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„Wenden Sie sich den Kindern ganz besonders zu“

Ein Jahr Pandemie: Was macht das mit Kindern und Jugendlichen?

Die Covid-19-Pandemie bestimmt nun seit einem Jahr unseren Alltag. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das zeitweise: Schulschließung, Home-Schooling, keine Hobbys, kein Kontakt zu Gleichaltrigen. Was macht das mit ihnen? Wie lassen sich die seelischen Folgen abmildern? Und wie geht es Kindern, die schon vor der Pandemie seelisch erkrankt waren? – Diese Fragen beantwortet Sabine Hoffmann, Leitende Psychologin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt.

Ein Jahr Pandemie: Für ein Kind ist das eine lange Zeit, oder?

Sabine Hoffmann: Ja, unbedingt. Ein Jahr empfindet ein siebenjähriges Kind so lange wie ein 70-jähriger Mensch zehn Jahre. Bei jüngeren Kindern verlängert sich das entsprechend. Hinzu kommt, dass wir uns als Erwachsene in Zeit und Raum viel besser orientieren können, Kinder müssen das erst lernen. In dieser Pandemie fällt außerdem noch vieles weg, was uns dabei hilft, die Zeit zu strukturieren. Wenn sich die Kinder überwiegend Zuhause aufhalten, entfällt bei vielen die Tages- und Wochenstruktur. Beides ist sonst stark durch die Schule oder den Kindergarten geprägt, durch ein festes Nachmittagsprogramm, durch Freizeitaktivitäten am Wochenende, durch Feste und die Ferien. Diese äußere Struktur gibt ihnen auch eine innere Struktur. Denn sie sorgt dafür, dass sich Phasen der Anspannung und der Entspannung abwechseln. Das fehlt vielen von uns im Augenblick und Kindern eben ganz besonders.

Was fehlt Kindern sonst noch in der Pandemie, das für ihre Entwicklung wichtig ist?

Auswirkungen der Pandemie auf Jugendliche

Sport, Hobbys, Freunde – all das fehlt Kindern und Jugendlichen im Moment.

Hoffmann: Im Moment ist die Atmosphäre in der Gesellschaft und auch in Familien vielfach von Unsicherheit oder sogar Angst geprägt. Unsere grundlegenden Bedürfnisse nach Sicherheit, Orientierung und Autonomie sind eingeschränkt. Als Erwachsene haben wir gelernt, solche negativen Gefühle auszubalancieren und verfügen über ein gutes emotionales Selbstmanagement. Doch selbst wir geraten aktuell an unsere Grenzen. Immerhin ist diese Pandemie für die meisten von uns eine nie dagewesene Krisensituation. Wir können hier nicht auf unsere Erfahrungen zurückgreifen.

Kinder lernen ab der frühen Kindheit, belastende Gefühle zu regulieren. Dafür sind sie abhängig von den nahen Bezugspersonen, die sie dabei unterstützen müssen. Viele Eltern wissen sehr gut, was ihren Kindern dabei hilft, sich emotional auszubalancieren – familiäre Aktivitäten, Sport, Hobbys, Freunde treffen. In der Pandemie fehlt das natürlich alles. Und die Eltern, die Halt und Orientierung bieten müssen, sind selbst stark belastet. Es gibt aber auch Eltern, die die derzeitige Situation als Entschleunigung erleben. Zum Beispiel, weil sie im Homeoffice arbeiten oder viele private Verpflichtungen wegfallen. Manchen gelingt es, dies für sich und die Familie gezielt zu nutzen.

Wie wirkt sich das Home-Schooling auf die Entwicklung aus?

Hoffmann: Das ist stark vom Alter der Kinder abhängig. Für Grundschüler/-innen ist die persönliche Beziehung zu ihrer Lehrkraft sehr wichtig. Der Lehrerin oder dem Lehrer zu gefallen, ist für sie eine Motivation zu lernen. Auch ältere Schüler/-innen benötigen eine persönliche Rückmeldung, nicht nur zu ihrem Wissens- oder Lernstand. Sie müssen sich wahrgenommen fühlen, um ihren Platz im Leben finden zu können. Diese persönliche Beziehungsebene ließe sich im Home-Schooling pflegen. Es gibt viele Lehrer/-innen, die es auch in der Pandemie schaffen, ihre Schüler/-innen gut im Blick zu behalten. Aber es gibt eben auch solche, die den Fokus auf die Wissensvermittlung legen. Für Schüler/-innen, die ohnehin wenig Ressourcen haben oder deren Eltern überlastet sind und sie nicht unterstützen können, wird Schule dann zum Problem. Hier besteht die Gefahr, dass Schüler/-innen zu Bildungsaussteigern werden.

Der Unterricht im Home-Schooling ist digitaler als der Präsenzunterricht. Wo hat das digitale Lernen Grenzen?

