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Zwischen Neugierde und Unsicherheit – Warum macht das Fremde so vielen Menschen Angst?

Die Zahl der Geflüchteten in Deutschland ist 2015 so hoch wie nie zuvor. Um zu überleben, lassen Menschen ihr gesamtes Leben zurück. Von Angst getrieben kommen sie nur mit dem, was sie am Leib tragen, bei uns an. Zahlreiche freiwillige Helfer engagieren sich, um diese Menschen herzlich zu empfangen und eine Willkommenskultur zu etablieren. Doch auch kritischen Stimmen werden zunehmend lauter. Viele Menschen sind besorgt und haben Angst vor dem Fremden. Doch woher kommt diese Angst eigentlich?

Vertrautheit und Fremdheit, Sicherheit und Unsicherheit

Vertrautheit und Fremdheit sind Gegensätze und gleichzeitig zwei wichtige Pole, welche zum Leben jedes Einzelnen dazugehören. Ist uns etwas vertraut, fühlen wir uns sicher. Ist uns etwas fremd, macht sich Unsicherheit breit. Im Leben werden wir immer wieder vor die Herausforderung gestellt, uns unbekannte und wenig vertraute Prozesse anzueignen. Sei es der neue Job, ein Umzug in eine andere Stadt oder auch nur der Wechsel des Hausarztes – sobald wir uns diesen neuen Prozessen nähern, entsteht nach und nach eine neue Vertrautheit und somit das Gefühl von Sicherheit.

Angst ist evolutionär bedingt

Jeder Mensch wird hilflos geboren und benötigt Schutz. Mit der fortschreitenden Entwicklung wird er zunehmend sicherer. Unsere Vorfahren lebten in einer Welt, in welcher sie sich täglich Gefahren stellen mussten. Deshalb waren sie nicht automatisch angsterfüllt, jedoch waren Respekt, Vorsicht und Distanz überlebenswichtig für sie. Das Fremde kann potenziell auch eine Gefahr werden. Wer beispielsweise eine unbekannte Beere isst, muss damit rechnen, dass sie giftig ist. In einer sicheren Welt hingegen erzeugt das Fremde meist weniger Angst [1] als viel mehr Neugierde. Als Beispiel kann ein acht oder neun Monate altes Baby herangezogen werden. Sitzt dieses sicher auf dem Schoß seiner Mutter, ist es Fremden gegenüber meist aufgeschlossen und beäugt sie mit großer Neugierde. Fehlt diesem Kind jedoch die Sicherheit einer vertrauten Bezugsperson und ist es mit einem Fremden allein, entwickelt es Ängste. Babys benötigen besondere Schutzmechanismen, um nicht in Gefahr zu geraten. Die Vorsicht vor dem Fremden ist also bei allen Menschen biologisch angelegt. Dennoch ist die Angst vor dem Fremden keine Urangst, sondern vielmehr eine Signalangst, welche uns vor Gefahren warnt. Man könnte also von einer Art Alarmsystem gegen das Unbekannte sprechen.

Xenophobie – Fremdenangst in der Psychiatrie

Xenophobie, also Fremdenangst, betrifft in der Psychiatrie Menschen, welche nur wenig Urvertrauen besitzen. Diese Menschen haben kaum Sicherheit und Halt durch andere Personen erfahren. Zudem haben sie wenig Kriterien ausgebildet, um Fremdes zu prüfen. Sie sind nicht in der Lage, herauszufinden, ob es eine potenzielle Gefahr darstellt oder nicht. Es besteht das Risiko, dass diese Menschen entgleisen und Bedrohungsgefühle manifestieren, anstatt nur einen Alarm auszulösen. Unsichere Personen, welche sich in ihrer eigenen Welt als Fremde fühlen, tendieren im besonderen Maße dazu, das Fremde als Bedrohung wahrzunehmen. Dies äußert sich auch darin, dass sie nicht ins Ausland reisen und niemand neuen kennenlernen wollen. Sie klammern sich am Sicheren und ewig Vertrauten fest. In ihrem Kern sind diese Menschen unsicher, weshalb sie sich durch das Fremde schnell bedroht fühlen. Sie unterscheiden sich von all jenen Menschen, welche erkundungsfreudig und sicher gebunden sind. Diese Personen stehen dem Neuen und Fremden offen und neugierig gegenüber und wollen es erschließen. Jedoch brauchen auch sie meist einen sicheren Rahmen. Wer beispielsweise in ein exotisches Land reist, fühlt sich mit einem guten Reiseführer meist sicherer und somit wohler als damit, ganz allein in der Fremde zu sein.

