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Wenn die Psyche den Körper krankmacht

Somatoforme Störungen – Interview mit Dr. Thorsten Bracher

Körperliche Symptome wie Kopf- und Rückenschmerzen, Schwindel oder anhaltende Magen-Darm-Beschwerden zählen zu den häufigsten Gründen, warum Patienten einen Arzt aufsuchen. Oft kann dieser aber keine organischen Ursachen feststellen. Doch das bedeutet nicht, dass der Patient sich sein Leiden nur einbildet. Dahinter können seelische Auslöser stecken. Die sogenannten somatoformen Störungen gehören neben Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen zu den häufigsten psychischen Störungen.

Wir haben mit Dr. Thorsten Bracher, Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville, darüber gesprochen, wie somatoforme Störungen entstehen und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.

Frage:  Was ist eine somatoforme Störung?

Dr. Thorsten Bracher: Somatoforme Störungen bilden eine Diagnosegruppe innerhalb der psychosomatischen Störungen. Es handelt sich um körperliche Beschwerden oder Symptome, die hauptsächlich seelisch verursacht werden.

Frage: Welche körperlichen Symptome sind typisch für eine somatoforme Störung?

Dr. Bracher: Länger anhaltende Schmerzen sind typisch. Also Schmerzen, die über Wochen und Monate bestehen. Sie treten oft in verschiedenen Körperregionen auf.  Am häufigsten handelt es sich um anhaltende Schmerzen im Bewegungsapparat, die nicht genau lokalisiert werden können. Sehr oft klagen die Patienten über Rückenschmerzen. Es kommt aber auch vor, dass die Menschen schmerzende Gelenke haben, Schmerzen zum Beispiel im Schultergürtel, den Armen und Beinen oder auch der Muskulatur.

Auch das Fibromyalgie-Syndrom weist Gemeinsamkeiten mit somatoformen Störung auf. Fibromyalgie-Patienten haben Muskelschmerzen in verschiedenen Körperregionen. Hinzu kommen Erschöpfung, Konzentrations- und Schlafprobleme, oft einhergehend mit niedergeschlagener Stimmung. Dazu muss man sagen: Die eindeutige Einordnung der Fibromyalgie als rein körperlich verursachte oder hauptsächlich seelisch bedingte Erkrankung ist auch in Fachkreisen immer noch umstritten. Die einen sehen in ihr eine körperliche Funktionsstörung, die durch eine Art Entzündungsreaktion, in der Muskulatur und im Bindegewebe, ausgelöst wird. Die anderen sind der Auffassung, so auch ich, es handele sich mehr um eine somatoforme Schmerzstörung.

Frage: Gibt es noch weitere körperliche Beschwerden, die auf eine somatoforme Störung hinweisen könnten?

Dr. Bracher: Kopfschmerzen zählen ebenfalls zu den körperlichen Beschwerden, die psychisch bedingt sein können oder bei deren Entstehung seelische Faktoren eine große Rolle spielen. Oder nehmen wir Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt. Wir sehen bei uns in der Klinik zum Beispiel Menschen, die unter großer Appetitlosigkeit leiden. Manche empfinden sogar einen regelrechten Ekel vor dem Essen. Anderen wird es nach dem Essen übel und sie müssen erbrechen. Verdauungsstörungen wie häufige Blähungen, Durchfälle oder Verstopfungen können ebenfalls Ausdruck einer somatoformen Störung sein. Das Gleiche gilt für die Diagnose „Reizdarm-Syndrom“: Auch dahinter kann sich eine somatoforme Störung verbergen.

Manche Frauen klagen über Schmerzen im Unterleib oder an der Blase, ohne dass ein krankhafter gynäkologischer oder urologischer organischer Befund vorliegt. Auch Hautprobleme, wie zum Beispiel Ekzeme, die sich organisch nicht erklären lassen, können ihren Ursprung in seelischen Problemen haben. Genauso ein Auftreten von Schwellungen im Unterhautgewebe oder Nesselsucht. Nicht zuletzt deshalb heißt es, dass nicht nur die Augen Spiegel der Seele sind, sondern auch die Haut.

Wir haben auch Patienten, die unter dem Gefühl von Luftnot leiden, ohne dass sie an einer Lungen- oder Bronchialkrankheit erkrankt sind. Oder solche, die über starkes Herzklopfen oder ein subjektives Gefühl von häufigem Herzstolpern klagen, ohne herzkrank zu sein. Untersuchungen, wie zum Beispiel ein Langzeit-EKG sind dann meist völlig unauffällig oder zeigen nur Minimalbefunde. Dennoch empfinden die Patienten ihre Symptome als bedrohlich. In ihrer Angst suchen sie vielleicht immer wieder Notaufnahmen auf, auch wenn sich dort immer wieder bestätigt, dass es keine oder nur unbedeutende Auffälligkeiten gibt.

