„Wir können schnell erkennen, wo im Alltag die Probleme liegen“

Vitos behandelt psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche bei Bedarf auch zu Hause.

„Wir können schnell erkennen, wo im Alltag die Probleme liegen“

Klinikdirektor Dr. Christoph Andreis schildert im Interview, welche Vorteile die häusliche Behandlung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen hat.

Manchmal können Kinder und Jugendliche nicht im Krankenhaus behandelt werden, selbst wenn sie schwer psychisch erkrankt sind. Ein Team aus der Klinik kommt dann zu den jungen Patient/-innen nach Hause. „Vitos Behandlung Zuhause“ ist ein noch recht junges Behandlungsmodell in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Herborn hat es vor zwei Jahren eingeführt. Welche Erfahrungen sie bisher damit gemacht hat, schildert Klinikdirektor Dr. med. Christoph Andreis im Interview.

Für welche Kinder und Jugendliche ist das Angebot besonders geeignet?

Dr. med. Christoph Andreis, Klinikdirektor der vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Herborn

Dr. med. Christoph Andreis, Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Herborn

Dr. Christoph Andreis: Für diejenigen, die nicht in die Klinik kommen können oder wollen, obwohl sie so krank sind, dass wir sie eigentlich stationär behandeln müssten. Das sind beispielsweise Kinder, die noch sehr jung sind und noch nie für längere Zeit von daheim weg waren – zum Beispiel Kinder im Vorschulalter, denen sogar die Erfahrung einer kurzen Klassenfahrt fehlt und die oft auch noch nicht reif und alt genug sind, um so lange getrennt von den Eltern zu sein. Da wir keine Station haben, auf der wir Eltern gemeinsam mit ihren Kindern unterbringen können, ist ein Klinikaufenthalt für diese jungen Patientinnen und Patienten mit einer hohen Hürde verbunden. Auch Kinder und Jugendliche, die auf einen Wechsel ihres gewohnten Settings stark reagieren, profitieren von dem Angebot. Das sind beispielsweise Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung, mit Bindungsstörungen oder einer Autismus-Spektrum-Störung.

Erinnern Sie sich an einen Patienten oder eine Patientin, die besonders gut von diesem Behandlungsmodell profitiert hat?

Dr. Andreis: Wir hatten eine Patientin, die seit ihrem zehnten Lebensjahr immer wieder bei uns in der Klinik behandelt wurde. Es gab traumatisierende Ereignisse in ihrer Kindheit, sie zeigte damals massiv aggressives Verhalten. Als sie 17 Jahre alt war, meldete sie sich nach längerer Zeit wieder bei uns. Inzwischen hatte sie depressive Symptome entwickelt. Sie wollte allerdings nicht stationär aufgenommen werden. Auf „Behandlung Zuhause“ konnte sie sich einlassen. Sie hat davon stark profitiert, viel mehr sogar, als wir erhofft hatten.

Können Sie das erläutern?

Dr. Andreis: Dadurch, dass wir sie zu Hause behandelt haben, konnten wir gemeinsam mit ihr sehr zielgenau an ihren Problemen arbeiten. Sie hatte die Tendenz entwickelt, sich daheim zu isolieren und dort zu verwahrlosen. Wir haben sie schrittweise dabei begleitet, raus zu gehen und für sich eine Perspektive zu entwickeln.

Ist es ein Vorteil, dass Sie das häusliche Umfeld in die Behandlung einbeziehen können?

Dr. Andreis: Ja, unbedingt. Wenn wir die Familien zu Hause aufsuchen, können wir schneller erkennen, wo im Alltag mögliche Ursprünge einer Erkrankung liegen. Ein einfaches Beispiel: Es kann schon eine Erklärung für das Einnässen eines Kindes sein, wenn im Flur das Licht kaputt ist und im Bad die Heizung. So etwas bekommen wir oftmals in der Klinik nicht ohne weiteres mit, weil wir dann ausschließlich auf die Schilderungen der Familien und die Beobachtungen des Kindes auf Station – und damit in einer für das Kind fremden Umgebung – angewiesen sind.

Welche weiteren Vorteile gibt es?

Vitos Behandlung Zuhause Herborn

Das Team von Vitos Behandlung Zuhause Herborn: Seit zwei Jahren gibt es das Angebot für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche.

Dr. Andreis: Die Kinder und Jugendlichen können ihren gewohnten Alltag beibehalten, einschließlich des Schulbesuchs. Natürlich werden auch Kinder, die wir stationär behandeln, beschult. Sie gehen dann während des Klinikaufenthaltes in die Schule für Kranke. Im Anschluss an den stationären Aufenthalt ist der Wechsel zurück in ihre Regelschule dann aber manchmal schwierig. Wenn wir Patientinnen und Patienten zu Hause behandeln, bleiben sie nach Möglichkeit in ihrer Schule. Wir begleiten sie bei Bedarf dorthin oder kommen sogar mit in den Unterricht. Wir können dann schneller feststellen, wo die Ursachen für Probleme liegen und sind im direkten Austausch mit den Lehrkräften. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die den Schulbesuch meiden oder verweigern, ist diese Begleitung sehr hilfreich.

Gibt es Kinder und Jugendliche, für die sich dieses Behandlungsmodell eher nicht eignet?

Dr. Andreis: Ja, es gibt Kinder und Jugendliche, die für ihre Genesung unbedingt einen Wechsel des Settings benötigen. Das Setting im Krankenhaus wirkt ja 24 Stunden am Tag therapeutisch. Die stationäre Behandlung hat also unbedingt ihre Berechtigung.

Können Sie auch hierfür ein Beispiel nennen?

Dr. Andreis: Wir haben eine Jugendliche behandelt, die über mehrere Jahre hinweg nicht in die Schule ging. Sie litt unter Ängsten und Panikattacken, hatte auch somatoforme Beschwerden wie Bauschmerzen. Allerdings litt auch ihre Mutter unter einer psychischen Erkrankung und konnte wegen ihrer eigenen Ängste das Mädchen nicht loslassen. Eine Behandlung im häuslichen Umfeld wäre in diesem Fall nicht hilfreich gewesen. In der Klinik ist es uns gelungen, die Patientin aus ihrer Isolation zu holen und Entwicklungsimpulse zu setzen. Sie hat in der Klinik unter anderem sehr von den gruppentherapeutischen Angeboten profitiert.

Wie ist das Resümee nach zwei Jahren Vitos Behandlung Zuhause?

Dr. Andreis: Sehr positiv. Wir erhalten sehr gute Rückmeldungen der Familien und können mit dem Angebot eine Versorgungslücke schließen.

Hintergrund: Vitos Behandlung Zuhause

Seit knapp zwei Jahren gibt es „Vitos Behandlung Zuhause Herborn“ für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche. Das Angebot ist auch als stationsäquivalente Behandlung bekannt. Das mobile, multiprofessionelle Team behandelt durchschnittlich gleichzeitig sechs Kinder und Jugendliche. Zum Team gehören Mitarbeitende aus dem Pflege- und Erziehungsdienst, pädagogische Fachkräfte, ärztlichen und psychologischen Fachkräfte, eine Ergotherapeutin und eine Sekretärin.

Auch die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachkliniken in Marburg, Eltville, Kassel und Riedstadt bieten „Vitos Behandlung Zuhause“ an. Weitere Informationen dazu finden Sie hier auf unserer Website.

Autor/-in
Carmen Hofeditz