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Zu jung fürs Seniorenheim, zu krank fürs betreute Wohnen

Familie Schreitz hat lange vergeblich nach einem Pflegeplatz für ihre Tochter Julia gesucht – und ihn am Ende gefunden

Als Julia Schreitz im Dezember 1989 zur Welt kommt, ist das viel zu früh. Komplikationen in der Schwangerschaft, dann eine Infektion des Fruchtwassers. Als die auf das ungeborene Kind übergeht, entscheiden sich die Ärzte in der 27. Woche für einen Notkaiserschnitt. In der ersten Nacht sprengt die Beatmung die winzigen Lungenflügel des kleinen Mädchens. Julia erleidet einen schweren Sauerstoffmangel.

Zuhause in der Wetterau haben ihre Eltern gerade erst ein altes Bauernhaus gekauft. Helmut Schreitz ist vom Fach, er will die heruntergekommene Hofreite selbst sanieren, seine Frau Christine wünscht sich einen eigenen Pferdestall. Außerdem hat er gerade die Technikerschule begonnen. Die Schreitz‘ setzen erst einmal Küche, Bad und Schlafzimmer in Stand, „das Nötigste halt“, und starten in das Leben mit ihrer kleinen Tochter. 37 cm misst Julia bei der Entlassung drei Monate nach ihrer Geburt, die Arme und die Beine hält sie immer angewinkelt wie ein Frosch. „So auf der Hand haben wir sie getragen“, sagt Helmut Schreitz und streckt seine Handwerker-Hand aus.

Am Anfang kann niemand sagen, wie sich Julia entwickeln wird. „Wir haben in den ersten Monaten viel Physiotherapie gemacht“, erinnert sich der 67-Jährige. „Die Übungen waren eine Qual für Kind und Mutter – und gleichzeitig hat man uns gesagt, Julia habe eh nur eine Lebenserwartung von zehn Jahren.“ Nach dem ersten Geburtstag kommt die Epilepsie – und bleibt. Ein teuflischer Begleiter, wahrscheinlich entstanden durch die Vernarbungen im Gehirn, die der Sauerstoffmangel verursacht hat.

Es folgen unzählige Arzt- und Krankenhaustermine, Medikamenteneinstellungen, Kontrollen, Medikamentenumstellungen. Die Epilepsie ist nicht in den Griff zu bekommen, die Nebenwirkungen der Arzneien kommen dazu. Ein Medikament verursacht bei Julia am ganzen Körper Verbrennungen dritten Grades, sie schwebt in Lebensgefahr. Ihre beschädigte Frühchenlunge ist anfällig für Infekte. „Bronchitis, Lungenentzündung, oft kam bei uns der Krankenwagen mehrmals pro Woche“, erinnert sich Helmut Schreitz.

Er hat nach bestandener Technikerprüfung eine Stelle in der Nähe angenommen, um seine Frau bei Julias Pflege zu unterstützen. Später macht er sich selbstständig. „Tagsüber haben wir uns um Therapie, Arztbesuche und Notfälle gekümmert und das Haus behindertengerecht saniert, nachts habe ich versucht zu arbeiten.“ Zu den ständigen Sorgen um Julia kommen nun auch noch finanzielle dazu.

Je älter und größer die Tochter wird, desto schwieriger wird die Pflege. Von der Krankenkasse gibt es wenige hundert Euro Zuschuss für den teuren Badumbau. Den Antrag auf ein Auto, mit dem Familie Schreitz ihre schwerstbehinderte Tochter inklusive Rollstuhl transportieren kann, lehnt die Versicherung mit der Begründung ab, „es gebe im Ort ja schließlich eine Bushaltestelle.“

Unter Kindern sein, Lieder zu hören, das hat sie immer glücklich gemacht

Julia besucht stundenweise eine integrative Kita und später auch eine Grundschule. „Unter Kindern sein, Lieder zu hören, das hat sie immer glücklich gemacht. Aber wenn es dann ums Essen ging, haben alle Einrichtungen abgewunken“, erzählt Helmut Schreitz. Essen – ein Riesenthema. Christine  Schreitz probiert alles – „süß, sauer, salzig, sogar eklig“. Über Jahre isst Julia nur zwei Breisorten eines Herstellers. Immer wieder verweigert das Mädchen das Essen oder erbricht es. Und wenn sie sich zu sehr aufregt, kommt wieder ein epileptischer Anfall.