Die Fähigkeit, sich auf das Fremde einzulassen, ist nicht gegeben, wenn die Fremdenangst mit anderen Ängsten gepaart ist. Zu nennen sind hier beispielsweise Kontaktängste, Veränderungsängste oder Verlassenheitsängste.

Das Schüren von Ängsten durch Pegida und Co

Die Informationen von außen sind ein weiteres Problem. Bewegungen wie Pegida möchten den Eindruck vermitteln, Fremde sind gefährlich und müssen deshalb als Bedrohung angesehen werden. Sie entbinden den Einzelnen von der Pflicht, sich selbst ein Bild über das Fremde zu machen und somit vielleicht eine neue Vertrautheit zu entwickeln. Diese Vereinigungen zehren von der Unsicherheit der Menschen. Sie ermutigen sie, sich abzuschotten, gar nicht erst Kontakt zu Fremden aufzunehmen und mit ihnen umzugehen als wären sie Feinde. Dabei ist es entscheidend, sich selbst ein Bild zu machen und im Einzelfall zu prüfen, ob eine andere Person vertrauenswürdig ist oder nicht. Das gilt für alle Menschen, egal welcher Herkunft, gleichermaßen.

Die Weitergabe von Fremdenangst

Jeder Mensch neigt dazu, seine eigenen Defizite und Ängste auf andere Menschen zu projizieren. In diesem Fall wird von einer unangemessenen Angstbewältigung gesprochen. Es ist immer leichter, Unangenehmes bei anderen zu bemerken, als bei sich selbst. Letztres erfordert ein gewisses Maß an Selbstreflexion. Dieser Mechanismus dient leider dazu, dass wir uns mithilfe von Vorurteilen und Sündenbock-Theorien von uns selbst befreien. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass viele Menschen, die Fremdenhass verbreiten, selbst Menschen sind, vor denen man Angst haben kann. Indem sie andere als bedrohlich diffamieren, lenken sie von ihrer eigenen Gefährlichkeit ab. Durch ihren Rassismus fühlen sie sich stark. In der Persönlichkeit solcher Menschen lassen sich jedoch häufig deutliche Entwicklungsdefizite und Schwächen in der Bewältigung vieler anderer Dinge feststellen. Negative Emotionen, wie Feindseligkeit sowie der Unwille, sich für andere Perspektiven zu öffnen, ist diesen Menschen gemein. Es kann von einer psychischen Abschottung, beziehungsweise einer Entwicklungsblockade gesprochen werden.

Die wichtige Rolle von sozialen Vermittlern

Dem Fremdenhass lässt sich weniger durch spezielle Therapeuten, sondern viel mehr durch soziale Vermittler entgegenwirken. Diese Vermittler müssen das Vertrauen der Menschen genießen und auch mit dem Fremden vertraut sein. Eine interkulturelle Sensibilität ist dabei essenziell. Nur so kann eine Atmosphäre der Gastfreundschaft sowie der Gastrechte und -pflichten gedeihen. Im Idealfall erwächst daraus eine Kultur des gegenseitigen Respekts und des gegenseitigen Kennenlernens. Natürlich geht dies nicht, ohne auch all jene Personen politisch in die Schranken zu weisen, welche Fremdenangst aktiv schüren und Fremdenhass sowie Kriegszustände herbeiführen. Diese Menschen haben eine Persönlichkeitsstörung und es ist die Pflicht des Rechtswesens, sie zur Verantwortung zu ziehen. Menschen, die sich dem Fremdenhass verschrieben haben, fehlt es an Sicherheit. Sie haben selbst nicht genügend Schutz erlebt. Angst ist auch immer die Sehnsucht nach Geborgenheit.

Das komplette Interview, auf welches sich dieser Beitrag bezieht, finden Sie auf der Seite von Mittelhessen.de [2].

Headerbild: © Foto-Rabe/pixabay

Autor Prof. Dr. med. Matthias Wildermuth ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er ist Klinikdirektor der Vitos Klinik Rehberg und Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Herborn.