Hoffmann: Auch das hängt vom Alter der Kinder ab. Lernen kommt von begreifen. Wir fragen nicht umsonst: „Hast Du das begriffen?“ Für kleine Kinder und auch noch für Kinder im Grundschulalter spielt die sinnliche Lernerfahrung eine große Rolle. Hinzu kommt ein höheres Bedürfnis nach Bewegung, weshalb es im Unterricht regelmäßige Bewegungseinheiten geben sollte. Grundschüler/-innen lernen in der Gruppe außerdem dadurch, dass sie sich mit anderen vergleichen und im Klassenverband ein Konformitätsdruck entsteht: „Jetzt holt ihr alle eure roten Hefter heraus.“ Und die Bezugsperson spielt, wie schon erwähnt, eine große Rolle. Dies alles setzt digitalen Lernformen Grenzen.

Aber selbst für 15-Jährige sind täglich mehrere Stunden digitales Lernen sehr, sehr viel. Die Aufnahmefähigkeit vor dem Bildschirm ist wesentlich geringer als im Präsenzunterricht. Die Arbeit vor dem Bildschirm wirkt sich auch körperlich aus, zum Beispiel auf die Kopf- und Nackenmuskulatur. Es gibt aber auch Kinder und Jugendliche, die vom digitalen Unterricht profitieren. Diese genießen die Ungestörtheit, den eigenen Raum, das versachlichte und selbstorgansierte Lernen ohne Irritierungen aus dem Sozialraum.

Seit dieser Woche kehren die Schulen in den Präsenzunterricht zurück, wenigstens teilweise. Von einem normalen Schulalltag sind wir dennoch weit entfernt. Was empfehlen Sie Eltern, um ihre Kinder zu unterstützen?

Home-Schooling

Eltern sollten im Moment keine allzu großen Erwartungen an den schulischen Erfolg ihrer Kinder hegen.

Hoffmann: Eltern empfehle ich: Hegen Sie in dieser besonderen Situation keine allzu hohen Erwartungen an die schulischen Leistungen Ihrer Kinder. Damit werden Sie ihnen im Moment nicht gerecht. Seien Sie feinfühlig und schauen Sie, wann Sie Ihre Kinder fordern können und wann Sie sie in Ruhe spielen lassen. Es gilt, wieder in eine neue Tages- und Wochenstruktur zu kommen. Wenden Sie sich Ihren Kindern ganz besonders zu. Schauen Sie, wie Sie für sich und Ihre Kinder Ressourcen schaffen können.

Welche können das sein?

Hoffmann: Im Moment sind viele Kinder in ihrer Lebendigkeit sehr gebremst. Für Bewegung sorgen, ist da besonders wichtig – es reicht schon, die Kinder jede Stunde mal in den Garten zu schicken oder durch das Treppenhaus flitzen zu lassen. Suchen Sie im erlaubten Rahmen Kontakt für Ihre Kinder. Treffen Sie sich zum Spaziergang an Orten, an denen nicht viel los ist. Es tut allen gut, aus der häuslichen Umgebung rauszukommen. Das gibt viel frischen Wind. Wählen Sie gezielt auch mal andere Orte für den Spaziergang aus, damit Sie neue Reize und Sinneseindrücke bekommen. Und strukturieren Sie das Wochenende bewusst anders als Ihren Alltag. Das sorgt dafür, dass es für alle auch mal eine Phase der Entspannung gibt.

Gibt es denn vermehrt Kinder, die in dieser Pandemie seelisch erkranken?

Hoffmann: Es gibt ein alarmierendes Bild von verstärkten Ängsten, Spannungen im häuslichen Umfeld, häuslicher Gewalt, Leistungsabfall und Versagensängsten, stark erhöhtem Medienkonsum und Gewichtszunahme. Bundeslandübergreifend zeigen sich in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung vermehrt Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen und Substanzmissbrauch.

Es wird von einem Anstieg von Patienten berichtet, die aufgrund von akuter Suizidalität und Krisen oder nach häuslicher Eskalation kinder- und jugendpsychiatrisch versorgt werden müssen. Das sehen wir auch in unseren Einrichtungen. Außerdem erwarten wir, dass wir in den nächsten Monaten vermehrt Kinder und Jugendliche sehen werden, deren seelische Erkrankung derzeit niemandem auffällt. Denken Sie zum Beispiel an Kinder und Jugendliche, die unter sozialen Ängsten oder Schulabsentismus leiden. Die können sich im Moment gut verbergen. Aber sie kommen eben auch aus der Übung, weil die wenigen sozialen Herausforderungen, denen sie sich bislang im Alltag stellen mussten, nun auch noch weggefallen sind. Ein solches Krankheitsbild wird sich in dieser Krise eher verschlechtern. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist ein fundamentaler Baustein der Zukunft unserer Gesellschaft.

Sabine Hoffmann

Sabine Hoffmann

Zur Person:
Sabine Hoffmann ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Sie arbeitet als Leitende Psychologin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt.

Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt
Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt [1] ist die größte Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Hessen. Sie versorgt fünf Landkreise. Vitos kann die jungen Patienten hier stationär, teilstationär oder ambulant in Heppenheim, Höchst im Odenwald oder Riedstadt behandeln.

Fotos: Vitos / Fotograf: Heiko Meyer