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Wonnemonat Mai: Nicht für Jeden!

Menschen mit depressiver Tendenz erleben den Mai als belastend

Viele Menschen empfinden den Monat Mai als besonders angenehm. Die Bäume sind in frisches Grün gehüllt. Das Wetter ist weder zu kalt noch zu warm. Medizin-meteorologisch geht es der Bevölkerung im Mai am besten. Der Monat gilt deshalb als Stimmungs-Spitzenreiter. Manche Menschen erleben momentan allerdings ihr größtes Stimmungstief – und das nicht nur wegen des Coronavirus. Dr. Thorsten Bracher, Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville, erläutert, warum das so ist und was Menschen tun können, um ihr Wohlbefinden zu steigern.

Für viele Menschen ist der Mai der Wonnemonat schlechthin. Die Veilchen blühen, die Blätter der Bäume sind in frisches Maiengrün gehüllt. Zahlreiche Volksbräuche, wie die Walpurgisnacht oder der Maibaum, feiern dieses Gefühl. Wie sieht es bei Menschen mit einer depressiven Neigung aus?

Dr. Thorsten Bracher: Menschen, die bereits unter einer Depression leiden, erleben das Frühjahr unter Umständen als die schlimmste Zeit des Jahres. Darüber hinaus gibt es relativ viele Menschen, die eine Disposition, also eine persönliche Veranlagung, zu depressivem Erleben haben. Sie tragen oft Minimalsymptome mit sich herum, sind in der Stimmung häufig gedrückt, ohne jedoch eine manifeste, klinische Depression zu haben. Im Frühling, vor allem im Mai herrscht Aufbruchsstimmung. Die Menschen drängen nach draußen. Sie werden kontaktfreudiger und aktiver. Die Lebensfreude steigt allein durch das schöne Wetter, den Anblick der Natur und der begrünten Bäume.

[1]Menschen mit depressiven Merkmalen empfinden den Kontrast zwischen der eigenen Innenwelt und der Außenwelt unter Umständen als schwierig und belastend. Sie haben, im Unterschied zu den meisten anderen, im Frühling keine Lust Menschen zu treffen. Die Begegnungen mit anderen sind ihnen eher lästig. Sie erleben sich als von den anderen getrennt. Und sie empfinden sich selbst nicht als Teil einer Gemeinschaft, sondern fühlen sich ausgeschlossen und ausgegrenzt.

 

Warum fühlen sie sich denn ausgegrenzt? Das klingt so, als ob die anderen Menschen sie absichtlich bei einer Aktivität nicht dabeihaben wollten. Das ist aber doch sicher nicht der Fall?

Bracher: Depressive Menschen neigen dazu, Einladungen zu gemeinsamen Unternehmungen auszuschlagen oder abzusagen. Es ist ihnen einfach alles zu viel. Wenn sie dann drei- bis viermal abgesagt oder „Nein“ gesagt haben, werden sie vielleicht nicht mehr gefragt. Das bestätigt ihre negative Selbstwahrnehmung, uninteressant oder gar unbeliebt zu sein, und kann zu einer Art Teufelskreis führen.

 

Es gibt den Begriff der Frühjahrsmüdigkeit. Wie unterscheidet sich diese von einer echten Depression?

Bracher: Es stellt sich zunächst die Frage: Was ist denn eine Frühjahrsmüdigkeit? Gibt es die überhaupt? Dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Immerhin haben wir jetzt mehr Sonnenstunden als im Herbst und Winter.

Durch das Sonnenlicht wird die körpereigene Produktion des “Glückshormons“ Serotonin angekurbelt. Wenn sich jemand mehr als drei bis vier Wochen am Stück müde, abgeschlagen und freudlos fühlt, dann liegt vermutlich keine „Frühjahrsmüdigkeit“ mehr vor. In diesem Fall sollte sich die betroffene Person Hilfe suchen. Zum Beispiel bei einem Psychotherapeuten, einem Psychosomatiker oder Psychiater. Dann können Patient und Behandler gemeinsam abklären, ob sich eine Depression entwickelt? Es kommt natürlich vor, dass Menschen auch über mehrere Wochen schlecht gelaunt sind, ohne eine Depression im klinischen Sinne zu haben. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Gründe. Aber man sollte die Schlechte-Laune-Phase im Auge behalten. Auch mögliche körperliche Ursachen bei anhaltender Müdigkeit und Schlappheit, sollten natürlich abgeklärt werden.

 

Sie sprachen davon, dass manche Menschen eine Veranlagung haben, eine Depression zu entwickeln. Heißt es nicht eigentlich, dass selbst die größten Frohnaturen depressiv werden können?

Bracher: Grundsätzlich stimmt es, dass Depressionen jeden treffen können – auch die Fröhlichen. Menschen, die grundsätzlich optimistisch durchs Leben gehen und denken, durch eigene Anstrengung etwas erreichen und Probleme bewältigen zu können, laufen aber weniger Gefahr depressiv zu werden.

