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Wenn Schmerzen ein Hilferuf der Psyche sind

Dr. Thorsten Bracher über somatoforme Schmerzstörungen, ihre Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten

Über Jahre hinweg schmerzt der Rücken oder die Gelenke. Aber eine körperliche Ursache gibt es nicht. Jedenfalls keine, die eine ausreichende Erklärung für die starken Schmerzen liefern würde. – So oder ähnlich kann sich eine somatoforme Schmerzstörung äußern. In der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville behandeln Klinikdirektor Dr. Thorsten Bracher und sein Team die Betroffenen, die oftmals schon zahlreiche Untersuchungen hinter sich haben und eine lange Krankengeschichte mitbringen. Im Interview schildert er, wie sich eine somatoforme Schmerzstörung entwickelt und wie die Behandlung aussieht.

Was ist eine somatoforme Schmerzstörung?

Dr. Thorsten Bracher: Das sind Schmerzen, die länger als sechs Monate anhalten und für die keine ausreichende körperliche Erklärung gefunden werden kann. Es gibt noch eine Unterform, die häufig vorkommt: Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Hierbei haben die Schmerzen also sowohl körperliche als auch seelische Ursachen. Nehmen Sie als Beispiel einen Patienten, der eine Bandscheibenvorwölbung und starke Schmerzen hat. Es liegt also eine körperliche Funktionsstörung vor. Aber sie erklärt das unangemessen hohe Schmerzerleben nicht. Das ist recht typisch: Wir sehen viele Patienten, die Schädigungen im Bewegungsapparat mitbringen und in der Folge Schmerzen haben. Aber diese Schmerzen breiten sich oft über die Region hinaus aus, in der die körperliche Ursache zu finden ist. Also zum Beispiel über den gesamten Rücken, über die Schulter-Nacken-Region bis in den Kopf.

Mit welcher Art von Schmerzen kommen die Patientinnen und Patienten zu Ihnen in die Klinik?

Dr. Bracher: Die Schmerzen können eigentlich überall sein. Da gibt es keine Einschränkungen. Wir sehen bei unseren Patienten unerklärliche Kopfschmerzen, Schmerzen in der Muskulatur oder im Bauch. Am häufigsten sind Schmerzen im Bewegungsapparat, vor allem im Rücken, im Schulter-Nacken-Bereich, in den Gelenken. Manchmal sehen wir auch eine Kombination von Schmerzen in Gelenken und der Muskulatur.

Dr. Thorsten Bracher ist Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie

Dr. Thorsten Bracher

Wie stark sind die Betroffenen durch die Schmerzen beeinträchtigt, wenn sie zu Ihnen in die Klinik kommen?

Dr. Bracher: Viele Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, sind durch die Symptomatik sehr gequält und beeinträchtigt. Wenn die Schmerzen der Aufnahmegrund sind, dann sind sie zumeist sehr ausgeprägt. Die Betroffenen können meist nicht arbeiten, sind bereits länger krankgeschrieben oder in Frührente. Auch ihr soziales Leben leidet, weil sie ihre Aktivitäten stark einschränken müssen. Sie sind so stark mit ihren Schmerzen beschäftigt, dass die Beziehungen zu anderen Menschen leiden. Manchmal kommen die Betroffenen auch wegen einer ganz anderen Störung zu uns, beispielsweise einer Depression. Und dann stellen wir bei der Anamnese fest, dass es da auch noch eine chronische Schmerzsymptomatik gibt.

Welchen Personenkreis betrifft dieses Störungsbild vor allem?

Dr. Bracher: Unter den Hilfesuchenden, die zu uns kommen, sind mehr Frauen. Ich bezweifle allerdings, dass tatsächlich mehr Frauen betroffen sind. Es ist wohl eher so, dass Frauen dem Erklärungsmodell „Ihre Schmerzen sind psychisch bedingt“ offener gegenüberstehen als Männer. Letztere lehnen eine psychische Ursache als Erklärungsmodell häufiger ab und versuchen stattdessen, die Schmerzen mit anderen Mitteln in den Griff zu bekommen.

Gibt es eine bestimmte Altersgruppe, die stärker betroffen ist?

Dr. Bracher: Die Menschen, die wir wegen einer somatoformen Schmerzstörung in unserer Klinik behandeln, stehen häufig in der Mitte des Lebens. Sie sind etwa zwischen Mitte 30 und Ende 50 Jahre alt. Letztlich können aber alle Altersgruppen betroffen sein.

Was sind Risikofaktoren, um an einer somatoformen Schmerzstörung zu erkranken?

