Wenn der Schmerz das Leben bestimmt – Warum Migräne mehr ist als „nur Kopfschmerzen“

Wenn der Schmerz das Leben bestimmt – Warum Migräne mehr ist als „nur Kopfschmerzen“

Interview mit Dr. Andreas Böger, Chefarzt für Schmerzmedizin, Manuelle Therapie und Naturheilverfahren in der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel 

Am 3. Juni ist der Aktionstag gegen den Schmerz – ein Tag, der inmitten der vielen Gesundheitskampagnen fast leise daherkommt. Dabei betrifft er Millionen. Denn Schmerz ist nicht immer sichtbar, nicht immer verständlich – und oft tabuisiert. Menschen mit Migräne kämpfen nicht nur mit körperlichen Qualen, sondern häufig auch mit dem Unverständnis ihres Umfelds.

„Das bisschen Kopfweh“ – dieser Satz ist für viele Betroffene eine doppelte Belastung. Denn wer unter Migräne leidet, erlebt mehr als Kopfschmerzen: Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Ausfälle im Alltag, soziale Isolation. Und oft kommt noch etwas dazu, das man nicht sofort sieht: Depressionen.

Im Gespräch mit Dr. Andreas Böger, Chefarzt für Schmerzmedizin, Manuelle Therapie und Naturheilverfahren in der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel (OKK), wird klar: Migräne und Depression treten häufig gemeinsam auf – und beeinflussen einander. Wie diese beiden unsichtbaren Krankheiten zusammenhängen, warum frühzeitige Hilfe entscheidend ist und was Betroffene wissen sollten, darum geht es in unserem heutigen Beitrag.

Herr Dr. Böger, wann spricht man von Migräne? Und woran kann man Migräne und gewöhnliche Kopfschmerzen unterscheiden?

Dr. Böger: Migräne tritt meist einseitig auf, in einem Drittel der Fälle auch beidseitig. Der Schmerz ist pochend. Typische Begleiterscheinungen sind Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Viele Betroffene möchten sich zurückziehen und hinlegen. Etwa ein Fünftel erlebt eine sogenannte Aura, z. B. Lichtblitze vorher. Manche haben zudem vorher eine Heißhungerattacke.

Was genau passiert im Gehirn während einer Migräne?

Dr. Böger: Nach der momentan gültigen Theorie kommt es zu einer Gefäßentzündung im Gehirn, die dazu führt, dass sich die Arterien im Bereich der Hirnhäute ausdehnen. Das verursacht die Schmerzen.

Wie häufig treten Migräne und Depression gemeinsam auf?

Dr. Böger: Sehr häufig. Etwa ein Drittel der Migränepatient/-innen hat auch eine Depression. Umgekehrt haben etwa 20 Prozent der Menschen mit Depression auch Migräne – mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Wie hängen Migräne und Depression zusammen? Und wie viele Patient/-innen im Schmerzzentrum der OKK haben diese Doppeldiagnose?

Dr. Böger: Es gibt mehrere Gründe für die Überschneidung. Wenn ein Mensch mit Depressionen zum Hausarzt geht, beschreibt er bei seinem Hausarzt körperliche Beschwerden bzw. Schmerzen – wie Rücken- oder Kopfschmerzen. In der Regel sagt er nicht, dass er Depressionen hat. Wenn jemand Schmerzen hat und gleichzeitig depressiv ist, ist das Risiko, dass er chronische Schmerzen kriegt, zudem sehr viel höher. Und wer chronische Schmerzen hat, z. B. durch eine chronische Migräne, hat ein höheres Risiko eine Depression zu bekommen, da man mürbe wird mit der Zeit.

In unserer Klinik behandeln wir Patient/-innen, die etwa 20 Tage Kopfschmerzen haben im Monat – davon den größten Teil Migräne, also eine chronische Migräne. Etwa 50 bis 60 Prozent dieser Patient/-innen haben zusätzlich eine Depression oder Angststörung.

Also können wiederkehrende Schmerzen wie Migräne Depressionen auslösen – und umgekehrt?

Dr. Böger: Ja, das kann durch diesen gemeinsamen Mechanismus entstehen.