Mit Beginn der Pubertät ist die Epilepsie gar nicht mehr in den Griff zu bekommen. Auch die Notfallmedikamente helfen immer weniger. Helmut Schreitz hat inzwischen eine Stelle in Frankfurt gefunden. Dort hat man viel Verständnis für die Situation der Familie, oft besucht er seine Tochter in der Uniklinik vor und nach der Arbeit und auch in der Mittagspause. Die Familie ist mit ihrer Kraft am Ende. Und Julia hat feine Antennen dafür, wie es ihren Eltern geht. Deren Stress überträgt sich auch auf sie.

Ein Schulbesuch ist für Julia zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr möglich. „Nur zu Hause vor sich hinvegetieren und auf den nächsten Anfall warten, das ist doch auch kein Leben. Jeder Mensch braucht doch Kontakte“, sagt ihr Vater, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Die fehlende Kraft, die fehlenden Kontakte – es muss sich etwas ändern. Also begibt sich die Familie auf die Suche, „nach einem Ort, einem Platz, der unserer Tochter ein lebenswertes Leben in einer Gemeinschaft ermöglicht. Ein Ort, an dem sie nicht besonders, sondern normal ist.“

Die Familie sitzt abends stundenlang vor dem Rechner, recherchiert im damals noch neuen Internet. Für ein klassisches „Altenheim“ ist Julia zu jung, für andere Einrichtungen ist die erwachsene Frau, die bis heute kindlich wirkt, bereits zu alt. Oft ist man nicht auf „schwere Fälle“ ausgerichtet und es fehlt an geeignetem Personal für die Intensivpflege. Wenn doch ein Pflegeheim zunächst vollmundig verspricht, das sei alles kein Problem, kommen mit den ersten Nachfragen auch die ersten Einschränkungen.

Die Suche nach einem Ort, an dem Julia unterstützt und gefördert wird

Familie Schreitz sucht einen Ort, an dem Julia nicht nur verwahrt, sondern auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt und gefördert wird. Ein Ort, an dem ihre Epilepsie und die Probleme mit der Nahrungsaufnahme kein Ausschlusskriterium sind. Wenn ein Heimplatz endlich geeignet erscheint, ist die Warteliste lang.

Die Familie sucht weiter, telefoniert, besichtigt Einrichtungen von der Nordsee bis zum Schwarzwald. Zweimal zieht Julia aus ihrem Kinderzimmer daheim aus – und wieder ein. „Uns hätte allein die Tatsache, dass es dort nicht einmal ein richtiges Pflegebett gab, schon zu denken geben müssen“, sagt Helmut Schreitz rückblickend. Im zweiten Heim legt man Julia, die eine extrem verkrümmte Wirbelsäule hat und eine besonders weiche Matratze braucht, immer wieder auf den harten Fußboden. Als die Eltern meckern, will man ihre Besuchszeiten einschränken. Nachdem die beiden dann auch noch blauen Flecken an ihrer Tochter entdecken, nehmen sie sie wieder mit.

2009 kommt Julia zur Vitos Teilhabe nach Weilmünster. Dort werden Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung betreut. 2017 zieht sie schließlich ins Pflegezentrum für Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen auf dem Klinikgelände an der Weilstraße. Und die Eltern haben endlich das Gefühl, dass ihr Kind gut aufgehoben ist. Sie verkaufen ihr gerade fertig saniertes Bauernhaus in der Wetterau und fangen nochmal von vorne an. In Weilmünster, nur fünf Autominuten von Julia entfernt. Das Leben beruhigt sich, aber die Jahre haben bei den Eltern Spuren hinterlassen, seelisch und körperlich.

