Klinikdirektorin Dr. Eftichia Duketis über die Folgen von systematischer Schikane
Ärgern, schikanieren, ausgrenzen: Wenn Kinder und Jugendliche systematisch und anhaltend den Attacken anderer ausgesetzt sind, spricht man von Mobbing. Für die Betroffenen kann dies schwerwiegende Folgen haben, unter denen sie manchmal noch Jahre später leiden. Dr. Eftichia Duketis, neue Klinikdirektorin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau, schildert im Interview, wie Eltern ihre Kinder stärken können. Und was sie tun können, wenn ihr Kind Opfer von Mobbing wird.
Was können Anzeichen dafür sein, dass ein Kind gemobbt wird?
Dr. Eftichia Duketis: Es kann sehr konkrete Zeichen von Gewalt geben: Das Kind kommt mit Blessuren nach Hause, mit beschädigten Schulsachen oder mit beschädigter Kleidung. Vielleicht fehlt auch Geld. Außerdem kann eine Verhaltensänderung des Kindes darauf hindeuten, dass es gemobbt wird: Es zieht sich zurück oder schläft schlecht. Vielleicht ist es auch reizbar oder es will nicht in die Schule gehen. Die wenigsten Kinder werden übrigens deutlich formulieren, dass sie Angst vor dem Schulbesuch haben, weil sie dort gemobbt werden. Gründe können sein, dass sie sich schämen oder gar die Schuld bei sich suchen, in einem vermeintlich eigenen Fehlverhalten. Je jünger sie sind, umso schwerer fällt es ihnen, ihre Gefühle und die Situation klar zu benennen. Sie haben dann eher morgens Kopf- oder Bauchschmerzen, die typischerweise nicht an den Wochenenden oder in den Ferien auftreten.
Ist die Schule also in erster Linie der Ort, an dem Mobbing stattfindet?
Dr. Duketis: Ja, das ist so. Mobbing kommt durchaus auch in anderen Lebensbereichen vor, allerdings viel seltener. Das hängt mit der Struktur von Schule zusammen: Es ist der Ort, an dem sehr viele Gleichaltrige sehr viel Zeit verbringen und sich auch miteinander messen. Bei Kindern und Jugendlichen findet Mobbing vor allem in der Schule statt, bei Erwachsenen am Arbeitsplatz.
In Zeiten von Corona gibt es weniger Präsenzunterricht. Verlagert sich das Mobbing dann in die sozialen Medien?
Dr. Duketis: Das sogenannte Cyber-Mobbing ist ein ähnliches Phänomen wie das Mobbing auf dem Schulhof. Es betrifft eher ältere Kinder und Jugendliche, weil sie sich stärker in den sozialen Medien und im Internet aufhalten. Und während Mobbing in der Schule Mädchen und Jungen in gleichem Maße betrifft, sind beim Cyber-Mobbing Mädchen etwas stärker betroffen. Cyber-Mobbing hat zudem eine ungleich höhere Reichweite. Die Jugendlichen sind den Angriffen auch länger ausgesetzt. Posts und Kommentare bleiben im Netz abrufbar.
Welche Folgen kann Mobbing für Kinder oder Jugendliche haben?
Dr. Duketis: Zu den Folgen können soziale Probleme gehören: Die Betroffenen ziehen sich von ihrer Umwelt zurück. Sie gehen nicht mehr raus, verlieren ihre Freunde. Sie fehlen in der Schule und ihre schulischen Leistungen lassen nach. Mobbing kann sich auf das Verhalten und Erleben der Betroffenen auswirken. Sie sind zum Beispiel ängstlich, gereizt, niedergeschlagen oder haben Probleme, sich zu konzentrieren. Bei Jugendlichen können auch selbstverletzendes Verhalten und suizidale Krisen auftreten. Die Folgen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein – von einer vorübergehenden Anpassungsproblematik, die sich in Schlafproblemen äußert, bis hin zu einer manifesten klinischen Störung, beispielsweise einer Depression. Selbst wenn das Mobbing aufgehört hat, kann das Opfer noch lange unter Ängsten oder einer Depression leiden.
