
24 Nov. Wenn Stress krank macht
Stress hat unterschiedliche Gesichter und vielfältige Ursachen. Auch der Umgang mit Situationen, die Stress auslösen, ist individuell verschieden. Eines aber ist allen Formen von Stress gemein: Sind Menschen dauerhaft gestresst, so können sie krank werden. Welche Folgen Stress für die Gesundheit haben kann, schildert Dr. Doris Klinger im Interview. Sie ist stellvertretende Klinikdirektorin der Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster und behandelt unter anderem Patientinnen und Patienten, die unter Stresserkrankungen und stressinduzierten Schmerzen leiden.
Was genau ist Stress?
Dr. Klinger: Stress ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Er versetzt unseren Körper in Alarmbereitschaft, damit wir auf Gefahren und Bedrohungen angemessen reagieren können. Der Körper schüttet dann die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Die Atemfrequenz steigt, der Blutdruck ebenfalls. All das bewirkt, dass kurzzeitig unser Leistungsvermögen steigt. Evolutionsbiologisch betrachtet, besaß Stress für den Menschen eine wichtige Funktion: Sind unsere Vorfahren einem Bären begegnet, hat sich ihr Körper zu Angriff oder Flucht bereit gemacht.
Und heute?
Dr. Klinger: Daran hat sich im Grunde nichts geändert. Das Stresssystem ermöglicht uns, mit besonderen Herausforderungen umgehen zu können. Wir können dann kurzzeitig Kräfte mobilisieren, wenn es darauf ankommt. Sich Herausforderungen zu stellen, schult das Stresssystem und fördert die Resilienz. Es ist deshalb auch nicht hilfreich, von Kindern alles fernzuhalten, was bei ihnen Stress auslösen könnte. Denn dann haben sie keine Gelegenheit, sich in der Bewältigung von schwierigen Situationen zu üben.
Ein bisschen Stress tut uns also gut?
Dr. Klinger: Ja, das kann man so sagen. Es gibt sogar positiven Stress, so genannten Eustress. Der Mensch ist allerdings nicht darauf ausgerichtet, sich dauerhaft Situationen auszusetzen, die für ihn zu Stress führen. Im Zustand der Alarmbereitschaft drosselt der Körper andere Funktionen und Systeme, die er gerade nicht benötigt. Dazu gehört auch das Immunsystem. Das ist einer der Gründe dafür, dass anhaltender Stress negative Folgen für die Gesundheit haben kann. Die Frage ist also tatsächlich, wie wir die Balance halten. Dabei spielt der Lebensstil eine wesentliche Rolle: Gönnen wir uns genug Schlaf? Sorgen wir für ausreichend Bewegung?
Wie viel Stress ist noch gut und ab wann wird Stress schädlich?
Dr. Klinger: Das Stresssystem ist komplex und sieht bei jedem Menschen anders aus. Die neuro-biologische Prägung dazu erfolgt in den ersten Lebensjahren. Was wir als Belastung oder Herausforderung erleben und wie wir damit umgehen, hängt mit dieser Prägung zusammen. Aber selbst jemand, der ein sehr belastbares Stresssystem hat, seinem Leben aber keine Pausen gönnt und Warnsignale des Körpers über längere Zeit ignoriert, gelangt irgendwann an Grenzen.
Welche Warnsignale sind das?
Dr. Klinger: Zum Beispiel mangelnde Entspannungsfähigkeit, Schlafstörungen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Reizbarkeit. Dazu können weitere körperliche Beschwerden kommen wie etwa eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte, Körpersymptome oder auch Schmerzen, für die es keine erkennbare körperliche Ursache gibt.
Welche Schmerzen können durch Stress ausgelöst werden?
Dr. Klinger: Es gibt eine ganze Reihe von Schmerzen und Symptome, deren Ursache stressinduziert sein kann. Das gilt beispielsweise für Magen-, Rücken-, Kopf- oder auch für Kieferschmerzen, die so genannte Craniomandibuläre Dysfunktion. Rückenschmerzen haben sogar sehr häufig keinen rein organischen Befund. Wenn wir Angst haben oder angespannt sind, erhöht sich der Muskeltonus, also die Anspannung der Muskeln. Das kann auf Dauer zu Schmerzen führen. Vielen Patientinnen und Patienten ist dieser Zusammenhang nicht klar. Ein anderes Beispiel: Nächtliches Zähneknirschen kann sowohl zu Schmerzen in den Kiefergelenken, in Gesicht, Kopf oder Nacken führen als auch zu Zahnschäden. Zusätzlich zu einer zahnärztlichen Behandlung ist es wichtig, nach den Ursachen des Zähneknirschens zu schauen. Manchmal liegt es an einer hohen und dauerhaften Stressbelastung im Kontext der Lebensführung und Prägung.
Wie gehen Patient/-innen damit um, wenn es für ihre Schmerzen keine rein körperliche Ursache gibt?
