Die stationsäquivalente Behandlung (Behandlung Zuhause) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ein Kind oder Jugendlicher steckt in einer akuten psychischen Krise, Suizidgedanken treten auf – eigentlich ein klarer Fall für eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung. Doch neben der Einweisung in eine entsprechende Klinik gibt es bei Vitos auch einen anderen Weg: Die Behandlung Zuhause. Bei der sogenannten stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung (kurz: StäB) für Kinder und Jugendliche kommt das therapeutische Team zum Patienten statt umgekehrt. Wie das Modell funktioniert und für welche Betroffene es eine gute Wahl sein kann, erklärt Dr. Christian Wolf, Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg.
Herr Dr. Wolf, wie sieht die stationsäquivalente psychiatrische Behandlung (Behandlung Zuhause) konkret aus?
Dr. Christian Wolf: Der Begriff „äquivalent“ besagt, dass etwas „gleichwertig ersetzt“ wird ohne identisch zu sein. „Stationsäquivalente Behandlung“ heißt also „stationsgleichwertig ersetzende Behandlung“. Genauer: Patienten, die so schwer erkrankt sind, dass sie eigentlich vollstationär behandelt werden müssten, erhalten stattdessen eine Therapie in ihrem gewohnten Lebensumfeld. An sieben Tagen pro Woche – also auch an Wochenenden und Feiertagen – besucht eine Person aus dem therapeutischen Team die Patienten zu Hause. Es geht aus Sicht der Klinik weg von einer „Komm-Struktur“ hin zu einer „Geh-Struktur“. Oder vereinfacht: Der Patient klingelt nicht an der Kliniktür, sondern der Therapeut oder die Therapeutin an der Haustür.
Wie kommt eine Patientin oder ein Patient konkret in die Behandlung Zuhause?
Dr. Wolf: Bei uns an der Vitos Kinder- und Jugendklinik in Marburg gibt es zunächst ein Vorgespräch in unserer Ambulanz, um die Indikation zur StäB stellen zu können. Darauf bereiten wir uns durch Sichtung von Vorbefunden und Berichten vor. Mit diesen Informationen und der Einschätzung einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin geht es dann in die multiprofessionelle Fallbesprechung. An dieser sind Ärzt/-innen, Psychotherapeut/-innen sowie Mitarbeiter/-innen aus dem Pflege- und Erziehungsdienst beteiligt.
Diese Fallbesprechung ist einmal pro Woche vorgeschrieben. Das ist auch fachlich zwingend notwendig, um sich als Team bezüglich Diagnose, Diagnostik und Therapie eng abzustimmen. Es müssen mindestens drei Berufsgruppen in einem StäB-Team vertreten sein. Jede/jeder fährt an einem anderen Tag zu den Patienten. Da muss eine Hand wissen, was die andere macht. In der Fallbesprechung entscheidet das Team über die Aufnahme und erstellt einen Behandlungsplan.
Für welche Patient/-innen ist die Behandlung Zuhause geeignet?
Dr. Wolf: Das Angebot befindet sich an unserer Klinik derzeit im Aufbau. Im Moment konzentrieren wir uns noch auf Jugendliche, die in einer betreuten Wohnform leben, weil das Zusammenleben in der Familie, aufgrund ihrer Erkrankung oder wegen anderer Umstände, nicht funktioniert. Wenn die Jugendlichen sich in dieser Wohngruppe eingelebt haben und dort gut zurechtkommen, ist es für sie manchmal schwer, vielleicht sogar kontraproduktiv, sie aus dem gewohnten Umfeld zu nehmen. Dann ist die Behandlung Zuhause ein großer Vorteil. Aber auch für Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien leben, kann es die bessere Wahl sein: Dann, wenn sie zum Beispiel Trennungsängste haben oder sich nur schwer aus den gewohnten und Sicherheit gebenden Strukturen lösen können.
Übrigens ist es auch für das Team eine ganz neue und wertvolle Erfahrung, die Patient/-innen nicht nur in der Klinik zu treffen, sondern zu Hause oder beim Spaziergang zu ihren Lieblingsplätzen. Hier kann die therapeutische Beziehung, die ja für den Behandlungserfolg extrem wichtig ist, ganz anders aufgebaut werden.
In welchen Fällen wäre eine Behandlung Zuhause nicht sinnvoll?
Dr. Wolf: Tatsächlich ist die Therapieform für die meisten Formen von psychischen Störungen gut geeignet. Aber es gibt auch Fälle, in denen es auf jeden Fall angezeigt ist, den geschützten Raum auf einer Kinder- und Jugendstation zu wählen. Das gilt zum Beispiel bei einer akuten Fremd- und Eigengefährdung, für Jugendliche mit Suchtproblemen ohne Motivation, abstinent zu leben, oder bei Essstörungen mit extremem Untergewicht. Hier ist das klinische Setting weiterhin nötig.
Und es gibt noch ein ganz praktisches Ausschlusskriterium: Die Patient/-innen müssen in einem gewissen Umkreis der Klinik wohnen, sodass es für das Team zeitlich machbar ist, die Strecke jeden Tag zurückzulegen.
Was ist mit Patient/-innen, die Suizidgedanken haben? Wenn sie im häuslichen Umfeld verbleiben, bedeutet das für die Betreuenden eine große Verantwortung und auch ein Risiko.
Dr. Wolf: Die Voraussetzung für eine Behandlung Zuhause ist, dass die Klinik im Hintergrund eine Notfallversorgung durch ihren ärztlichen Bereitschaftsdienst anbieten kann. Das heißt: Betreuende können sich im Notfall rund um die Uhr in der Klinik melden und dann wird alles Nötige veranlasst – in akuten Krisen auch mal mit Rettungswagen, Polizei und Einweisung.
In der Praxis hatten wir diesen Fall noch nicht, denn wir versuchen natürlich, Vorsorge zu treffen. Zu Beginn der Behandlung wird ein Vertrag mit den Patient/-innen geschlossen. Darin bestätigen sie mit ihrer Unterschrift, dass sie sich im Fall von Suizidgedanken an ihre Betreuer oder die Erziehungsberechtigten wenden. Jetzt könnte man sagen: „Was bedeutet schon ein Vertrag? Wenn sie sich wirklich mit dem Gedanken an Suizid tragen, werden sie trotzdem Versuche unternehmen.“ Wir stellen aber fest, dass dieser Vertrag für die Patient/-innen eine große Verbindlichkeit hat. Das funktioniert gut.
Sie haben erwähnt, dass sich das StäB-Angebot an Ihrer Kinder- und Jugendklinik noch im Aufbau befindet. Ist das ein Modell, das wachsen wird?
Dr. Wolf: Ich halte die Behandlung Zuhause für ein sehr gutes und wichtiges ergänzendes Angebot. Unsere Mitarbeiter/-innen im StäB-Team sind alle hoch motiviert und offen für die großen Vorteile, aber auch für die Herausforderungen, die dieses völlig andere Arbeiten mit sich bringt. Um der großen Nachfrage, die es jetzt schon gibt, nachkommen zu können und das Angebot auszubauen, brauchen wir aber noch viel mehr von diesen Mitarbeiter/-innen. Für Bewerbungen sind wir deshalb immer offen!
Hier geht´s zu unserem Karriereportal: https://karriere.vitos.de/
Und hier gibt es weitere Infos über die stationsäquvivalente Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: www.vitos.de/kjp-marburg
0 Kommentare Kommentieren