Die Lebensqualität der Betroffenen ist in vielen Fällen stark gemindert. Die somatoforme Störung geht oft mit Einschränkungen im Alltag, im Beruf, in der Freizeitgestaltung oder in zwischenmenschlichen Beziehungen einher.

Frage: Was ist die Ursache für somatoforme Störungen?

Dr. Bracher: Die Ursache und das Bestehen somatoformer Störungen ist wie bei den meisten psychischen Störungen nicht von einem, sondern von vielen Faktoren abhängig. Viele Patienten mit somatoformen Störungen haben unsichere Bindungen in der Kindheit erlebt. Das können Eltern sein, die kein Interesse an ihrem Kind hatten, oder Eltern, die für das Kind emotional nicht zur Verfügung standen. Auch zerbrochene Familienstrukturen, traumatische Erlebnisse wie Misshandlung, Missbrauch und schwere Vernachlässigung spielen oft eine Rolle.

Diese Vorgeschichte kann dazu führen, dass Menschen später eine somatoforme Störung entwickeln. In vielen Fällen treten die somatoformen Störungen in belastenden oder konfliktreichen Lebensphasen auf. Oftmals weisen diese Belastungen Ähnlichkeiten mit den ungünstigen Erfahrungen in Kindheit und Jugend auf, zum Beispiel indem die Betroffenen sich allein und ohne Unterstützung erleben.

Es kommt aber auch vor, dass ein Patient eine völlig unauffällige Kindheit und Jugend erlebt hat, und bis dato seelisch völlig gesund war. Auch dann ist es möglich, in einer schwierigen und belastenden Lebenssituation eine somatoforme Symptomatik zu entwickelt. Zum Beispiel, wenn der Partner sich abwendet oder ein beruflicher Misserfolg eintritt. Das kann zu einer massiven Selbstwertkrise führen, die sich auch in körperlichen Symptomen äußert.  Dann wird der seelische Schmerz sozusagen in den Körper verlagert.

Frage: Gehen die somatoformen Störungen mit anderen psychischen Erkrankungen einher?

Dr. Bracher: Patienten mit einer somatoformen Störung erleben im Verlauf auch häufig eine Depression oder Angststörung. Umgekehrt treten bei Patienten mit einer Angststörung oder einer Depression im Verlauf der Erkrankung oft somatoforme Symptome hinzu.

Frage: Wie behandeln Sie in der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville somatoforme Störungen?

Dr. Bracher: Menschen mit somatoformen Störungen fällt es oft schwer, ihre Emotionen zu spüren und ausdrücken. Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Ärger oder Niedergeschlagenheit können sich dann körperlich ihren Weg bahnen. Der körperliche Schmerz ist sozusagen der Stellvertreter für den seelischen Schmerz. Unser Ziel ist es deshalb, die Patienten zu ihren Gefühlen hinzuführen. Damit sie einen besseren Zugang zu ihrer Trauer, ihren Ängsten oder auch ihrer Wut bekommen.

Das erreichen wir durch eine Kombination verschiedener Therapien. Die Patienten erhalten Psychotherapie in Einzelgesprächen und in der Gruppe. Darüber hinaus bieten wir Kreativtherapien wie Ergo-, Kunst- und Musiktherapie an. Auch körperorientierte Verfahren, wie die Tanz- und Bewegungstherapie, progressive Muskelentspannung, Achtsamkeitstraining und Yoga sind Teil der Behandlung. In den psychotherapeutischen Sitzungen stellen wir oft gemeinsam mit den Patienten fest, dass sie ihre seelische Befindlichkeit und ihre emotionalen Prozesse nur schwer in Worte fassen können. Über den künstlerischen Ausdruck oder die Körperarbeit können viele Patienten leichter an ihre (unterdrückten) Emotionen herankommen. Sie können sie spüren oder Themen erkennen, die für die Störungsentstehung relevant sind. Die in den Kreativ- und Körpertherapien gemachten Erfahrungen und ausgelösten Emotionen greifen wir dann wiederum in der Psychotherapie auf. Hilfreich für die Patienten ist auch das haltgebende und stützende Milieu in der Klinik und die Erkenntnis, dass sie mit ihren Beschwerden und Leidensgeschichten nicht allein sind.