Dr. Klinger: Ich höre öfter den Satz: „Ich wünschte, ich hätte eine körperliche Diagnose. Dann hätte ich mehr Klarheit.“ Es fällt vielen schwer zu akzeptieren, dass die Schmerzen da sind, auch wenn sich keine organische Ursache finden lässt. Dass es um eine Stresserkrankung geht, und eine psychosomatische Behandlung indiziert ist. Das ist kein Stigma, sondern mutig, dies anzugehen.
Welches Behandlungsangebot machen Sie Patient/-innen, die mit stressinduzierten Schmerzen zu Ihnen kommen?
Dr. Klinger: Wichtig ist zu verstehen, dass es in der psychosomatischen Medizin nicht um ein Entweder-Oder geht. Wir betrachten immer Körper und Psyche in seiner gegenseitigen Wirkung aufeinander, auch im wissenschaftlichen Kontext. Wenn ein Patient zu uns kommt, befassen wir uns sehr ausführlich mit seiner Krankengeschichte und den vorhandenen Befunden. Wir machen eine ausführliche Diagnostik, bei der wir auch die Lebensumstände betrachten. Wir schauen sehr genau auf die individuellen Gründe, die zu dem anhaltend hohen Stresslevel geführt haben. Eine ärztlich-medizinische Behandlung ist ebenso „inklusive“ im psychosomatischen Kontext. Manchmal ziehen wir konsiliarisch auch Kollegen aus anderen Fachbereichen hinzu, zum Beispiel aus der Neurologie. Im Anschluss an die Diagnostik beginnen wir mit der Behandlung, die zum Beispiel bei stressinduzierten Schmerzen dazu beitragen soll, die Lebensqualität positiv zu beeinflussen. Kurz gesagt geht es in der psychosomatischen Behandlung darum, rückwärts zu verstehen und vorwärts zu verändern.
Welche Behandlungsmethoden wenden Sie dabei an?

Musiktherapie kann helfen, chronische Schmerzen zu lindern
Dr. Klinger: In Frage kommen eine ganze Reihe von Therapiemöglichkeiten. Bewegungstherapie ist häufig ein wichtiger Baustein. Mit regelmäßiger Bewegung lässt sich bei vielen Patientinnen und Patienten schon einiges bewirken. Ebenfalls wichtig ist ausreichend Schlaf und eine geeignete Schlafhygiene. Für viele Patientinnen und Patienten ist es sinnvoll, Entspannungstechniken zu erlernen; Musiktherapie ermöglicht einen Zugang zum limbischen System, also zu den Gefühlen und wirkt beispielsweise gut bei Patient/-innen, die unter chronischen Schmerzen leiden. Auch Physiotherapie gehört zu unserem Behandlungsangebot. Außerdem planen wir, Biofeedbacktherapie anzubieten. Psychoedukationen und Vorträge über das Stresssystem und Schmerzen im wissenschaftlichen Kontext finden ebenfalls statt: Die Patienten lernen dabei viel über ihre Symptome und deren Ursprung. Das hilft ihnen zu verstehen, was bei ihnen die Schmerzen und Stresssymptome verursacht und wie sie diesen Ursachen begegnen können.
Welche Rollen spielen Einzel- oder Gruppentherapie?
Dr. Klinger: Dort befassen sich die Patientinnen und Patienten inhaltlich mit ihren Gefühlen oder damit, wie sie Beziehung zu sich und anderen Menschen gestalten – sozusagen Mikrokosmos im Makrokosmos. Stresserkrankungen können ihre Ursache auch in sozialer Ausgrenzung oder einer fortwährenden Selbstentwertung haben. Die Betroffenen machen dann in der Gruppentherapie beispielsweise die Erfahrung, dass sie geschätzt werden. Diese Erfahrung kann bei der Genesung helfen. Gruppentherapie schafft häufig eine gute Grundlage, um den Umgang mit sich selbst neu zu lernen. Hierbei kann es um das Überlernen von schwierigen Beziehungserfahrungen mit anderen und sich selbst gehen in einem interaktionellen Kontext. Das Gute ist, dass das Gehirn neuroplastisch ist – das heißt, bis zu einem gewissen Grad kann man überlernen.
Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster
Die Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster behandelt Erkrankungen aus dem gesamten psychosomatischen und psychotherapeutischen Diagnosespektrum. Einer ihrer Behandlungsschwerpunkte sind Stimm- und Spracherkrankungen.
Fragen zu freien Behandlungsplätzen und eventuellen Wartezeiten beantwortet der zentrale, hessenweite Vitos Aufnahmeservice Psychosomatik montags bis freitags von 7 bis 19 Uhr und samstags von 7 bis 12 Uhr unter der kostenlosen Tel. 0800 – 8 48 67 00. Weitere Informationen finden Sie hier.