Welche Herausforderungen erleben Ihre Patient/-innen im Alltag durch die Kombination von Migräne und Depression?

Dr. Böger: Migräne ist eine Krankheit, die bei den meisten Menschen erst mal selten auftritt und bei denen, die chronifizieren, immer häufiger auftritt. Das führt zu Fehlzeiten bei der Arbeit und Problemen im Privatleben, sorgt bei den Betroffenen und deren Umfeld für viel Frust – und kann Depressionen auslösen oder verstärken. Unsere Patient/-innen berichten das regelmäßig. Glücklicherweise gibt es mittlerweile sehr gute, medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlungsverfahren gegen die Migräne. Parallel zur erfolgreichen Behandlung wird auch die Stimmung besser. Die Patient/-innen, die beide Erkrankungen in erheblichem Maße haben, werden mit der multimodalen Schmerztherapie behandelt. Bei uns gibt es dafür stationär wie auch tagesklinisch spezielle Gruppen für Kopfschmerz- und Migränepatient/-innen. Diese Gruppentherapie entlastet die Patient/-innen in der Regel deutlich.

Wie wirken sich chronische Schmerzen langfristig auf die Psyche aus?

Dr. Böger: Chronische Schmerzen können Depressionen verstärken oder auslösen, weil das soziale und berufliche Leben stark eingeschränkt ist. Viele Betroffene fühlen sich perspektivlos, weil sie meist nicht wissen, was man machen kann und wo man ansetzen soll.

Was empfehlen Sie Patient/-innen, um besser mit beidem umgehen zu können?

Dr. Böger: Betroffene sollten frühzeitig einen Spezialisten aufsuchen, der sich gut auskennt. Unser Problem im Gesundheitswesen ist, dass die Herangehensweise ärztlich sehr aufgesplittert ist. Viele Hausärzte haben häufig keine Fachkenntnisse über Kopfschmerzen, besonders über chronische Kopfschmerzen. Und niedergelassene Fachärzte, wie Orthopäden und Neurologen, haben häufig wenig Zeit. Viele Betroffene kommen erst nach zehn Jahren Leidensweg zu uns. Wir versuchen zunächst, ambulant zu helfen – wenn das nicht ausreicht, dann tagesklinisch oder stationär. Wichtig ist: Bei chronischen Kopfschmerzen nicht zu lange warten und eine Spezialeinrichtung aufsuchen.

Fragen sie bei Migränepatient/-innen standardmäßig nach depressiven Symptomen?

Dr. Böger: Ja. Wir nutzen den Deutschen Schmerzfragebogen, der auch standardisierte Skalen für Depression und Angst enthält.

Welche Behandlungsstrategien gibt es für Patient/-innen mit dieser Doppeldiagnose?

Dr. Böger: Zunächst versuchen wir durch ambulante Therapie mit Medikamenten oder mit nicht-medikamentöse Maßnahmen, wie z.B. Akupunktur, eine Verbesserung zu erzielen. Wenn das nicht funktioniert, empfehlen wir die multimodale Schmerztherapie, bei der Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und Pflege Hand in Hand arbeiten.

Wo sollten sich Patient/-innen mit starker Migräne, die den Verdacht haben, auch depressiv zu sein, zunächst hinwenden?

Dr. Böger: Am besten direkt an ein Kopfschmerzzentrum.

Warum ist das Schmerzzentrum der Vitos Orthopädischen Klinik Kassel ein guter Anlaufpunkt für Patient/-innen mit Migräne und Depressionen?

Das Team des Vitos Schmerzzentrums

Dr. Böger: Zum einen sind wir in Hessen das größte Schmerzzentrum, was bedeutet, dass wir auch die beste Differenzierung haben in Bezug auf verschiedene Störungsbilder sowie eine gute Expertise. Zum anderen ist die OKK zertifiziertes Kopfschmerzzentrum der „Deutschen Migräne und Kopfschmerzgesellschaft“. Das heißt, wir haben hier mehrere Spezialist/-innen, die sich gut mit Migräne und den Komorbiditäten auskennen.

