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„Berührungsängste verschwinden sehr schnell“

Vitos bietet Videosprechstunden an

Kontaktbeschränkung, Hygiene-Maßnahmen, Abstandsregel: Das Coronavirus hat den Klinikalltag stark verändert. Doch die Covid-19-Pandemie hat auch eine andere Seite: Bei Vitos sind in kurzer Zeit mehrere neue, vor allem digitale Angebote entstanden. Eines davon ist die Videosprechstunde, die Vitos nun dauerhaft anbietet. Natascha Brand leitet das Projekt E-Health und digitale Teilhabe bei Vitos Herborn. Im Interview schildert sie, welche Erfahrungen sie mit der Videosprechstunde gemacht hat.

Wie nutzen Sie die Videosprechstunde bei Vitos Herborn?

Natascha Brand: Wir nutzen sie beispielsweise in der ambulanten Behandlung. Hierfür ist sie sehr hilfreich, denn es gibt immer wieder Patient/innen, die es nicht schaffen, in die Klinik zu kommen. Grund hierfür kann zum Beispiel ein langer Anfahrtsweg sein. Unser Ziel ist es, jeden Menschen, der eine Behandlung benötigt, zu erreichen, um ihm oder ihr zu helfen.

Allerdings bleibt auch dann der direkte Kontakt zu den Patient/innen wichtig. Denn sie müssen wissen, wer für sie zuständig ist und wer sie begleitet. Digitale Anwendungen und persönlicher Kontakt sollten eng miteinander verknüpft sein.

Welchen Vorteil bietet die Videosprechstunde im Vergleich zum telefonischen Kontakt?

Brand: Für die Patient/innen ist es eine wichtige Komponente, die behandelnde Person zu sehen. Sie sind sehr sensible für Gestik und Mimik. Diese nonverbale Kommunikation kann natürlich nicht über das Telefon übermittelt werden. Und die behandelnde Person selbst kann sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von den Patient/innen machen. Das gilt nicht nur für die zu behandelnde Person, sondern auch für das wohnliche Umfeld. Umgebungsfaktoren sind wesentliche Merkmale, die sich auf ein Krankheitsbild auswirken können. Die behandelnde Person kann so weitere Aspekte in die Therapie einfließen lassen.

Wie sieht die technische Seite aus?

Brand: Wir nutzen das Programm ClickDoc. Die Anwendung ist sehr intuitiv zu bedienen. Es wird kein Tablet oder Laptop mit Kamera benötigt – ein Smartphone reicht völlig aus. Der Patient oder die Patientin erhält von uns den Link zu der entsprechenden Website und einen persönlichen Code. Mit diesem Code und dem eigenen Namen, meldet sich die Person auf der Seite an und landet automatisch im virtuellen Wartezimmer. Es ist also nicht nötig, sich zu registrieren oder ein Konto anzulegen.

Gibt es Skepsis von Seiten der Patient/innen?

Brand: In einer meiner ersten Gruppensitzung hatte ich eine Patientin, die meinte, sie würde sich das Ganze anhören, wolle aber eigentlich nichts damit zu tun haben. Sie sagte, dass sie lieber jemanden von uns mit nach Hause nehmen würde, anstelle eines Geräts. Ich habe ihr dann mit einem Augenzwinkern erklärt, dass sie mit der Technik ein bisschen von mir mitnimmt und so in Kontakt mit mir bleiben kann.

Natascha Brand

Natascha Brand (re.) nimmt sich gerne Zeit, digitale Anwendungen zu erklären.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man ein Tool je nach Anwender/in unterschiedlich erklären muss. Dann sind auch die Skeptiker/innen empfänglich für digitale Angebote. Es ist wichtig, den Patient/innen zu verstehen zu geben, dass wir sie mit diesen Angeboten nicht abschieben wollen. Im Gegenteil: Wir wollen ihnen über den Aufenthalt bei uns hinweg oder eben ergänzend zum persönlichen Kontakt weiter zur Seite stehen.

Gibt es bei einer Videosprechstunde bestimmte Dinge zu beachten?