Kann Mobbing auch Langzeitfolgen haben?
Dr. Duketis: Ja. Es gibt Langzeitstudien aus mehreren Ländern, die belegen, dass die Folgen von Mobbing sich in manchen Fällen noch im Erwachsenenalter auswirken. Sie können langfristig die seelische und körperliche Gesundheit beeinträchtigen. Außerdem kann es soziale Probleme geben, die sich später noch in den Beziehungen zu anderen Menschen, in der Partnerschaft oder im Beruf zeigen. Ich finde das sehr bemerkenswert: Man könnte ja annehmen, dass es den Opfern bessergeht, sobald das Mobbing aufhört. Stattdessen hinterlässt es manchmal tiefe Narben und wirkt sich anhaltend negativ auf die Gesundheit und die Beziehungsfähigkeit aus.
Hat der Erziehungsstil Einfluss darauf, ob ein Kind zum Opfer von Mobbing wird?
Dr. Duketis: Als Eltern möchte man sein Kind möglichst gut schützen. Trotzdem kann sich ein sehr behütender Erziehungsstil nachteilig auswirken. Kinder erleben sich dann selbst nicht als wirksam. Sie wissen zum Beispiel nicht, wie sie selbst Probleme lösen sollen, weil ihnen die Eltern dies zu häufig abnehmen. Bei einem sehr autoritären Erziehungsstil wiederum erleben die Kinder sich als ohnmächtig und ausgeliefert. Wenn sie dann Opfer von Mobbing werden, erleben sie eine bekannte Situation, in die sie sich fügen. Der Erziehungsstil kann also eine Rolle spielen, aber nicht die einzige.
Gibt es Kinder, bei denen tendenziell eher die Gefahr besteht, dass sie Opfer von Mobbing werden?
Dr. Duketis: Bei Kindern, die etwas schüchterner sind oder die im Umgang mit anderen etwas unbeholfen auftreten, kann es eher vorkommen, dass sie zum Opfer von Mobbing werden. Anders zu sein – egal in welcher Form – ist ebenfalls ein Risikofaktor. Beispielsweise sind Kinder, die eine Lernbehinderung oder eine autistische Störung haben, in vielen Fällen Attacken ausgesetzt. Zum Teil werden Jugendliche auch aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres kulturellen Hintergrundes schikaniert. Ein als andersartig empfundenes Aussehen kann ebenfalls Anlass für Angriffe sein. Manchmal ist ein Kind aber auch einfach nur neu in der Schule und dort sozial noch nicht gefestigt. In manchen Fällen ist es auch schlicht willkürlich, wer zum Opfer wird.
Welche Kinder sind das, die andere mobben?
Dr. Duketis: Es handelt sich hier ebenso um eine heterogene Gruppe. Wenn wir es ganz einfach herunterbrechen: Es können Kinder und Jugendliche sein, die einerseits ein hohes Bedürfnis nach Kontrolle und Dominanz haben und andererseits wenig Empathie. Gleichzeitig haben sie die Fähigkeit, andere für sich zu gewinnen. Mobbing funktioniert ja nur dann, wenn es von Dritten irgendwie geduldet oder sogar mitgetragen wird. Unter den Tätern finden sich auch Kinder mit einer geringen Impulskontrolle, sie können also Gefühle wie Wut oder Aggression schlecht kontrollieren. Manche sind auch selbst schon Opfer von Mobbing geworden und versuchen ihren Selbstwert aufzubauen, indem sie andere schikanieren. Jugendliche, die andere ausgrenzen und schikanieren, haben außerdem ein erhöhtes Risiko an einer Depression zu erkranken. Und sie haben zum Teil auch ein erhöhtes Risiko für Suizidalität. Es ist wichtig, dass Lehrkräfte und Eltern das wissen und berücksichtigen.
Was können Eltern präventiv tun, um ihr Kind vor Mobbing zu schützen?