Dr. Bracher: Wie für alle somatoformen Störungen gilt: Menschen, die eine solche Erkrankung entwickeln, waren überdurchschnittlich häufig bereits in der Kindheit, vor allem in der frühen Kindheit, erheblichen Belastungen ausgesetzt. Sie stammen also beispielsweise aus schwierigen Familienverhältnissen, haben emotionale Vernachlässigung oder auch Gewalt erlebt. Vor allem Gewalterfahrungen oder Missbrauch in der Kindheit können sehr schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben. Ein ganz erheblicher Risikofaktor, um eine somatoforme Störung zu entwickeln, ist eine Bindungsstörung. Sie kann entstehen, wenn Kinder in der frühen Kindheit keine Möglichkeit haben, eine stabile, verlässliche, haltgebende Bindung zu mindestens einer ihrer wichtigsten Bezugsperson aufzubauen.

Warum besteht dieser Zusammenhang?

Dr. Bracher: Das hängt mit der Struktur des menschlichen Gehirns zusammen. Die betreffenden Gehirnareale – das limbische System und der Thalamus – sind eng miteinander verknüpft. Sie sind für die Verarbeitung von Emotionen und Schmerzen zuständig. Vereinfacht gesagt: Bei sehr negativ erlebten Emotionen oder hohem psychischen Leid kann die Erregung überspringen in den Bereich des Gehirns, der körperlichen Schmerz verarbeitet, wodurch psychischer Schmerz als physischer wahrgenommen werden kann. Geschieht dies oft und ausgeprägt, kann daraus eine Verknüpfung zwischen psychischem und körperlichem Schmerz entstehen, die zeitlebens bestehen bleiben kann.

Kann also die Biografie Aufschluss geben, ob es sich um eine somatoforme Störung handelt?

Dr. Bracher: Durch die biografische Anamnese lässt sich tatsächlich manchmal erahnen, dass es schädigende Einflüsse gegeben haben muss. Ein Beispiel: Ein Patient, der emotionale Schwierigkeiten hatte, berichtete uns, dass auch seine Eltern emotional sehr verschlossen waren. Dann stellte sich heraus, dass sein Vater nach dem Krieg geflüchtet war und auf der Flucht seinen Vater verloren hatte. Die Mutter war von der eigenen Mutter wiederum ständig geschlagen worden. Manchmal werden diese schädigenden Einflüsse dann indirekt in der Familie weitergegeben. Das findet über psychologische Prozesse statt, aber auch über neurobiologische und (epi)genetische. Ein anderes Beispiel: Eine Mutter, die vor oder während der Schwangerschaft erheblichem psychischen Stress ausgesetzt war und beispielsweise Gewalterfahrungen erleiden musste, kann diese Information auf das Kind übertragen. Das Kind kommt dann schon mit einer geschädigten Stressbewältigung zur Welt und hat ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.

Mit welcher Krankengeschichte kommen die Patient/-innen in der Regel zu Ihnen?

Dr. Thorsten Bracher: Viele haben natürlich lange Krankheitsgeschichten hinter sich mit verschiedenen somatischen Abklärungsversuchen. Es gab also bereits viele erfolglose Versuche, eine körperliche Ursache zu finden. Die Betroffenen haben schon einen Rheumatologen, einen Neurologen oder einen Orthopäden konsultiert, bevor sie zu uns kommen. Relativ typisch ist auch eine große Anzahl an Untersuchungen, angefangen von Tests zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten über Magen-Darm-Spiegelungen bis hin zu einem MRT. Dabei kommt dann oft nichts Wegweisendes heraus, dass die Schmerzen erklären könnte. Das ist ganz typisch.

Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville

Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville

Wie gehen die Patientinnen und Patienten damit um, wenn sie erfahren, dass ihre Schmerzen keine körperliche Ursache haben?

Dr. Bracher: Viele Patienten haben leider eher Probleme damit, eine psychosomatische Ursache zu akzeptieren. Das erleben wir oft. Die Reaktion ist häufig: „Aber ich habe die Schmerzen doch. Ich bilde mir das nicht ein“. Dass es die Schmerzen tatsächlich gibt, bezweifeln wir auch nicht. Wir sagen eben nur, dass die Ursache nicht körperlich, sondern psychisch ist. Oftmals müssen wir viel Arbeit leisten, um bei Patientinnen und Patienten ein psychosomatisches Krankheitsverständnis zu etablieren. Es ist oft nicht leicht, Patienten auf diesen Pfad zu führen. Es gibt aber auch Patienten, die dieses Erklärungsmodell schnell akzeptieren. Die Akzeptanz ist wichtig, um die somatoforme Schmerzstörung gut behandeln zu können.

Was ist das Behandlungsziel?

Dr. Bracher: Als Behandlungsziel wünschen wir uns natürlich Symptomfreiheit. Leider können wir das nicht immer erreichen. Denn die somatoforme Schmerzstörung, mit der die Patienten zu uns kommen, besteht oft bereits länger und ist teilweise schon chronifiziert. Es ist daher wichtig, mit den Patienten realistische, d. h. erreichbare Therapieziele zu erarbeiten. In vielen Fällen können wir zumindest eine Schmerzlinderung erzielen, den Umgang mit der Schmerzsymptomatik verbessern und den Leidensdruck insgesamt deutlich mindern.

