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Die Geschwister Lorey: Eine Spurensuche

Zum 1. September: Erinnerung an die Opfer der NS-Krankenmorde

Es ist nicht viel, was wir heute vom Leben der Geschwister Friedrich und Katharine Lorey wissen. Beide wurden Opfer der nationalsozialistischen Psychiatrie-Politik. Und beide waren zeitweise in Einrichtungen untergebracht, die heute von Vitos betrieben werden. Anlässlich des Gedenktags am 1. September erinnert Vitos an die Opfer der NS-Krankenmorde, zu denen auch das Geschwisterpaar aus dem Taunus gehört. Eine Spurensuche.

Von Katharine Lorey ist weder im Bundesarchiv in Berlin noch im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen eine Patientenakte erhalten. „Das ist sehr typisch. Bei Kriegsende hat man versucht, die Spuren zu verwischen und deshalb viele Akten vernichtet“, sagt Dr. Dominik Motz, der das Archiv leitet. Das Leben von Katharine Lorey lässt sich deshalb nur anhand weniger verbliebener Dokumente nachzeichnen, manches geht auch aus der Patientenakte ihres Bruders hervor.

Geboren wurde Katharine Lorey am 7. Oktober 1908 in Steinbach im Taunus. Im Alter von 26 Jahren wurde sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Friedrich in einer diakonischen Anstalt in Nieder-Ramstadt im Odenwald untergebracht. Ob Katharine geistig behindert war oder an einer psychischen Störung litt, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Bei ihrem Bruder Friedrich findet sich in der Patientenakte die Diagnosen „hochgradige Idiotie“ bzw. „Imbezillität“. Damit bezeichneten die Nationalsozialisten verschiedene Formen kognitiver Einschränkungen. „Die vom NS-Regime verwendeten Diagnosen sind ideologisch geprägt und deshalb mit großer Vorsicht zu betrachten“, sagt Dr. Motz.

Die Historikerin Barbara Köhler hat für eine Broschüre des Steinbacher Geschichtsvereins, die im September 2021 erscheint, das Schicksal der Geschwister Lorey erforscht[1] [1]. Sie ist sowohl im Archiv des LWV Hessen, als auch im Tauf- und Sterberegister, in Protokollen des Steinbacher Gemeinderats und im Archiv der Diakonie Nieder-Ramstadt auf Spurensuche gegangen. Bei ihrer Recherche ist sie auf einen Brief des Steinbacher Pfarrers Karl Schlaudraff gestoßen. Er bemühte sich darum, die Geschwister in der Nieder-Ramstädter Anstalt unterzubringen und hatte offenkundig Vertrauen in die kirchliche Einrichtung, die wenige Jahre später zunehmend unter den Einfluss der Nationalsozialisten geriet. Durch den Brief des Pfarrers erhalten wir eine persönliche Einschätzung der Geschwister: Friedrich soll gutmütig, aber nicht gesellig gewesen sein. Katharine, die auch Käthchen genannt wurde, soll schwieriger und auch aggressiver gewesen sein, sodass die Mutter nicht mehr mit ihr fertig wurde[2] [2]. Die Eltern lebten in bescheidenen Verhältnissen und hatten noch drei weitere Kinder. Für die Unterbringung von Katharine und Friedrich in der Anstalt konnten sie nicht aufkommen, weshalb der Steinbacher Gemeinderat die Kosten übernahm.

Im Mai 1938 wurden beide Geschwister in die Landesheil- und Pflegeanstalt nach Gießen verlegt. „Die Einrichtung arbeitete zu dieser Zeit eng mit dem Institut für Erb- und Rassenpflege zusammen, das es damals an der Gießener Universität gab“, schildert Dr. Motz. Auch das Geschwisterpaar wurde Gegenstand von sogenannten Erb- und Rassestudien. Unter anderem wurde eine sogenannte Sippentafel angelegt, die im Archiv des LWV Hessen erhalten ist.