Dr. Duketis: Sie können ihre Kinder ermuntern, über ihre Gefühle zu sprechen. Kinder müssen erst lernen, Worte für ihr Innenleben zu finden. Mit kleineren Kindern kann man gut ins Gespräch kommen, wenn man ihnen vorliest und dann über das Gelesene spricht. Wenn Kinder klar artikulieren können, wie sie sich fühlen und wo ihre Grenzen sind, ist das ein guter Schutz. Außerdem sollten Eltern ihre Kinder ermutigen, Konflikte selbst zu lösen. Sehr hilfreich ist auch, Kinder viele positive soziale Erfahrungen machen zu lassen. Das gelingt, indem man Freundschaften der Kinder außerhalb der Schule fördert oder sie ins Vereinsleben integriert.
Was sollten Eltern tun, wenn das Kind zum Opfer wird?
Dr. Duketis: Erst einmal ruhig bleiben – es ist nicht hilfreich, sofort mit Vorwürfen nach außen zu gehen. Zunächst sollten Eltern den Einstieg in das Gespräch mit dem eigenen Kind finden. Es sollte offen über die Situation berichten können. Für die Kinder ist es eine Entlastung, wenn ihnen jemand aufmerksam zuhört. Und wenn sie dann erfahren: „Mobbing ist nicht in Ordnung und es liegt nicht an mir, wenn ich gemobbt werde.“ In einem nächsten Schritt sollten Eltern sich bei der Lehrkraft informieren, wie sie die Situation einschätzt. Das Ziel ist natürlich, die Mobbing-Situation zu beenden. Lehrende haben hier die Aufgabe, bei Schikane klare Grenzen zu setzen und das Opfer zu schützen. Sobald Eltern bei ihrem Kind eine Anpassungsreaktion feststellen, kann es hilfreich sein, sich psychologische Unterstützung zu suchen. Der Schulpsychologe ist hierfür eine erste, gute Anlaufstelle. Viele Schulen bieten auch bereits systematische Anti-Mobbing-Programme und Trainings an, um Kinder für das Thema Mobbing zu sensibilisieren, Täter einzugrenzen und Opfer zu schützen und zu stärken.
Was sollten Eltern nicht tun?
Dr. Duketis: Es hilft dem Kinde häufig nicht, wenn Eltern sofort einen Schulwechsel herbeiführen. Ein Kind, das gemobbt wird, fühlt sich hilflos, einsam, ausgeliefert und hat kaum Selbstwert. Es hat nicht erlebt, wie es die Situation lösen kann. Damit besteht die Gefahr, dass es auch an der neuen Schule schnell zum Opfer wird. Ein Schulwechsel bleibt das letzte Mittel, wenn die Fronten verhärtet und eine Lösung der Situation nicht in Sicht ist.
Was sollten Eltern tun, deren Kinder Mobbing in der Klasse oder im Freundeskreis erleben?
Dr. Duketis: Die Situation nicht bagatellisieren. Sie sollten Mobbing ganz klar als Gewalt benennen. Manchen Kindern ist vielleicht gar nicht klar, was sie da genau erleben oder bei was sie zuschauen. Es hilft, ihnen vor Augen zu führen, was Mobbing für Folgen haben kann. Am Ende sind es diese Kinder, denen es gelingt, das Mobbing zu unterbinden.
Zur Person: Dr. med. Eftichia Duketis ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Seit 1. April 2021 leitet sie die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau. Einer ihrer fachlichen Schwerpunkte liegt auf der Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit einer autistischen Störung.
Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau
Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau ist im November 2020 eröffnet worden. Die Fachklinik bietet 51 stationäre Behandlungsplätze für Patientinnen und Patienten zwischen Neugeborenenphase und Volljährigkeit. Das interdisziplinäre Team behandelt seelische Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie sämtliche Störungsbilder in allen Schweregraden. Im neuerrichteten Klinikgebäude befinden sich auch eine Tagesklinik mit 20 Plätzen sowie eine Ambulanz. Weitere Informationen zur Klinik gibt es hier.
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