„Demokratieförderung ist Gesundheitsförderung“

Demokratieförderung ist Gesundheitsförderung

„Demokratieförderung ist Gesundheitsförderung“

Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Idstein vermittelt ihren jungen Patient/-innen demokratische Werte – unter anderem in der Schreibwerkstatt

Demokratie- und Gesundheitsförderung gehen Hand in Hand. Dem Team der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Idstein ist es deshalb wichtig, demokratische Werte zu leben und zu vermitteln – im klinischen Alltag ebenso wie mit einem besonderen Gruppenangebot, der Schreibwerkstatt. Dort nutzen die jungen Patientinnen und Patienten verschiedene kreative Mittel, um sich dem Thema „Demokratie“ zu nähern. Im Interview schildern Oberärztin Banu Katik und ihre Kolleg/-innen Janis Karle und Isabel Mohr, warum ihnen das Thema so am Herzen liegt.       

Warum ist Demokratieförderung für Sie Teil der Gesundheitsförderung?

Banu Katik: Die Förderung psychischer und körperlicher Gesundheit kann in antidemokratischen Strukturen nicht gelingen – weil dort Menschenrechte missachtet werden, Diskriminierung zu Ungerechtigkeit führt und es keine Möglichkeit der Partizipation gibt. Gelebte Demokratie ermöglicht hingegen Selbstwirksamkeit und bietet Schutz vor Machtmissbrauch. Wir können in demokratischen Strukturen auf Gerechtigkeit und zukunftsfähige gemeinschaftliche Lösungen hoffen. Und Studien belegen, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Hoffnung und psychischer Gesundheit gibt1.

Banu Katik

Banu Katik ist Leitende Ärztin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Idstein

Wie wirken sich Krisen auf Kinder und Jugendliche aus?

Banu Katik: Wir sehen mit großer Sorge, dass Kinder und Jugendliche durch komplexe gesellschaftliche Herausforderungen und Krisen in ihrer psychosozialen Entwicklung gefährdet werden. Die Teilhabe an Bildung und Wohlstand ist zunehmend erschwert, die Bedrohung durch Kriege und die Klimakrise nimmt zu – das alles hat Einfluss auf ihre Entwicklung. Außerdem erleben Kinder und Jugendliche, dass unsere demokratischen Werte gefährdet sind und an vielen Orten der Welt autokratische Regime erstarken. Das kann zu Angst, Traurigkeit und Wut führen – nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist es unsere Aufgabe, Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Reifung bestmöglich zu unterstützen und ihnen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen. Wir möchten ein offenes, zugewandtes und transparentes Miteinander fördern. Damit möchten wir ihnen Partizipation, Selbstwirksamkeit und Wehrhaftigkeit auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene ermöglichen.

Welchen gesellschaftlichen Rahmen benötigen Kinder und Jugendliche, um mental gesund aufwachsen zu können?

Janis Karle: Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung einen Rahmen, der ihnen Sicherheit, Struktur, Orientierung und Raum zur persönlichen Entfaltung bietet. Das kann durch stabile und funktionale Betreuungssysteme geschehen – angefangen vom Kindergarten über die Schule bis hin zu Ausbildung und Studium.

Janis Karle

Janis Karle ist Sozialarbeiter der Klinik

Außerdem sollte man sich immer vor Augen führen, dass Kinder und Jugendliche von sozialer Ungerechtigkeit besonders hart getroffen werden. Es geht also um wirksame Unterstützungen für Familien und Chancengerechtigkeit. Familien sind zwar unterschiedlich, doch die kindlichen Bedürfnisse sind ähnlich. Ebenfalls muss es mehr Angebote für psychische Erkrankungen geben, an die sich vor allem die Eltern wenden und sich selbst Hilfe holen können. Denn gesunde Eltern sind eher befähigt, Ressourcen aufzubringen, für ihre Kinder die nötige Fürsorge zu gewährleisten.

Wie versuchen Sie in Ihrer Arbeit demokratische Werte zu vermitteln?

Isabel Mohr: Für mich ist es wichtig, in meiner therapeutischen und pädagogischen Arbeit Kinder und Jugendliche so viel wie möglich einzubeziehen, um Partizipation, Meinungsbildung und Kompromissfindung zu fördern. Im klinischen Alltag versuchen wir, wo immer es geht, Beteiligung zu ermöglichen. Wir achten auf ein respektvolles und achtsames Miteinander und arbeiten so, dass es für unsere jungen Patientinnen und Patienten nachvollziehbar ist. Wenn die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung machen können, dass sie ein Mitspracherecht haben und ihre eigene Umwelt mitgestalten können, fördern wir damit ihre Selbstwirksamkeit.

Isabel Mohr ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Ausbildung

Isabel Mohr ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Ausbildung

Im Essenssaal hängt an prominenter Stelle ein eingerahmtes Plakat mit den Kinderrechten. Wir sprechen viel darüber, dass jeder Mensch wertvoll ist, so wie er ist. Bei Konflikten vermitteln wir, dass es wichtig ist, einen Konsens zu finden. Wir benennen Fehlverhalten und reflektieren gemeinsam darüber. Wir unterstützen die Kinder dabei, ihre Emotionen besser regulieren zu können und auch die Emotionen anderer besser einschätzen und darauf reagieren zu können.

