkgespräche statt, und gegebenenfalls wird die Familie mit einbezogen.
Wir können die Probleme des Patienten vor Ort angehen, ohne ein Gedankenkonstrukt, ganz praktisch. Beispielsweise müssen wir Patienten nicht gedanklich auf einen Behördengang vorbereiten, wir können sie direkt dorthin begleiten.
Bei der Behandlung Zuhause verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Wir begegnen dem Patienten/der Patientin in dem Umfeld, in dem auch die Krankheit entstanden ist. Diesen Prozess können wir somit besser verstehen. Gleichzeitig können wir die Therapie besser anpassen.
Unterschiedliche Teamstrukturen
Im multiprofessionellen Team gibt es bei Behandlung Zuhause weniger spontanen Austausch als auf Station, weil man sich nicht ständig sieht. Dafür ist dieser gebündelt durch tägliche Teambesprechungen und multiprofessionelle Konferenzen.
Die Mitarbeitenden schätzen die Eigenständigkeit ihrer Arbeit bei Behandlung Zuhause. Dabei sind alle Teammitglieder in vorhandene Strukturen eingebunden. Die Behandlung orientiert sich an Leitlinien. Das Team hat regelmäßig Kontakt zu Fachärzten, die an der Behandlung beteiligt sind.
Behandler-Team als Gäste
Die Patienten erleben die Behandlung Zuhause als Gewinn. Die Begegnung mit dem Team ist eine andere als in der Klinik. Sie sind quasi Gastgeber, die Behandler sind Gäste in deren Haus, und oft erlebt das Team eine ausgeprägte Gastfreundschaft.
Die Begegnung erfolgt mehr auf Augenhöhe als in der Klinik, wo die einzelnen Berufsgruppen zunächst fachlich überlegen scheinen, aber naturgemäß kaum einen Einblick in das häusliche Umfeld haben. Der direkte Bezug zur Lebensrealität der Patientinnen und Patienten erleichtert es, sich aktuellen krankheitsrelevanten Alltagsthemen zu nähern.
Gleichzeitig hat der Patient auch während der Behandlung Zuhause die Möglichkeit, verschiedene therapeutische Angebote in der Klinik zu nutzen, wie etwa Gruppentherapien.
Patienten bei Behandlung Zuhause sind absprachefähig. Jeder Kontakt mit einem Teammitglied findet in einem vergleichsweise großzügigen Zeitrahmen statt, das spielt eine wichtige Rolle.
Das durchlässige Konzept gibt den Patienten Sicherheit: Wer zu Hause behandelt wird und besser stationär aufgehoben wäre, kann während der Behandlung in der Klinik aufgenommen werden. Das gilt umgekehrt genauso.
Einen Behandlungserfolg erleben Patienten und Teammitglieder bei Behandlung Zuhause ganz unmittelbar. Die Lebenszufriedenheit steigt deutlich. Die Patienten sind dankbar, was wiederum für das Behandlungsteam erfüllend ist.
Vorteilhaft scheint sich Behandlung Zuhause auch auf sogenannte Drehtürpatienten auszuwirken, die sonst nach einer stationären Behandlung in gewissen Abständen immer wieder behandelt werden müssen. Langfristig muss sich zeigen, ob es klappt, den Drehtüreffekt zu vermeiden. Das gleiche gilt für eine Reduzierung von Hospitalisierungseffekten bei stationär behandelten Patienten, die eventuell durch eine Behandlung Zuhause gar nicht auftreten.
Andre Roemer, Krankenpfleger
Allein von den Rahmenbedingungen unterscheidet sich Behandlung Zuhause für mich als Fachpfleger von der Arbeit auf einer psychiatrischen Station. In der Klinik arbeitet man in drei Schichten, bei Behandlung Zuhause gibt es keinen Schichtdienst. Unter der Woche gibt es leicht versetzte Tagdienste. Durchschnittlich arbeiten wir an zwei Wochenenden im Monat.
Weil dieses Behandlungskonzept an jedem Tag rund um die Uhr gilt, muss die Erreichbarkeit auch außerhalb der Schichten gewährleistet sein, 24 Stunden am Tag. Deshalb hat man an einigen Tagen im Monat Bereitschaftsdienst von zu Hause aus und ist per Notfallhandy erreichbar. Hierbei ist eine Kontaktaufnahme zum ärztlichen Dienst der Klinik jederzeit möglich.
