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Alles eine Frage der Haltung?

Einführung einer Betriebssprache für die Psychiatrie bei Vitos Gießen-Marburg

Die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik mit teils schwer psychisch kranken Patienten kann für die Mitarbeiter mitunter eine große Herausforderung sein. Daher bedarf es, neben baulichen Voraussetzungen, einer angemessenen Haltung. Gleichzeitig sollten sich Mitarbeiter auf grundlegende Verhaltensregeln verständigen, um herausfordernde Situationen professionell zu meistern. Im Vitos Klinikum Gießen-Marburg etablieren wir deshalb eine Betriebssprache für die Psychiatrie.

Die Herausforderungen der psychiatrischen Arbeit

Auf eine kürzlich ausgestrahlte Reportage von „Team Wallraff – Reporter undercover“ folgte ein großer öffentlicher Aufschrei. Eine Reporterin hatte sich, als Praktikantin getarnt, in eine Akutstation des Klinikums Frankfurt Höchst eingeschleust. Die dort gemachten Aufnahmen prangern nicht nur personelle Engpässe und bauliche Mängel an, sondern auch den Umgang des Personals mit den Patienten.

Es stimmt: die Personalsituation, die baulichen Verhältnisse und die Finanzierung der Psychiatrie müssen vielerorts dringend verbessert werden. Doch selbst, wenn alle Rahmenbedingungen stimmen, kommt es in unserem Arbeitsfeld immer wieder zu spannungsgeladenen, herausfordernden und potenziell überfordernden Situationen.

Das liegt in der Natur der Sache. Denn unsere Mitarbeiter arbeiten täglich mit Menschen, die sich in einem akuten Ausnahmezustand befinden, die sich selbst oder andere verletzen, die extreme Gefühle oder Wahnvorstellungen haben. All diese Patienten behandeln wir in der Psychiatrie in multiprofessionellen Teams, mit speziellen Behandlungsmethoden für die jeweiligen Störungsbilder. Dabei beziehen wir auch die Angehörigen ein, soweit das möglich ist.

Unser Ziel ist es, die Patienten auf dem Weg zur Genesung bestmöglich zu unterstützen. Der Psychiatrie kommt seitens des Gesetzgebers aber auch eine Sicherungsfunktion zu: Sie soll Patienten schützen, die sich oder andere gefährden. Unsere Mitarbeiter sind also gehalten, in dem einen Moment mitfühlend auf einen depressiven oder ängstlichen Patienten einzugehen – und einen Augenblick später angemessen auf einen hochaggressiven oder dissozialen Patienten einzuwirken, der eventuell zusätzlich unter Drogen steht. Und all diese unterschiedlichen Patienten sollen in den Stationsalltag integriert werden, ohne dass es zu Übergriffen auf Mitpatienten oder Mitarbeiter kommt. Eine echte Herausforderung! Die daraus entstehende Belastung kann Spannungen und Konflikte begünstigen, sowohl im Umgang mit den Patienten als auch innerhalb der multiprofessionellen Teams. Eine angemessene Haltung und grundlegende Verhaltensregeln können dabei helfen, diese Herausforderung besser zu meistern und Konflikten vorzubeugen.

Nicht immer leicht, die richtige Balance zu finden

Mit welcher Haltung können wir unseren Patienten in der Psychiatrie begegnen? Sie sollte nicht wertend, aber wertschätzend sein. Wir wollen mit den Patienten mitfühlen, ihnen aber kein Mitleid entgegenbringen. Optimal wäre, stets die Balance zwischen den verschiedenen Spannungspolen zu finden. Dabei sind wir gehalten, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Wir sollten achtsam sein, gleichzeitig dienstliche Vorgaben einhalten.

In Achtsamkeitsseminaren lernen Mitarbeiter, wie das geht. Das dort Gelernte in den Arbeitsalltag mit all seinen unterschiedlichen und oft unvorhersehbaren Herausforderungen zu überführen, ist jedoch nicht leicht.

Achtsame Haltung und achtsames Handeln sind in der Akutpsychiatrie hilfreich, wenn sie durchdacht in ein System von Regeln und Interventionen eingebunden werden. Dies sollte wiederum zu den Aufgaben und Konzepten der jeweiligen psychiatrischen Station passen.

Gesucht ist eine Art grundlegendes „Betriebssystem“. Ein Basis-Regelwerk sozusagen, auf das psychiatrische Teams zurückgreifen können. Egal, von welcher Station sie kommen und welche Diagnosen ihre Patienten haben.