Wie sieht die Behandlung bei diesem Störungsbild in Ihrer Klinik aus?
So sieht es drinnen aus

Innenansicht der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville

Bracher: An erster Stelle steht die Psychotherapie, die dem Patienten die aktuellen Belastungen und auch Konflikte bewusstmacht. In der Psychotherapie arbeiten wir gemeinsam mit dem Patienten an Strategien, um den Umgang mit den Belastungen zu verändern und Konfliktdynamiken möglichst zu lösen. Ergänzend kommen verschiedene weitere Therapieverfahren in Frage. Dazu zählen Achtsamkeits- und Entspannungstrainings. Einen hohen Stellenwert hat die Körper- und Bewegungstherapie. Die Physiotherapie kann ebenfalls sehr wichtig sein, zum Beispiel, weil hier körperliche Verspannungen aufgelöst werden können, die den Schmerz verstärken oder unterhalten. Kreativtherapie, wie Musik- oder Ergotherapie, sind ebenfalls ein Baustein. Die Körper- und Kreativtherapien ermöglichen es vielen Patienten erstmals wieder, einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und zu äußern. In manchen Lebensumständen sind Ärger und Wut ja angemessene Emotionen – aber unsere Patienten sind oftmals gar nicht in der Lage, ihre Emotionen wahrzunehmen. Deshalb reagiert der Körper auch mit Schmerz – er ist dann stellvertretend Ausdrucksmittel für die Emotionen. Nicht zuletzt setzen wir auch Medikamente ein, beispielsweise Antidepressiva mit schmerzlindernder Wirkung.

Zum Abschluss: Können Sie noch ein Beispiel aus der Praxis schildern?

Dr. Bracher: Ja, wir haben hier vor einiger Zeit eine 60-jährige Patientin behandelt, die mit einer langen Schmerzgeschichte zu uns kam. Sämtliche Gelenke und auch die Muskulatur waren betroffen. Als sie zu uns kam, war sie auf eine hohe Dosis eines stark wirkenden, opiathaltigen Schmerzmittels eingestellt und konnte nur mit Hilfe eines Rollators laufen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Es stellte sich heraus, dass sie in einer sehr konflikthaften Partnerschaft mit einem Partner lebte, der sehr lieblos und desinteressiert war und sie verbal herabsetzte. Von diesem Partner konnte sie sich allerdings nicht lösen. Sie hatte kaum Kontakt zu ihren Kindern. Hinzu kam, dass sie sich im beruflichen Alltag durch ihren neuen Vorgesetzten ungerecht behandelt und herabgesetzt fühlte.

Dann stellte sich in der Psychotherapie heraus, dass sie als Kind von einem nahen männlichen Angehörigen missbraucht worden war. Die Mutter wusste davon, reagierte aber nicht und schützte ihre Tochter auch nicht. Im Zug der Psychotherapie hatte sich die Erinnerung an den Missbrauch eingestellt. Wir haben in der psychotherapeutischen Behandlung mit ihr gemeinsam die vielen Ressourcen der Patientin herausgearbeitet.

Außerdem haben wir auf Ihren Wunsch hin den Ehemann zu Paargesprächen eingeladen und die Patientin konnte dabei dem Ehemann ihre Unzufriedenheit mit der Partnerschaft mitteilen, woraufhin der Mann tatsächlich sein Verhalten zu verändern begann. Das hat sie gestärkt und ihr das Gefühl gegeben, wieder mehr Kontrolle über ihr Leben zu haben. Das hat sie motiviert und wieder Hoffnung und Zuversicht entstehen lassen. Wir nennen das Selbstwirksamkeitserleben. In der Folge konnten wir die Dosierung der Schmerzmittel herabsetzen und diese dann sogar ganz absetzen. Letztlich haben wir die Patientin mit deutlich gebesserter Symptomatik aus der Behandlung entlassen.

Zur Person: Dr. Thorsten Bracher ist Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville. Die Klinik bietet 26 vollstationäre Behandlungsplätze und liegt auf dem historischen Eichberg in Eltville in einem großzügigen Landschaftspark. Zu den Behandlungsschwerpunkten der Klinik gehören somatoforme Störungen aller Art, außerdem Depressionen, Angststörungen, Störungen des Essverhaltens und Stressfolgeerkrankungen. Dr. Bracher ist außerdem Klinikdirektor Vitos Klinik für Psychosomatik Bad Homburg.

Weitere Informationen zu den Kliniken in Eltville und Bad Homburg erhalten Sie hier:

Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville [1]

Vitos Klinik für Psychosomatik Bad Homburg [2]

Bei Fragen rund um die psychosomatische Behandlung steht Ihnen unser hessenweiter Vitos Aufnahmeservice Psychosomatik [3] zur Seite. Sie erreichen ihn telefonisch unter der kostenlosen Rufnummer 0800 – 8 48 67 00.