Brand: Eigentlich nicht. Aber natürlich bereite ich die Patient/innen auf die 30-minütige Videosprechstunde vor. Beispielsweise habe ich vor einiger Zeit eine Patientin in das Programm eingeführt, die auch schon ein anderes digitales Angebot von uns nutzt. Ich habe ihr die Anwendung auf meinen Smartphone gezeigt und bin dann in einen anderen Raum gegangen. Wir haben die Behandlungssituation also simuliert. Die Patientin war hellauf begeistert. Sie konnte die Anwendung intuitiv bedienen und ich musste nichts weiter erklären. Das Therapiegespräch an sich verläuft, wie die Gesprächseinheiten vor Ort sonst auch. Es gibt keine besonderen Dinge, an die man sich halten muss. Die Berührungsängste, die es zu Beginn manchmal gibt, verschwinden sehr schnell. Die Angebote sind sehr niedrigschwellig und intuitiv.

Ich habe das Programm natürlich auch den Behandlern vorgestellt. Und auch die waren begeistert von der Einfachheit der Anwendung. Es war allen klar, dass dies der nächste Schritt in unserem Angebotsspektrum ist. Nachdem sie das Tool selbst getestet haben, gab es keine Zweifel mehr.

Welche weiteren digitalen Angebote gibt es?

Brand: Wir nutzen aktuell eine Anwendung mit verschiedenen Online-Programmen, die die Patient/innen durcharbeiten können – zusätzlich zur Therapie bei uns. Wir bieten drei Schwerpunkte an: Ängste, Burn-out und Depressionen. Diese Programme bestehen aus verschiedenen Modulen, die als Audio oder Video zur Verfügung stehen. Es gibt zum Beispiel Module der Psychoedukation oder Achtsamkeits- und Entspannungsübungen.

Ich handhabe es auch hier so, dass es zunächst eine Einführung in kleinen Gruppen von mir persönlich gibt. Im Anschluss hinterlege ich ein Tablet auf der Station, damit die Patient/innen die Programme schon einmal testen und dann mit konkreten Fragen an mich herantreten können.

Müssen die Patient/innen in Zukunft gar nicht mehr zu uns kommen?

Brand: Das ist ein Szenario, dass ich für unwahrscheinlich halte. Wir Menschen sind Beziehungswesen. Der Mensch-zu-Mensch-Kontakt ist aus meiner Sicht unersetzbar. Ich stehe zu 100 Prozent hinter den digitalen Projekten, die wir umsetzen und bin von dem Mehrwert fest überzeugt. Diese Entwicklung ist wichtig, damit wir unsere Patient/innen auch zu Hause besser unterstützen können und eben auch die erreichen, die nicht zu uns in die Klinik kommen können. Im Kern ist es die Verbindung zwischen Technik und persönlicher Beziehung, die eine erfolgreiche Implementierung von digitalen Anwendungen ermöglicht.

Hintergrund:
Schon seit längerem gab es bei Vitos Pläne, für Patient/innen eine Videosprechstunde einzuführen. „Die Covid-19-Pandemie hat die Einführung der Videosprechstunde sehr beschleunigt“, schildert Laura Kuhlmann, Geschäftsführerin von Vitos digitale Gesundheit. Zu Beginn des Lockdowns im März führte Vitos die Videosprechstunde innerhalb von zwei Wochen flächendeckend ein. Annähernd 800 Behandler haben sich inzwischen für die Nutzung registriert, mehr als die Hälfte von ihnen hat das Tool bislang genutzt. Auf Grund vieler positiver Rückmeldung hat Vitos sich dazu entschieden, die Videosprechstunde weiterhin anzubieten. Wie und in welchem Umfang Ärzt/innen und Therapeut/innen die Videosprechstunde in der Behandlung einsetzen möchten, entscheiden sie gemeinsam mit ihren Patienten.

Zur Person:
Natascha Brand ist examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und hat ihr berufsbegleitendes Studium Bachelor of Arts Social Management – Healthcare Services / Psychiatric Nursing in 2017 erfolgreich abgeschlossen. Bei Vitos Herborn war sie bereits auf unterschiedlichen Stationen tätig. Von 2009 bis 2015 auf einer Station für die Doppeldiagnose „Sucht und Psychose und bis 2017 auf einer Depressionsstation. Im Anschluss hat sie im Schwerpunktbereich Abhängigkeitserkrankungen gearbeitet. Im Juli 2018 stieg Sie unterstützend mit in das Pilotprojekt E-Mental-Health ein. Seit November 2019 leitet sie das Projekt „E-Health und Digitale Teilhabe“ bei Vitos Herborn.

Bildquelle: Natascha Brand