
29 Jan. „Wir können etwas bewegen!“
Bei Kindern und Jugendlichen sind Krankheitsbilder weniger manifest als bei Erwachsenen
Sie sind sich noch nie begegnet, aber in einem wären sie sich sofort einig: Pooria Rahmatinezhad und Tamara Diepold würden nirgends sonst arbeiten wollen als in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Oberarzt ist in der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg vor allem für Kinder zwischen fünf und neun Jahren mit verschiedenen Krankheitsbildern zuständig. Die Stationsleiterin Tamara Diepold im Vitos Klinikum Rheingau hat mit jungen Menschen zwischen 15 und 18 Jahren zu tun, die an affektiven Störungen leiden. Sie leitet außerdem die Akutaufnahme.
Was fasziniert Sie an der Kinder- und Jugendpsychiatrie?
Rahmatinezhad: Ich wollte immer Psychiater werden und mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen, weil die Kinder- und Jugendpsychiatrie hier ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet ist. Bei Kindern und Jugendlichen ist ein Krankheitsbild oder eine Störung nicht so zementiert wie bei einem Erwachsenen. Wir können mehr intervenieren. Ich beschreibe das mal in einem Bild: Ein altes Haus ist schwerer zu sanieren als eines, das vor noch nicht langer Zeit gebaut wurde.
Diepold: Das sehe ich ähnlich. Bei Kindern und Jugendlichen können wir noch etwas bewegen. Ich war während meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester (heute Gesundheits- und Kinderkrankenpflege) für einen Praxiseinsatz hier in der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Eltville. Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass ich in diesem Bereich arbeiten möchte. Anders als etwa in einem Akutkrankenhaus bleiben die Patientinnen und Patienten bis zu drei Monate hier, manchmal auch länger. Ich habe mehr Zeit, mich ihnen zu widmen und sie zu begleiten.
Unterscheiden sich die Krankheitsbilder von Kindern und Erwachsenen?

Pooria Rahmatinezhad, 36, Psychiater und Oberarzt in der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg
Rahmatinezhad: Ja, die Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich generell etwas von denen bei Erwachsenen. Kinder und Jugendliche erkranken weniger häufig an Schizophrenie, auch die klassische Depression wird bei Erwachsenen öfter diagnostiziert. Stattdessen gibt es bei Kindern und Jugendlichen eher Ausscheidungsstörungen, ADHS und Teilleistungsstörungen.
Haben Sie seit der Covid-Pandemie Veränderungen bei den jungen Menschen festgestellt?
Diepold: Wir beobachten, dass soziale Ängste ausgeprägter sind. Teenager, die sich während der Pandemie zurückgezogen haben, tun sich schwer damit, in Klassenräumen auf einmal auf so viele Gleichaltrige zu treffen. Diese Zeit hat manch einem Jugendlichen schwer zugesetzt.
Anders als bei erwachsenen Patienten haben Sie es mit vielen weiteren Akteuren und Akteurinnen zu tun wie Jugendamt, Schule und Eltern. Ist das aufwendig oder hilfreich?
Diepold: Es kann beides sein. Wenn diese Menschen unsere Patienten wohlwollend begleiten, ist das für uns eine Stütze. Sind sie aber skeptisch und ablehnend, erschwert es unsere Arbeit.
Rahmatinezhad: Stimmt. Wir haben es mit viel mehr Personen zu tun. Auch die Arbeit in unserem Team unterscheidet sich von der in Krankenhäusern für somatische Erkrankungen. Kollegen und Kolleginnen aus verschiedenen Disziplinen besprechen ausführlich das Verhalten der Kinder und tauschen sich aus. Und jede Disziplin ist so viel wert wie die andere. Wir sind wie die Besatzung auf einem Schiff – es funktioniert nur gemeinsam.
Diepold: Es geht lockerer zu als in dem sehr hierarchischen System von Krankenhäusern, obwohl es bei uns auch nicht hierarchiefrei ist. Unser Team besteht aus Erziehern und Heilerziehungspflegerinnen, Pflegefachpersonen, also dem Pflege- und Erziehungsdienst, sowie Therapeutinnen und Psychiatern. Außerdem gehören der Sozialdienst dazu und die Kollegen und Kolleginnen aus der Kunst-, Bewegungs- und Musiktherapie. Wir versuchen sehr viel in den Austausch miteinander zu gehen. Der Pflege- und Erziehungsdienst hat den intensivsten Kontakt, wir sind 24 Stunden für die Patienten und Patientinnen da.
Sie betonen häufig den Unterschied zu anderen medizinischen Fachdisziplinen.
Rahmatinezhad: Psychiatrische Diagnosen folgen nicht so eindeutigen und objektiven Kriterien wie etwa eine Appendizitis. Auch die Behandlung ist nicht so einfach. Wir folgen dem biopsychosozialen Modell, wobei wir davon ausgehen, dass biologische, psychische und soziale Faktoren mit ihren Wechselwirkungen bei Krankheiten zusammenwirken. Dementsprechend versuchen wir mit Psychotherapie, erzieherischer Unterstützung und Medikation einzuwirken. Es ist komplizierter.
Woran denken Sie gern zurück, was macht Sie stolz?

Tamara Diepold, 30, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin und Stationsleiterin der Akutaufnahme im Vitos Klinikum Rheingau
Diepold: Ich kann mich an einen Patienten erinnern, der sehr ablehnend auf uns reagiert hatte. Als er die Station verließ, sagte er: „Sie konnten mir wirklich helfen.“ Das hat mich sehr gefreut. Wir haben zurzeit einen jungen Mann, der mit Suizidabsichten zu uns kam. Nun erleben wir, wie er Schritt für Schritt wieder am Leben teilnimmt. Das ist für uns auch erfüllend.
Rahmatinezhad: Ich erinnere mich nicht an einen besonderen Fall, sondern an verschiedene Kinder. Wenn Kinder, die vielleicht zwei Jahre nicht mehr in die Schule gingen oder sich selbst verletzten, die sich in ihr Zimmer zurückzogen oder vollkommen außer Rand und Band waren, wenn diese Kinder wieder die Schule besuchen, in die Familie zurückfinden, sich nicht mehr verletzen, dann ist das ganze Team stolz, dass uns das gelungen ist.
Was sollte jemand für die Arbeit mitbringen?
Rahmatinezhad: Eine gute Voraussetzung wäre, auf sich selbst neugierig und bereit zu sein, die eigene Kindheit anzuschauen. Zu meiner 60-monatigen Facharztausbildung gehören 200 Stunden Selbsttherapie. Man sollte sich selbst gut kennen und es aushalten können, wenn Kinder und Jugendliche aggressiv sind oder sehr traurig und mit heftigen Lebensgeschichten zu uns kommen.
Diepold: Das ist eine Gratwanderung, auf der einen Seite Empathie für die Patienten zu haben, aber deren Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen. Professionelle Nähe und Distanz ist immer ein Thema in unserem Beruf. Man muss schon dafür gemacht sein, mit schwierigen Störungsbildern klarzukommen und sollte über gute Ressourcen verfügen.
Rahmatinezhad: Körperlich anstrengend ist der Beruf nicht, aber seelisch. Und es gibt keine schnellen Erfolge. Das klingt jetzt alles so schwer. Die Arbeit mit Kindern kann richtig schön sein und lustig, wir lachen mit den Kindern, wir kochen, wir spielen zusammen. Wir sollten natürlich up to date sein, was Siebenjährige gerade interessiert, also ich kenne mich bestens bei den angesagten Hörspielfiguren aus. Jeder Tag ist anders.