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Deutschlernen in der Forensik

Wie in einer Sprachschule lernen psychisch kranke Rechtsbrecher in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar Deutsch. Der Grund: Nur wer die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht, kann einer Therapie folgen.

Auf den ersten Blick wirkt der Unterrichtsraum wie ein normales Klassenzimmer: Auf dem Schrank steht ein Globus. An den Wänden hängen Lernposter, die Dativ, Nominativ und Personalpronomen erklären. Die Schüler haben gerade einen Zwischentest geschrieben.

Doch die Fenster des Klassenzimmers lassen sich kaum öffnen. Und rechts hinten in der Ecke sitzt ein Pfleger mit einem Personennotrufgerät am Gürtel. Wenn nötig unterstützt er die Lehrerinnen im Umgang mit den Schülern und dokumentiert ihr Verhalten.

Die Schüler sind psychisch kranke Rechtsbrecher, die in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar behandelt werden. Fast alle leiden unter Schizophrenie. Ohne ihre Medikamente neigen sie dazu, sich verfolgt und bedroht zu fühlen. Manche hören Stimmen, andere entwickeln Wahnideen. Da sich die Symptome durch die Traumata einer Flucht verstärken, fallen sie bei Migranten besonders schnell auf.

14 Nationen

Die aus 14 Nationen stammenden Patienten eint ein Problem: Sie sprechen beziehungsweise sprachen alle nur ein paar Brocken deutsch, manche sind sogar Analphabeten. Analog zur Flüchtlingsbewegung kamen sie seit 2015 vermehrt in die forensische Psychiatrie. Doch: „Wer kein Deutsch kann, kann in der Therapie nicht weiterkommen“, sagt der leitende Abteilungsarzt Martin Stein. Gemeinsam mit dem hessischen Sozialministerium richtete die Klinik im April 2017 eine sogenannte „SPRINT“-Station ein, eine Station für Spracherwerb und Integration im hessischen Maßregelvollzug.

Schreibübungen

Schreibübungen

Die 21 Männer und Frauen gehen jeden Tag für vier Stunden zum Sprachunterricht. In der Klasse von Lehrerin Petra Bös-Petz ist es erstaunlich still. Sie nimmt gerade das Kapitel über die Gastronomie – ein schweres Wort – durch. Ihre Schüler haben allerdings kaum eine Chance, zwischendurch wegzuträumen. Bös-Petz lässt sie im schnellen Wechsel Bilder beschreiben, Sätze formulieren und von ihren eigenen Erfahrungen aus der Hotelbranche berichten. Der häufige Methodenwechsel mit Memories, Lernspielen und dem Üben in Bewegung ist gewollt. Ihre Schüler können sich wegen ihrer Krankheit oft schwerer konzentrieren. „Sie schlafen sonst manchmal auf dem Tisch ein“, erzählt ihre Kollegin Sonja Hilgemann.

Mit der Disziplin hat Bös-Petz eigentlich fast nie Probleme. Ihre Schüler sind ruhiger als die Auszubildenden und Grundschüler, die sie früher unterrichtet hat. Allerdings haben beide Lehrerinnen profunde Erfahrungen: Die ausgebildete Bäckermeisterin und Theologin Bös-Petz war drei Jahre lang Seelsorgerin im Frauengefängnis Preungesheim. Sonja Hilgemann hat als Justizvollzugsangestellte im Gefängnis und als Deutschlehrerin für Kinder mit Migrationshintergrund in einer Haupt- und Realschule gearbeitet.

Schneller Methodenwechsel
Unterricht mit Lehrerin Petra Bös-Petz

Unterricht mit Lehrerin Petra Bös-Petz

Was ihre Schüler verübt haben, steht für beide Lehrerinnen nicht im Vordergrund. Sie gehen auf jeden unabhängig seines Delikts zu. Mit den Mitarbeitern der SPRINT-Station stehen sie im engen Austausch, dort wird die Sprache im Alltag vermittelt. Türen und Wände sind mit Plakaten zum Wörterlernen bespickt. Da gibt es allein acht verschiedene Körperbilder, mit deren Hilfe die Patienten ausdrücken können, wo es schmerzt.