So ein Betriebssystem sollte leicht verständlich, einfach umzusetzen und alltagsnah sein. Dann kann es der Entstehung von Konflikten vorbeugen.

Entwicklung einer Betriebssprache am Vitos Klinikum Gießen-Marburg

Für 15 Stationen und drei Tageskliniken des Vitos Klinikums Gießen-Marburg haben wir an den Standorten Gießen und Marburg damit begonnen, eine Betriebssprache zu entwickeln und unsere Mitarbeiter darin zu schulen.

Doch mit welcher Methode geht man die Entwicklung eines solchen Basis-Regelwerks an? Uns erschien die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) geeignet. Sie kommt bei der Behandlung von Borderline-Patienten zum Einsatz. In ihr vereinen sich Techniken verschiedener Therapieschulen. Auch finden sich Aspekte des Zen-Buddhismus. Etwa:

Wir haben also Elemente aus der dialektisch-behavioralen Therapie ausgewählt, die sich stations- und diagnoseübergreifend verwenden lassen. Diese Elemente können wir mit anderen therapeutischen Methoden kombinieren. Darüber hinaus beziehen wir Konzepte der Deeskalation und der positiven Kommunikation mit ein.

Die ersten Schulungen

Martin Bohus, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische und Psychiatrische Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, ist ein herausragender Kenner der dialektisch-behavioralen Therapie. Es freute uns deshalb sehr, dass er sich bereit erklärte, drei ganztägige Schulungen für unsere Mitarbeiter anzubieten. 120 Kollegen von unterschiedlichen Stationen nahmen teil. Martin Bohus brachte ihnen die Grundsätze, Interventionen, Haltungen und Algorithmen der DBT näher. Dann ging es in die Diskussionsrunde. Wie lässt sich das eben Gelernte in den Stationsalltag integrieren? Welche Ziele können daraus abgeleitet werden? Welche Herausforderungen gilt es zu meistern?

Auf Grundlage der Diskussionsergebnisse haben wir ein Basis-Set erarbeitet. Es besteht zum Teil aus der DBT und zum Teil aus grundlegenden therapeutischen Techniken. Darin enthalten sind Haltung, Algorithmen und Interventionen für die Bereiche Krise, elektive Therapie, Besprechungen im Team, den Umgang miteinander und den Umgang mit Patienten. Es gibt übergeordnete Alpha-Regeln, über die nicht verhandelt wird und die für alle transparent sind. Außerdem sind darin Interaktionsstile beschrieben, zum Beispiel eine nicht-wertende, respektvolle Sprache mit und über Patienten.

Seit letztem Jahr integrieren wir das Basis-Set nach und nach in die jeweiligen Stationskonzepte und üben es im Arbeitsalltag ein. Das passiert sowohl auf Station als auch in den teilstationären und ambulanten Angeboten sowie im Home Treatment und der stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung. Die Steuerung übernehmen die Ärztliche- und die Pflegedirektion. Sie führen Gespräche mit den jeweiligen Teams und setzen eine multiprofessionelle Steuerungsgruppe ein. Zudem erfolgten seither mehrere Supervisionen. Wir haben außerdem einen Implementationsleitfaden für die einzelnen Berufsgruppen entwickelt, der den Prozess unterstützt.

Durchführung einer Machbarkeitsstudie

Aktuell führen wir eine Machbarkeitsstudie durch. Das bisherige Zwischenergebnis ist, dass auf vielen Stationen bereits Veränderungen spürbar sind. Die positiven Aspekte der Umsetzung einzelner Strategien fallen auch den Kollegen auf den anderen Stationen auf. Viele möchten ebenfalls an der Umsetzung teilnehmen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich zahlreiche Strategien im Arbeitsalltag genauso erfolgreich verinnerlichen lassen wie in Seminaren.

Unser Fazit: Personal, Finanzierung und bauliche Verhältnisse in der Psychiatrie sollten optimiert werden. Darüber hinaus können wir die Arbeit mit unseren teils schwerkranken Patienten durch sinnvolle Regeln und eine achtsame Haltung verbessern und erleichtern. Ein verbindliches und transparentes Regelwerk kann dabei helfen.

Bildquelle: Vitos

Verweis: Weiterführende Literatur von Herrn Prof. Dr. med. Michael Franz zum Thema „Betriebssprache in der Psychiatrie“ finden Sie im Editorial der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“ erschienen im Thieme-Verlag, 46. Jahrgang, Heft 4, Mai 2019, S. 181-183.