Wie schätzen Sie das öffentliche Verständnis für unsichtbare Krankheiten wie Migräne oder Depression ein?

Dr. Böger: Nicht gut, Migräne sieht man den Menschen nicht an. Der Arbeitgeber sieht nicht, dass man krank ist, es heißt es dann eher: „Ach, das bisschen Kopfschmerzen.“ Wir arbeiten daran, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken. Bei Depressionen ist es ähnlich.

Welche Missverständnisse/Mythen begegnen Ihnen häufig?

Dr. Böger: Migräne-Patient/-innen haben häufig den Eindruck, ihre Erkrankung sei wetter- oder mondphasenabhängig – das ist wissenschaftlich nicht haltbar. Aber in der Tat gibt es bei jedem Patienten unterschiedliche Trigger-Mechanismen.

Ein Mythos ist z.B., dass es eine feste Ursache für die Migräne gibt. Die gibt es nicht. Ein primärer Kopfschmerz, der keine Ursache hat, ist höchstens genetisch festgelegt. Trigger-Faktoren kann man natürlich versuchen zu identifizieren und möglichst zu reduzieren.

Welche Rolle spielt der „Aktionstag gegen den Schmerz“ aus Ihrer Sicht? Brauchen wir mehr öffentliche Aufmerksamkeit?

Dr. Böger: In Deutschland können wir bereits relativ viel in Zeitschriften wie z.B. Spiegel, Stern und Fokus über Schmerzen lesen. Im internationalen Vergleich sind wir da relativ gut aufgestellt. Durch den Aktionstag gegen den Schmerz haben wir natürlich eine weitere Möglichkeit, die Thematik mehr in das Bewusstsein der Menschen zu holen. Migräne ist eine für viele Menschen unsichtbare Krankheit, betrifft aber sehr viele Menschen und geht mit großen Einschränkungen für die Betroffenen einher. Deswegen sollten wir diesen Tag auch nutzen.

Welche neuen Erkenntnisse oder Entwicklungen in der Forschung halten Sie für besonders vielversprechend?

Dr. Böger: Wir haben in den letzten Jahren einige Medikamente erhalten, die sehr gut zur Prophylaxe der Migräne wirken. Zusätzlich gibt es einige neue Erkenntnisse zum Ablauf der Migräne-Attacke, sodass wir jetzt im Vergleich zu vor 10 bis 15 Jahren deutlich mehr Patient/-innen besser behandeln können.

Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, das Betroffene und Angehörige wissen sollten?

Dr. Böger: Für uns ist es immer gut, wenn Patient/-innen und Angehörige möglichst gut informiert sind. Das sollte von ärztlicher Seite erfolgen, nicht über Google oder Wikipedia. Aber letztendlich sind wir froh, wenn Patient/-innen uns gezielt Fragen stellen können. Deswegen machen wir viel Psychoedukation in diese Richtung.

Was können Migräne-Patient/-innen tun, um einer Depression vorzubeugen

Dr. Böger: Das ist individuell unterschiedlich. Ein wichtiger Punkt ist, dass sich Betroffene an die 10-Tage-Regel halten: Nicht mehr als zehn Tage pro Monat ein akut wirksames Medikament wie Ibuprofen oder Triptane einnehmen – sonst kann ein Medikamentenübergebrauchskopfschmerz entstehen. Wenn man darüber geht, landet man in einem Teufelskreis, aus dem man schwer allein herauskommt: Je mehr Pillen man nimmt, desto häufiger kriegt man Migräne. Wer sich dann in der chronischen Migräne befindet, bekommt möglicherweise auch zusätzliche Depressionen oder eine Angststörung.

Und wie lässt sich einer Migräne allgemein vorbeugen?

Dr. Böger: Täglicher Ausdauersport, Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelentspannung) und eine stabile Ernährung – z.B. nicht immer den Blutzuckerspiegel hoch und runter sausen zu lassen – können dabei helfen. Weitere Informationen gibt es in der OKK aber durchaus auch im Fernsehen, wie z. B. der Sendung „Ernährungs-Docs“ vom NDR.

Autor/-in
Maria Veselcic