Im Pflegezentrum klappt es endlich mit dem Essen – „auch wenn sie mit neuen Kollegen gerne ihr Spielchen treibt“, sagt Helmut Schreitz und lächelt. Julia ist so, wie sie ist, endlich normal. Dort leben Menschen mit schweren neurologischen Krankheiten wie Schädelhirntrauma, MS, Parkinson oder Wachkoma-Patienten, einige sind beatmet. Manche Bewohner/-innen haben eine Biografie wie Julia, andere hatten als Erwachsene schwere Unfälle oder Krankheiten.

Julia ist trotz ihres Alters immer noch kindlich. Sie mag Puppen, Teddybären und ihr Spieluhr-Schaf.

Jeden Morgen und jeden Abend kommt Mitbewohner Alex in das helle, großzügig geschnittene Zimmer gerollt und schaut nach „seiner“ Julia. Infekte hat die junge Frau heute kaum noch und die Epilepsie beherrscht nicht mehr ihren Tag. Ob es an der Versorgung durch die benachbarte Neurologie liegt, die im Ernstfall sofort zu Stelle ist, an der ruhigen, freundlichen Atmosphäre, an den Therapeut/-innen, die täglich im Haus sind, oder daran, dass Julias Hormonspiegel nicht mehr so durcheinander ist wie in der Pubertät – „vielleicht an allem“, sagt Helmut Schreitz und lächelt noch einmal.

Das Vitos Pflegezentrum befindet sich in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. 2014 wurde es kernsaniert und auf die Bedürfnisse der maximal 34 Bewohner angepasst.

Inzwischen engagiert sich der 67-Jährige auch im Förderverein des Pflegezentrums. Dort sammelt man Spenden, um Dinge zu finanzieren, die über die Grundversorgung der Krankenkasse hinausgehen. Ein Snoezelraum konnte so eingerichtet werden, auch eine Matratze, die Musik als Schwingungen auf den Körper überträgt, eine teure Positionierungshilfe und eine Gedenkwand für verstorbene Bewohner/-innen hat der Förderverein bezahlt.

Die Menschen im Pflegezentrum, die Patient/-innen, die anderen Angehörigen aber auch die Mitarbeitenden, sind für Christine und Helmut Schreitz längst zu so etwas wie Familie geworden. „Unsere alten Freunde sind im Laufe der Zeit alle verschwunden. Irgendwann wird man nicht mehr eingeladen, dann kommt keiner mehr und am Ende fragt auch niemand mehr, wie es dir oder deinem Kind geht“, sagt Helmut Schreitz. „Hier müssen wir niemanden etwas erklären. Und wenn uns die Leute hier sagen, Julia sei ihr Sonnenschein, dann tut das einfach gut.“

Die Schreitz machen mit ihrer Tochter gerne Ausflüge über das Klinikgelände in Weilmünster. „Julia liebt es, in den weiten blauen Himmel zu sehen und die Vögel zu hören. Sie liebt es, die schwankenden Baumwipfel zu sehen. Ich halte dann ihre Hand und spüre, wie glücklich sie ist“, sagt Helmut Schreitz.

 

Hintergrund

Das Vitos Pflegezentrum Weilmünster bietet vollstationäre Pflege für maximal 34 Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen und beatmete Bewohnerinnen und Bewohner. Die Menschen, die dort ein Zuhause finden, sind volljährig und haben mindestens Pflegegrad 4, beatmet mindestens Pflegegrad 3. Das Pflegezentrum ist eine Einrichtung der sogenannten Rehabilitationsphase F. Die neurologische Behandlung ist in verschiedene Phasen eingeteilt – von der Akutphase A bis zur anschließenden Rehabilitation. Patientinnen und Patienten, die trotz intensiver Behandlung einen hohen und andauernden Pflegebedarf haben, fallen in die Phase F. Hier geht es vor allem um unterstützende, betreuende und/oder aktivierende Langzeitpflege.