Was bringt Menschen dazu, sich selbst zu verletzen?

Selbstverletzung

Was bringt Menschen dazu, sich selbst zu verletzen?

Es geht um mehr als bloß um Aufmerksamkeit, sagt Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor am Vitos Klinikum Gießen-Marburg, im Interview

Es sorgt für Schmerzen, Narben und Unverständnis im sozialen Umfeld – trotzdem gibt es Menschen, die sich regelmäßig selbst verletzen. Sie schneiden sich, kratzen ihre Hautoberfläche auf oder fügen sich absichtlich Verbrennungen zu. Studien zufolge probieren es 20 bis 30 Prozent der 14- bis 17-Jährigen ein- bis zweimal aus. Die meisten hören wieder damit auf, manche aber nicht. Mehr noch: Bei ihnen werden die Selbstverletzungen oft stärker. Wie es dazu kommt, weiß Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor am Vitos Klinikum Gießen-Marburg.

Herr Prof. Franz, warum verletzen Menschen sich selbst?

Prof. Franz: Die erste Frage muss immer sein: Gibt es eine suizidale Absicht? Wenn ja, ist der Fall klar und die Rettungsschleife mit Notarzt und Klinikeinweisung muss gestartet werden. Viel häufiger ist aber die nicht-suizidale Selbstverletzung. Hier ist die Frage: Was ist das Ziel? Am häufigsten hört man, dass Betroffene Aufmerksamkeit oder Zuwendung bekommen wollen. Das gibt es auch, ist aber selten. Vielmehr geht es um das Regulieren sehr stressiger, unangenehmer Gefühle, die sich in unerträgliche Spannungszustände steigern können.

Sind es nur „Borderliner“, die sich selbst verletzen?

Prof. Franz: Nein. Bei Borderline-Patient/-innen kommt es zwar gehäuft vor – 90 Prozent verletzen sich selbst – aber nicht bei allen. Wir finden Selbstverletzungen auch in Kombination mit Essstörungen oder Drogenmissbrauch, Selbsthass oder Einsamkeit. Das Verhalten kommt immer dann vor, wenn Menschen Kanäle suchen, um starken Stress oder innere Konflikte loszuwerden.

Eine Selbstverletzung um unangenehme Gefühle zu regulieren – wie passt das zusammen?

Prof. Franz: Das hat mit den Prozessen im menschlichen Gehirn zu tun. Wenn wir in Stress geraten, muss der Körper schnell reagieren. Diese Mechanismen stammen noch aus der Zeit, als wir vor gefährlichen Tieren fliehen oder mit ihnen kämpfen mussten. Das heißt: Es entsteht ein starker Handlungsdruck oder Affekt, eine Anspannung. Dieser Affekt muss irgendwann beendet werden, damit sich das Gehirn wieder orientieren und konstruktiv arbeiten kann. Klappt das nicht, kommt es zu einem Kontrollverlust. Eine Selbstverletzung kann den Betroffenen tatsächlich helfen, den Affekt abzumildern.

Was bewirkt die Selbstverletzung in der Psyche?

Prof. Franz: Irgendwann ritzen sich viele Jugendliche einmal am Handgelenk und merken: Die Spannung ist plötzlich weg. Dazu gibt es Studien. Außerdem gibt es Hinweise auf eine Endorphinausschüttung. Endorphine lösen bekanntlich ein Wohlgefühl aus – manche kennen das vom Ausdauersport. Wenn das in der Praxis tatsächlich funktioniert, also: Meine unerträgliche Anspannung verschwindet und eventuell gibt es sogar ein leichtes Wohlgefühl – was für ein Kontrast! Darüber hinaus sorgt die Selbstverletzung für Aufmerksamkeit – auch wenn das meist gar nicht die Absicht war. Aufmerksamkeit ist immer ein guter Verstärker für Verhaltensweisen.

Wichtig ist: Es gibt nicht DEN einen Zugang zur Selbstverletzung, aber sie hat am Ende immer etwas mit Emotionsregulation oder dem Beenden unerträglicher Gefühle zu tun. Die Betroffenen haben immer einen guten Grund, sich zu verletzen – kurzfristig. Langfristig schadet es natürlich und schafft eine Menge Probleme. Aber unser Gehirn steuert uns immer erstmal auf die kurzfristige Entlastung.

Bei den meisten Menschen sinkt die Anspannung von alleine wieder – warum klappt das bei Borderline-Patient/-innen nicht?

Prof. Franz: Menschen mit einer Borderline-Störung sind emotional verletzlicher und haben häufig eine höhere Grundanspannung. Bei äußerlichen Triggern, die für Gesunde kein Problem sind – etwa ein seltsamer Gesichtsausdruck oder eine Beschämung – kann es zu einem Hochschießen des Affekts kommen, der zudem sehr lange bleibt. Kommen neue Reize hinzu, schaukelt er sich auf bis in die Hochspannung. Dann wird der Handlungsdruck unerträglich und entlädt sich in impulsiven Handlungen. Beim Chef, Lehrer und in der Partnerschaft schädigen Borderliner damit ihre berufliche Entwicklung und ihr soziales Netzwerk. Daher haben sie ein berechtigtes Interesse, ihre Anspannung auf andere Art und Weise zu unterbrechen.

Prof. Dr. Michael Franz, Ärztlicher Direktor am Vitos Klinikum Gießen-Marburg

Wie sollten Angehörige oder Freunde reagieren, wenn sich jemand gerade selbst verletzt hat?

Prof. Franz: Wie gesagt, muss zunächst geklärt werden: Ist der Betroffene suizidal? Wenn ja, muss der Notarzt gerufen werden. Handelt sich um kleinere Verletzungen, ist es im akuten Fall wichtig, Ruhe zu bewahren. Das heißt: Möglichst kein Drama (Aufmerksamkeit ist ein Verstärker) und das Geschehen möglichst nicht bewerten. Die Erstversorgung der Wunde sollte ruhig, sachlich und zielorientiert ablaufen.

Was die Betroffenen brauchen, ist vielmehr Aufmerksamkeit auf ihre innere Not. Also ein Verständnis dafür, was zu der Selbstverletzung geführt hat. Kommt es wiederholt vor, brauchen sie eine geeignete psychotherapeutische Behandlung. Bei uns an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen arbeiten wir mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT). Das Erlernen sogenannter Skills (Fertigkeiten) zur Emotionsregulation ist dabei fester Bestandteil. Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse sowie die passenden Skills: Diese Kombination hilft den Patientinnen und Patienten sehr, die Kontrolle über die eigene Gefühlswelt wiederzuerlangen – und zwar ohne, dass Selbstverletzungen nötig sind.

Autor/-in
Susanne Richter-Polig