Schon die Morgenrunde endet mit einem Sprachspiel. Da werden Uhrzeiten gelernt, Sätze gebildet oder die Bedienung der Waschmaschine erklärt. Es gibt eine Lesegruppe, die sich Münchhausens Abenteuer vorgenommen hat, und eine Musikgruppe, die Karaoke und deutsches Liedgut übt. Roberto Blancos „Ein bisschen Spaß muss sein“ erschallt besonders oft auf der Station. Die Patienten reden grundsätzlich nur deutsch miteinander – auch, wenn sie essen, kochen, Sport treiben, Hausaufgaben machen oder in die Arbeitstherapie gehen. Und im großen Flur vor der Station diskutieren sie oft über das, was sie in den einfachen, deutschen Zeitungen lesen, die hier ausliegen.

Keine Gewalt

„Wir hatten eigentlich erwartet, dass wir es hier mehr mit Gewalt zu tun haben würden“, sagt Abteilungsarzt Stein. Tatsächlich gab es keinen einzigen tätlichen Übergriff auf das Personal und kaum Reibereien zwischen den Patienten. Im Gegenteil: Die Patienten unterstützen sich gegenseitig beim Deutschlernen, nehmen Rücksicht und lachen nicht übereinander.

Ob das auf „Glück, Zufall oder gute Arbeit“ zurückgeht, vermag Stein nicht zu sagen. Doch Ärzte, Pflegekräfte und Psychologen schauten jeden Tag intensiv, „wie die Patienten drauf sind“. Normalerweise werden in Hadamar die Straftäter mit Suchterkrankungen behandelt. Auf der SPRINT-Station haben sie jedoch psychisch kranke Patienten aus der forensischen Klinik in Haina übernommen, von denen knapp die Hälfte wegen schwerer Körperverletzung, Totschlag oder Mord eingewiesen wurde. Es sind aber auch Fälle von Diebstahl und Nötigung dabei. Wenn sie auf einfachem Niveau sprechen und verstehen können (Sprachkompetenz Level A2), werden sie nach Haina zurückverlegt. Das dauert normalerweise ein Jahr. Wer vorher nicht lesen und schreiben konnte, hat eineinhalb Jahre Zeit.

„Die meisten wissen ihre Chance zu würdigen“, berichtet die forensische Psychologin Nadja Riemat. Sie bietet Einzelgespräche für die Patienten an, die besser deutsch können. Zu ihnen zählt der Somalier Mohammed A.*. Der junge Mann ist so angetan von der Schule, dass er keinen Tag Unterricht verpasst und auch mit Kopfschmerzen hingeht. Die Lehrerinnen und Pfleger seien „schön“, sagen die Schüler. Damit sei „freundlich und nett“ gemeint, erklärt Mohammed. Neben ihm sitzt der aus Rumänien stammende Stephan G., der regelmäßig für Mitpatienten übersetzt. Er ist der Einzige, der manchmal in Begleitung von Pflegern in die Stadt gehen darf. Dann holt er sich meist einen Döner in einem Imbiss.

Dankbare Patienten

Auch das Pflegepersonal hatte befürchtet, gewaltbereitere Patienten zu bekommen, erzählt Stationsleiterin Tatjana Dammer.

Wichtige Themen werden in der Morgenrunde besprochen

Wichtige Themen werden in der Morgenrunde besprochen

Tatsächlich spüre man im Stationsalltag vor allem die Dankbarkeit der Patienten, die oft sogar gute Laune ausstrahlten: „Sie sind dankbar dafür, dass sie hier eine sichere Lebenssituation haben, schon im Sinne einer Grundversorgung wie beispielsweise, dass es gutes Essen gibt. Eine der Basisaufgaben der Pflege ist es, die Patienten darin zu unterstützen, ihre Grundversorgung zukünftig selbständig zu übernehmen: so werden im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe auch Kochgruppen angeboten.“

* Vornamen geändert

Bildquelle: Rolf K. Wegst