Um noch einmal auf den Frühling zurückzukommen: Wenn das Leben Blüten schlägt, empfinden sich Depressive als besonders unlebendig, geradezu erstarrt. In der Praxis habe ich zudem festgestellt, dass die Frühjahrsdepressivität stärker die Älteren betrifft. Sicher spielen psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle bei diesem Phänomen. Ältere Menschen sind oft nicht mehr so stark in soziale Beziehungen eingebettet. Aus dem Berufsleben sind sie vielleicht schon ausgeschieden, die Kinder sind erwachsen und haben ihre eigenen Familien. Im Mai, wenn viele Aktivitäten im Freien stattfinden, fällt ihnen ihre grundsätzliche Einsamkeit eventuell stärker auf als im Winter. Und sie fühlen sich isolierter.

 

Was können Menschen tun, denen die Decke auf den Kopf fällt und das Leben draußen an sich vorbeiziehen sehen?

Bracher: Sie sollten versuchen, wie in anderen Jahreszeiten auch, angenehme Aktivitäten in ihren Alltag einzubauen. Da vielen Menschen in Deutschland die Pflicht leichter fällt als die Kür, sollten sie sich diese positiven Aktivitäten als eine Art Termin auferlegen. Außerdem sollten sie unbedingt Verabredungen einplanen. Es ist schwieriger nicht aktiv zu sein, wenn man eine gemeinsam geplante Aktivität absagen muss. Als hilfreich hat sich auch ein Wochenplan herausgestellt, in den man schöne Vorhaben bewusst einbaut. Allerdings sollten sich die Menschen nicht allzu ehrgeizige Projekte vornehmen. Wenn sie es nicht schaffen diese zu realisieren, empfinden sie das als Versagen.

 

Welche gemeinschaftlichen Aktivitäten bieten sich konkret an?

Bracher: Ein regelmäßiger Walkingtreff mit einer guten Freundin oder einem Gleichgesinnten wäre eine Idee. Auch gemeinsam Rad fahren oder spazieren gehen. Natürlich mit dem gebotenen Abstand wegen des Coronavirus. Oder mit der eigenen Familie, mit einem Freund oder einer Bekannten grillen. Wichtig ist, soziale Kontakte zu pflegen.

 

Ein oft genannter Rat ist, sich selbst etwas Gutes zu tun. Nun ist es aber das Wesen einer Depression, dass den Erkrankten oft kaum noch etwas Freude bereitet. Viele wissen einfach nicht, was ihnen guttun könnte. Und manche haben schlichtweg keine Lust auf Gesellschaft.
Welche Aktivitäten empfehlen sie Menschen, die sie auch alleine unternehmen können?

Bracher: Natürlich ist es wichtig, dass man auch mal alleine sein kann. Eine „Rundum-Bespaßung“ ist nicht möglich. Familie, Freunde oder Bekannte haben auch nicht immer Zeit oder Lust. Umso wichtiger ist es, die Momente zwischen den Gemeinschaftsaktionen zu füllen. Wer gerne liest, kann sich ein Buch oder eine Zeitschrift nehmen und an einem schönen Fleckchen im Wald, auf einer Bank im Park oder am Flussufer darin lesen. Wer einen Garten besitzt, kann gärtnern. Jetzt ist genau die richtige Zeit um Gemüse zu säen und Blumen zu pflanzen. Oder den Balkon begrünen und in der Küche Kräuter auf dem Fensterbrett ziehen. Eine etwas unorthodoxe Idee ist das „Guerilla Gardening“, das besonders in Großstädten sehr beliebt geworden ist. Die Guerilla-Gärtner säen überall, wo es ein Stückchen Erde gibt, Blumen aus oder pflanzen welche ein. Ziel ist es, die Umwelt mit pflanzlichen Farbtupfern ein bisschen schöner zu machen. Die Saat aufgehen zu sehen bereitet den Menschen selbst und auch anderen Freude.

 

Nochmal zu den eigenen Bedürfnissen, die viele depressive Menschen gar nicht kennen…

Bracher: In der Klinik erleben wir es häufig, dass Patienten ihre eigenen Bedürfnisse nicht kennen. Sie können sich selbst nur durch die Anderen spüren. Sie sagen oft, dass sie dann glücklich sind, wenn es ihrer Familie oder ihrem Partner gut geht. Diese vermeintlich selbstlose Haltung hat häufig einen familiären Hintergrund. In der Geschwisterreihe sind das oft die Älteren. Oder die Mutter war erkrankt und sie mussten schon früh Verantwortung übernehmen. Die eigenen Bedürfnisse mussten sie so lange hintenanstellen, bis sie schließlich keinen Zugang mehr zu ihnen haben.

[2]In der Klinik können wir dann immer wieder beobachten, dass sie in ihr übliches Rollenmuster verfallen. Sie sind die Kümmerer auf der Station und trösten andere Patienten. Für sich selbst tun sie aber wenig. Im therapeutischen Gespräch führen wir ihnen dieses Verhalten vor Augen. Das kann weh tun, ist aber wichtig. Hier bei uns erhalten sie den Raum und die Zeit für sich selbst. Das sollten sie bestmöglich nutzen, damit sie künftig ihr eigenes Leben leben können und nicht das der anderen.

Bildquelle: Vitos