Der Arbeitgeber stellt die Ausstattung, um mobil arbeiten zu können. Dazu gehört ein Dienstwagen, ein Laptop und ein Mobiltelefon. Besprechungen und Planungen finden in der Klinik statt, wo wir quasi in unserer Zentrale zusammenkommen. Die persönliche Kommunikation im Team und zwischen den verschiedenen Berufsgruppen ist wichtig, um die Therapie besser zu verzahnen und aufeinander abzustimmen.
Anfangs habe ich die Strukturen der Station vermisst. Die bestehenden Abläufe dort vermitteln eine gewisse Sicherheit. Bei Behandlung Zuhause ist alles eher offen. Da ist viel mehr Flexibilität gefordert. Im multiprofessionellen Team, das mit demselben Patienten arbeiten, gibt es eine enge Zusammenarbeit. Die Grundlage ist der individuelle Behandlungsplan des Patienten. Dabei müssen die Patienten relativ selbständig sein. Es ist wenig Behandlungspflege durchzuführen im Vergleich zu bestimmten Bereichen in der Klinik.
Wir haben oft mit Menschen zu tun, die ein Problem mit der Klinik haben. Sie wollen oder können nicht in ein Krankenhaus gehen. Sie wollen nicht in ein Zweibettzimmer.
Manche unserer Patientinnen und Patienten sind zehn Jahre oder mehr nicht rausgegangen, haben Kontakte vermieden. Für sie ist ein Krankenhausaufenthalt eine riesige Hürde.
Bei Behandlung Zuhause sind wir täglich eine ganze Stunde und mehr im Kontakt mit dem Patienten/der Patientin. Die Art der Kontakte ist positiv, weil die Patienten das Behandlungsangebot freiwillig annehmen. Auf Station gibt es immer wieder Patienten, die unfreiwillig – mit richterlichem Beschluss – dort sind, da ist der Kontakt ein anderer.
Wir sind sehr dicht am Patienten in dessen häuslichen Umfeld. Die Fahrten dazwischen sind gut zum Abschalten und Abstand gewinnen.
Ich habe zuvor auf einer gerontopsychiatrischen Station gearbeitet, als Praxisanleiter. Seit über 15 Jahren bin ich in der psychiatrischen Pflege tätig. Ich habe in der Zeit ein breit gefächertes Fachwissen erworben. Das kommt mir bei der Behandlung Zuhause zugute. Wer dort arbeiten möchte, für den ist Stationserfahrung von Vorteil. Vor zwei Jahren bin ich in das damals neu gegründete Team der „stationsäquivalenten Behandlung“, kurz StäB, gewechselt. Mein Eindruck über diesen Zeitraum: Dieses Behandlungsangebot ist eine sinnvolle und wichtige Erweiterung der bestehenden therapeutischen Angebote bei Vitos.
Wir begegnen den Patienten in deren Zuhause auf einer anderen Ebene, als ich das von Station her kenne. Die Arbeit ist sehr effektiv, weil wir dort sind, wo die Probleme ihren Ursprung haben.
Ernst Kufeld, Ergotherapeut
Mich fasziniert das Arbeiten bei Behandlung Zuhause. Ich finde es sehr interessant. Es ist ein sehr individuelles Arbeiten.
Auf den Stationen gibt es Spezialisten für bestimmte psychiatrische Erkrankungen. Wir arbeiten störungsspezifisch, so sind auch die Stationen strukturiert. Der Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen dort ist punktuell, wir haben ja ein eigenes Ergotherapie-Team. Vor Ort beim Patienten zu Hause sind wir allein. Da sind Generalisten gefragt, die notfalls auch mal improvisieren können.
Die Arbeit mit dem Patienten findet in der Klinik eher in einem abstrakten Rahmen statt. Seine Handlungskompetenz erreicht er über ein Medium, sei es einen theoretischen Ansatz oder eine gestellte Situation. Das ist eher künstlich. Zu Hause hingegen sind wir mit unserer Arbeit direkt am Problemfeld des Patienten und erarbeiten auch dort eine Lösungsstrategie.
Es gab schon Patienten, die in der Klinik gut zurechtkamen, zu Hause dann aber zusammengebrochen sind. Wenn wir in ihrem Umfeld ansetzen, ist die Strategie dem Problemfeld umfassend angepasst. Das ist in der Klinik in diesem Ausmaß häufig nicht möglich.
Anfangs hat mir der spontane Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen gefehlt. Dafür ist der interdisziplinäre Austausch in unseren Teamkonferenzen und Übergaben besonders intensiv.
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