Die Versorgung der Patientinnen und Patienten in der Gießener Anstalt war zu dieser Zeit bereits von Mangel geprägt. Viele Patientinnen und Patienten verstarben infolge der Überbelegung, aufgrund von Vernachlässigung und unzureichender Versorgung. Bereits ab 1933 hatte sich die Sterberate der Patientinnen und Patienten stetig erhöht. 1940 lag sie bei 13,5 Prozent.

Auszug aus dem Brief von Anne Lorey, mit dem sie auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes Friedrich reagiert.

Auszug aus dem Brief von Anne Lorey, mit dem sie auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes Friedrich reagiert.

Auch Friedrich Lorey muss unter Hunger gelitten haben. Das lässt sich an der Gewichtstabelle in seiner Krankenakte ablesen. Er starb am 5. Juli 1940 im Alter von 36 Jahren, vermutlich an Entkräftung. Seine Schwester blieb noch einige Monate in Gießen, bevor sie in die Landesheilanstalt nach Weilmünster verlegt wurde. Die Anstalt war eine von neun Zwischenanstalten für die Tötungsanstalt Hadamar. In Hadamar wurden zwischen Januar und August 1941 im Rahmen der sogenannten „T4-Aktion“ mehr als 10.000 Menschen mit Gas ermordet. Auch Katharine Lorey gehörte zu den Opfern. Sie wurde am 20. März 1941 aus Weilmünster nach Hadamar verlegt und noch am Ankunftstag in der dort eingerichteten Gaskammer durch Kohlenmonoxidvergiftung ermordet.

Kleiderverzeichnis von Katharine Lorey.

Im Archiv des LWV Hessen ist unter anderem ein Kleiderverzeichnis von Katharine Lorey erhalten.

Im Archiv des LWV Hessen ist von Katharine Lorey eine Not-Akte und ein Kleiderverzeichnis erhalten. Kein Foto, keine Auskünfte über ihren Gesundheitszustand, keine Briefe der Mutter an sie.

Die Mutter, Anna Lorey, hing offenbar sehr an ihren Kindern. Nachvollziehen lässt sich, dass sie Friedrich in der Landesheilanstalt Gießen besuchte. Auch Briefe an ihren Sohn sind erhalten. Als sie von seinem Tod erfährt, schreibt sie der Anstalt in Gießen: „Hättet Ihr mir nicht telefonisch Nachricht geben können. Wäre gekommen und wenn es Mitternacht gewesen wäre, das tut mir herzlich weh.“[3] [3]

Geschichte und Gedenken

2019 haben der LWV Hessen und Vitos die vollständig überarbeitete Informationsschrift „Geschichte und Gedenken“ herausgegeben. Sie stellt auf 100 Seiten dar, wie heutige Vitos Einrichtungen in der Zeit von 1933 bis 1945 in das System der Diskriminierung und Ermordung von kranken und behinderten Menschen eingebunden waren. Dazu zählen auch die Landesheil- und Pflegeanstalt Gießen und die Landesheilanstalt Weilmünster.

Die Broschüre informiert über Zwangssterilisationen, über die Verlegung von Patienten in Tötungsanstalten, über die gezielte Unterernährung von Patienten und den Mord durch Medikamente.

Die Broschüre „Geschichte und Gedenken“ finden Sie hier [4] auf unserer Website zum Downloaden.

Weitere Informationen zu den Krankenmorden während der Zeit des Nationalsozialismus gibt es bei der Gedenkstätte Hadamar [5] des LWV Hessen.

[1] [6] Barbara Köhler, „Ein Stolperstein für Josef Schwarzschild. Bommersheim 1908 – Ausschwitz 1943“, Hrsg.: Verein für Geschichte und Heimatkunde e.V. Steinbach (Taunus), 2021

[2] [7] Ebenda, Seite 38

[3] [8] Ebenda, Seite 40

Quellen:

Titelbild: Gedenkstätte Hadamar © Vitos / Foto: Bettina Müller