Janis Karle: Wir versuchen, Gelegenheiten zu schaffen, alle Kinder in Entscheidungen einzubeziehen. Auch, dass Kinder das „Warum?“ und „Wie?“ hinter Entscheidungen besser nachvollziehen und verstehen können. In Gruppenangeboten dürfen die Kinder eine Richtung vorgeben oder mitentscheiden, was an diesem Tag gemacht wird.

Wir haben auch ein Parlament eingerichtet. Es ist ein wöchentliches Gruppenangebot, das mehrere Funktionen erfüllt. Zum einen haben die Patientinnen und Patienten dort die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und Probleme, Bedürfnisse und Wünsche anzusprechen und dazu in den Austausch zu gehen. Zum anderen wollen wir mit dem Angebot auch Teilhabe und Selbstwirksamkeit fördern. Die Kinder und Jugendlichen machen dort die Erfahrung, dass sie ihren Klinikalltag aktiv mitbestimmen können und dass wir ihre Rechte wahrnehmen. Und nicht zuletzt schaffen wir damit ein Verständnis für ein demokratisches Miteinander.

Mit dem Projekt Schreibwerkstatt widmen Sie sich dem Thema „Demokratie“. Worum geht es dabei genau?

Banu Katik: Bevor Janis die Frage konkret erläutert, möchte ich vorab den Kreativraum skizzieren, den die Schreibwerkstatt bietet: Mit Betreten der Werkstatt eröffnen sich neue Perspektiven, der strukturierte Stationsalltag bleibt außen vor. Alles, was die Kinder und Jugendlichen als Begrenzung erleben, können sie in diesem kreativen Raum erst einmal abwerfen. Wir skizzieren den Teilnehmenden diesen Raum ganz bewusst, erläutern, dass alle Gedanken und Emotionen sein dürfen – im Kopf, im gesprochenen Wort, auf Papier. Grenzen, Hierarchien dürfen sich verflüchtigen. Der Kreativprozess ermöglicht Nahbarkeit, schafft Verbindung und ermutigt zur Entfaltung.

Janis Karle: Die Teilnehmenden entscheiden, ob sie mitmachen wollen oder nicht. Kreativität kann man ja nicht erzwingen. Wir geben übergeordnete Themen als Impulse vor, bieten Hilfestellung, aber erzwingen nichts. Die Teilnehmenden dürfen eigene Ideen zur Demokratie gestalten durch Texte, Songs oder Illustrationen. Wir geben dabei nichts vor und bieten einen sicheren Raum an, wo sich die Teilnehmenden entfalten können, ohne hinterfragt zu werden. Die Kinder und Jugendlichen können gerne ihre Gedanken teilen oder besprechen, wenn sie das möchten.

Könnten Sie ein Beispiel nennen für einen besonders schönen Gedanken, den ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin der Schreibwerkstatt zu dem Thema hatte?

Banu Katik: Ein 7-jähriger Junge hatte die schöne Idee zu einer Friedenspolizei, die unter Kriegsparteien vermitteln könnte. Eine Gruppe Jungs hat sehr intensiv über diese Idee diskutiert und auch darüber, warum es zu

Blumen statt Munition: Was Kindern zum Thema Krieg einfällt.

Blumen statt Munition: Was Kindern zum Thema Krieg einfällt.

Kriegen kommt. Dieses Gespräch hat die Kinder inspiriert: Aus einem eher kriegerischen Motiv mit Panzern haben sie ein Bild entwickelt, in dem Panzer Blumen statt Munition abwerfen. Es wurde allerdings auch deutlich, wie sehr die aktuelle Weltpolitik bereits jüngere Kinder sorgenvoll beschäftigt. Am Schluss haben sie über das unverschuldete Aussterben der Dinosaurier gesprochen – und es mit der selbstzerstörerischen Aggression von Menschen verglichen. Kinder sind in ihren Betrachtungen oft sehr weitsichtig. Ich finde, wir sollten viel stärker auf sie hören.

Hintergrund: Die Texte und Illustrationen der Schreibwerkstatt zum Thema „Demokratie“ werden in einer Anthologie gebündelt und veröffentlicht. Es ist bereits der dritte Sammelband, den das Team der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Idstein gemeinsam mit Patientinnen und Patienten veröffentlicht. Anlässlich des Festsymposiums zum Jubiläum „50 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie“ im Januar 2025 hat sich die Klinik an einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt und einen „Raum für Demokratie“ eröffnet.

Mehr Infos zur Schreibwerkstatt gibt es hier.

Zu den Personen: 
Banu Katik ist Leitende Ärztin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Idstein. Isabel Mohr ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Ausbildung und Janis Karle ist Sozialarbeiter in der Klinik.

Autor/-in
Vitos Blog