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Zukunftswerkstatt Psychiatrie 2.0

Vitos Digital Botschafter/innen ziehen Zwischenfazit

2019 fand die erste Vitos Zukunftswerkstatt Psychiatrie statt. Mit verschiedenen Design-Thinking-Methoden entwickelten Kolleg/innen aller Fachbereiche Ideen für neue, digitale Behandlungsmethoden. Exakt 365 Tage später trafen sich die Digital Botschafter/innen wieder, um sich gegenseitig auf den aktuellsten Stand ihrer E-Health-Projekte zu bringen. Trotz Corona war die Stimmung gut und es wurde angeregt diskutiert.

Vor einem Jahr konnte niemand ahnen, dass das nächste Wiedersehen unter ganz besonderen Bedingungen stattfinden würde. Aufgrund der Corona-Pandemie trafen wir uns im großen Festsaal von Vitos Gießen-Marburg. Denn hier konnten wir die Abstandsregeln gut umsetzen. Für viele war dies die erste Veranstaltung mit so vielen Personen seit dem Ausbruch des Coronavirus. Trotz Mundschutz war die Stimmung gelockert und es fand ein reger Austausch statt. Zusätzlich zu den Kolleg/innen, die bereits im letzten Jahr teilgenommen hatte, durften wir vier neue Botschafter/innen begrüßen. Das Engagement beeindruckte auch Konzerngeschäftsführer Reinhard Belling. Sein Appell an Gruppe: „Bleiben Sie neugierig und bleiben Sie dabei!“

Empathie für Patient/innen

An der ersten Zukunftswerkstatt nahmen 25 Personen aus ganz Hessen teil. Drei Tage lang haben sie in der Neuen Denkerei in Kassel gebrainstormt bis die Köpfe qualmten. Im Mittelpunkt aller Überlegungen stand die Frage: Wie können wir die Behandlung unserer Patient/innen noch besser machen? Ein wichtiger Grundsatz des Design Thinking ist Empathie. Empathie für die Menschen, für die man ein Produkt, oder in unserem Fall eine Dienstleistung, entwickelt. Da Mitarbeiter/innen aller Fachbereiche an der Zukunftswerkstatt teilnahmen, war es ein Leichtes unterschiedliche Patiententypen zu beschreiben. Wir haben sogenannte Personas entwickelt. Anhand derer haben wir dann die Patient Journey, also der Patientenweg, analysiert. So wurde schnell deutlich, an welchen Stellen der Weg noch etwas holprig oder umständlich ist. Und genau dort, wollten wir mit digitalen Lösungen ansetzen. Das Ergebnis der ersten Zukunftswerkstatt war ein Bündel an Möglichkeiten. Im Anschluss galt es, diese umzusetzen.

Die Pilotprojekte

E-Health und Blended Care prägen die Gesundheitsbranche natürlich nicht erst seit letztem Jahr. Auch gesetzliche Änderungen, wie das Digitale-Versorgungs-Gesetz oder die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung, ebnen den Weg in die digitale Zukunft. In einem ersten Schritt haben wir analysiert, welche Angebote es bereits am Markt gibt und diese in unterschiedlichen Pilotprojekten getestet.

Vitos Messenger

Ein konkretes Projekt ist der Einsatz eines Messenger-Dienstes. Der Vitos Messenger wird aktuell in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Bad Emstal getestet, wo suchtkranke Rechtsbrecher behandelt werden. Während der Therapie in der Klinik erproben sich Patienten stufenweise in sogenannten Lockerungen. Das heißt, sie dürfen beispielsweise für eine begrenzte Zeit zurück in ihr privates Umfeld. Während dieser sogenannten Belastungserprobung können die Patienten weiterhin ihre Behandler/innen kontaktieren, z. B. wenn sie Rat suchen oder von einem privaten Erfolgserlebnis berichten möchten. Bevor die neue Datenschutzgrundverordnung in Kraft getreten ist, lief der Kontakt häufig über private Messenger-Dienste. Da Telefonate und SMS eine zusätzliche Hemmschwelle sind, haben wir einen datenschutzkonformen Vitos Messenger eingeführt. Dieser ist stark an Messenger-Dienste angelehnt, die wir aus unserem privaten Umfeld kennen. „Die Hemmschwelle Kontakt zu uns aufzunehmen, ist für viele Patienten durch den Vitos Messenger gesenkt worden“, erläuterte Katharina Klocke, Leitung des offenen Therapiebereichs und der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz Hessen, Bad Emstal. „So können wir ihnen auch außerhalb der Einrichtung helfen“ Der Vitos Messenger ist ein freiwilliges Angebot. Natürlich können die Patienten weiterhin telefonisch oder per SMS Kontakt zu ihren Behandler/innen aufnehmen. Einigen reicht diese Art der Kommunikation völlig aus. Besonders die jüngeren Patienten nutzen den Messenger aber sehr gerne.

Online-Selbsthilfe
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Natascha Brand erklärt das Online-Selbsthilfeprogramm. Dieses Bild ist vor der Corona-Pandemie entstanden.

Ein Pilotprojekt aus dem Bereich Online-Selbsthilfe stellte Natascha Brand bei der Zukunftswerkstatt 2.0 vor. Patient/innen von Vitos Herborn können verschiedene Online-Selbsthilfeprogramme nutzen. Momentan sind drei Schwerpunkte verfügbar: Ängste, Burn-out und Depressionen. Die einzelnen Schwerpunkte sind in verschiedene Module unterteilt, z. B. Psychoedukation oder Achtsamkeits- und Entspannungsübungen. Die Video- oder Audio-Module können die Patient/innen selbstständig bearbeiten. Dabei lassen wir diese aber nicht allein. „Mir ist der persönliche Kontakt besonders wichtig“, betonte Brand. Wöchentlich bietet sie Einführungen für die Online-Selbsthilfeprogramme an. „Das hilft, Ängste zu nehmen und Verständnis für die neuen Angebote zu schaffen. Dabei gehe ich auch auf konkrete Bedenken ein“, ergänzte Brand, die den Bereich E-Health und digitale Teilhabe bei Vitos Herborn leitet.

Teletherapie

Vitos Gießen-Marburg ist es gelungen, binnen kürzester Zeit ein telepsychiatrisches Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Dr. Sara Lucke arbeitet als Psychotherapeutin in zwei Vitos psychiatrischen Tageskliniken in Gießen. Beide Tageskliniken mussten aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend geschlossen werden. Um diese und andere Patient/innen trotz Kontaktverbot weiterhin behandeln und unterstützen zu können, musste eine neue Lösung her. Unter der Leitung des Klinikdirektors Prof. Dr. Michael Franz setzte ein interdisziplinäres Team, dem auch Lucke sowie Oberarzt Johannes Krautheim als Mitentwickler angehören, ein neuartiges Teletherapie-Konzept um. „Mit der Teletherapie haben wir die Behandlung in der Klinik ins Digitale übersetzt“, erläuterte Lucke. Wie bei einer Therapie in der Klinik fußt das Konzept der Teletherapie auf individuellen Behandlungsplänen. Die Patient/innen werden morgens von ihrer Bezugspflege kontaktiert und nehmen via Videotelefonie an Visiten und Einzelgespräche mit ihren Behandler/innen und an Psychotherapieprogrammen teil. Die Kolleg/innen der Bewegungstherapie haben Übungsvideos aufgezeichnet. Mit deren Hilfe können sie also sogar ihre Bewegungstherapie Zuhause absolvieren. Zusätzlich ist gewährleistet, dass sie in der Klinik immer jemanden erreichen können. Auch nach der Corona-Pandemie wird die Teletherapie Bestand haben. Mit dem neuen Konzept können auch solche Patient/innen versorgt werden, die wir bisher nicht erreichen konnten. Zum Beispiel Patient/innen, die sich vor einer Therapie in der Klinik scheuen. Insgesamt können Personen mit verschiedenen Krankheitsbildern, wie Angststörungen, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen, von der Teletherapie profitieren.

Videosprechstunde

Ein Baustein der Teletherapie in Gießen ist die Videosprechstunde. Letztere wird auch bei Vitos Herborn getestet. Fachärztin Nicole Wehrum berichtete den anderen Digital Botschafter/innen, warum die Videosprechstunde auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine gute Ergänzung der Behandlung ist. Insbesondere für junge Patient/innen aus dem ländlichen Raum bietet die Videosprechstunde Vorteile – auch über die Corona-Pandemie hinaus. Sogenannte Verlaufsgespräche finden in der Regel mit den Eltern oder betreuenden Personen statt. Sollte ein persönliches Gespräch nicht möglich sein, kann dieses per Videotelefonie gut von Zuhause aus durchgeführt werden. Da die meisten Kinder und Jugendlichen medienaffin sind, gibt es kaum Probleme in der Anwendung. Allerdings eignet sich die Videotelefonie nicht für alle Aufgabenbereiche einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz. Erstgespräche, Diagnostiken und Befundgespräche bedürfen des persönlichen Kontaktes. Bei solchen Gesprächen ist es wichtig, die „Stimmung im Raum“ mit einzubeziehen. „Ein Videogespräch ist immer besser als ein Telefonat, kann aber den persönlichen Kontakt nicht ersetzen“, schlussfolgerte Wehrum.

Soziale Robotik
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Robbe Emma im Einsatz bei Vitos Weil-Lahn.

Neben digitalen Anwendungen haben wir außerdem den Schritt in Richtung soziale Robotik gewagt. Robbe Emma sieht wie eine gewöhnliche weiße Kuscheltier-Robbe aus. Allerdings hat sie Sensoren. Damit kann sie auf Berührung, Licht, Akustik und Temperatur reagieren. „Emma ist ein Türöffner. Insbesondere auf solche Patient/innen eine beruhigende Wirkung, die aufgrund ihrer Erkrankung oft hektisch sind“, berichtete Nicole Kubig. Kubig arbeitet auf einer gerontopsychiatrischen Station des Vitos Klinikums Weil-Lahn, wo Emma zum Einsatz kam. Auffällig ist, dass die Patient/innen geschlechterspezifisch mit der Robbe umgehen. Frauen behandeln Emma wie ein Baby. Männer hingegen nehmen sie auseinander, um die Technik zu begutachten. Einziger Nachteil ist die aufwendige hygienische Reinigung.

Gemeinsamer Ausblick

Der Erfahrungsaustausch hat bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Er hat uns motiviert, solche Projekte weiterzuentwickeln. Unser gemeinsames Ziel ist es, die Behandlungsqualität und -intensität unabhängig vom therapeutischen Setting mithilfe von digitalen Anwendungen zu optimieren. Nach jetzigem Kenntnisstand ist es notwendig, eigene digitale Lösungen zu entwickeln, die speziell an die Bedürfnisse unserer Patient/innen angepasst sind. Ganz im Sinne der Psychiatrie-Enquête können wir Menschen so den Zugang zur psychiatrischen Versorgung erleichtern. Uns ist allerdings wichtig zu betonen, dass alle digitalen Angebote eine Ergänzung und Unterstützung der Therapie sind – kein Ersatz. Denn eines ist uns bei der digital gestützten Behandlung unserer Patient/innen besonders wichtig: persönlicher Kontakt.

Illustration: Katharina Bußhoff
Bildquellen: Natascha Brand, Vitos Weil-Lahn