02 Mai Einen neuen Weg beginnen
Besonderer Behandlungsansatz für Straftäter zwischen 18 und 24 Jahren
Die Station für Junge Erwachsene der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie in Bad Emstal bietet Straftätern zwischen 18 und 24 Jahren einen besonderen, auf den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen zugeschnittenen Behandlungsansatz. In zwei Wohngemeinschaften werden seit Februar 2017 zwölf junge Männer, die aufgrund ihrer Suchterkrankung eine Straftat begangen haben, auf ihr Leben in der Gesellschaft vorbereitet
In der Küche hat er heute mit einem Mitbewohner die Putenrouladen fürs Mittagessen zubereitet. Jetzt übt er ganz für sich Gitarre. Vor Monaten noch undenkbar, als Markus B. auf einer anderen Station der Klinik für forensische Psychiatrie untergebracht war. Da hat er gegen die Regeln verstoßen, hatte keine Lust, sich auf Therapie einzulassen. „Der Start war für mich nicht einfach. Ich war noch nicht bereit dafür“, gibt der 25-Jährige zu. Gleich zu Beginn des Pilotprojektes im Februar zog er in eine der beiden Wohngruppen mit sechs Plätzen ein. Jetzt, nach einem halben Jahr, fühlt er sich wohl: „Ich bin froh, in der WG zu sein. Den engen Kontakt zum Pflegepersonal finde ich gut. Es ist Vertrauen entstanden.“
Ganz ähnlich geht es einem seiner Mitbewohner: „Die vorgegebene Struktur hier ist gut für mich“, sagt Oliver J.. Ein breites Grinsen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die Ruhe und Harmonie in der WG mache es ihm leichter, sich zu öffnen. Das unkomplizierte Verhältnis zu den Betreuern aus dem Pflege- und Erziehungsdienst (PED) schätzt er sehr. „Ich kann hier auch besser als in der JVA (Justizvollzugsanstalt, Anm. der Redaktion) etwas über mich selbst lernen.“
Anstrengender Start
Grundsätzlich steht jedem Patienten ein Bezugspfleger oder eine Pflegerin zur Seite. Die PED-Mitarbeiter leben den Alltag in der WG mit, gehen auf die Bewohner zu, aber sie nehmen den jungen Männern nicht die Arbeit ab. Es gehört zum milieutherapeutischen Prinzip, dass die Bewohner sich selbst versorgen, kochen, Wäsche waschen, die WG in Ordnung halten. So üben sie ein Gemeinschaftsleben ähnlich wie in der Familie ein. Ihre Bezugspfleger ersetzen die Eltern nicht, zeigen jedoch, dass Vertrauenspersonen verlässlich sind, aber auch Grenzen ziehen.
Der Einstieg in der Wohngruppe war anstrengend für Oliver J.. Er war es nicht gewohnt, dass sich wirklich jemand um ihn kümmert. Da war er hin- und hergerissen: „Nervt mich das oder finde ich das gut?“ Inzwischen ist ihm klar: „Ich brauche Hilfe. Ohne sie würde ich draußen gleich wieder einsteigen.“
Einsteigen hieße zurück in den bewaffneten Drogenhandel, für den er fünf Jahre und drei Monate Haft bekam. Doch da will er nicht mehr hin. Deswegen möchte er auch den Beruf wechseln. In seinem alten Leben war der heute 27-Jährige Zimmermann. Jetzt steuert er eine Beschäftigung als Lagerist an, absolviert hier in der Klinik schon Qualifizierungsmodule, um dann später draußen in die Ausbildung zu gehen. Ganz ohne Kokain und Cannabis in Kopf und Körper sieht die Welt viel klarer aus. Er genießt das.
Markus B. hat in der WG seine musische Ader entdeckt. Im vergangenen November hat er angefangen, Gitarre zu spielen, jetzt geht es ihm schon ganz locker von der Hand. Von Hiphop bis Elvis Presley interessiert ihn alles. Das Klavier im Musikraum will er unbedingt auch noch erobern. Beruflich hat sich der junge Mann mit der blonden Mähne auf dem Oberkopf ebenfalls ein Ziel gesteckt. Der ehemalige Dachdecker möchte Frisör oder Fachkraft im Einzelhandel werden, „aber ich hetze mich mit der Entscheidung nicht“. Markus B. lernt, auf sich zu achten und sich realistisch einzuschätzen. Er nimmt gerade an der Rückfallprophylaxe-Gruppe teil.
Drogenhandel und Raub
Der Mittzwanziger hat schon eine Ehe und eine Karriere als Drogendealer hinter sich, sitzt wegen schweren Raubes. Alkohol war sein Einstieg, mit Ende 18 kam Drogenkonsum dazu. Bei einer Streiterei im Milieu flog er in die Heckscheibe eines Autos. Er erlitt tiefe Schnitte am rechten Unterarm. Dadurch verlor er die Ausbildungsstelle, hatte kein Geld und verdiente fortan seinen Lebensunterhalt mit Drogengeschäften. Wiederholt landete er vor dem Richter. „Ich wollte alles selbst schaffen und ich wollte meinen Eltern nichts sagen“, erzählt er. Den Kontakt zu ihnen hatte er abgebrochen, jetzt besuchen sie ihn sogar in der Klinik. „Sie interessieren sich für mich“, freut er sich. „Sie kannten mich ja nicht. Was ich gemacht habe, ist für andere schwer nachvollziehbar.“
Oliver J. hat den Weg zu seinen Eltern ebenfalls wieder gefunden. Er schrieb seiner Mutter nach langer Zeit einen Brief und sie antwortete ihm. „Den Brief habe ich heute noch und lese ihn ab und zu“, erzählt er mit belegter Stimme. Er telefoniert regelmäßig mit seiner Familie, die rund 600 Kilometer entfernt in Mecklenburg lebt. „Ich darf zurückkommen“, haben sie ihm signalisiert. Doch selbst wenn er aus der Klinik entlassen wird, möchte er hier in der Nähe bleiben. „Ich brauche die Sicherheit, die mir vertrauten Leute.“
Der geschützte Raum in der Wohngruppe mit dem direkten Austausch mit seinem Bezugspfleger gibt ihm Halt und Ruhe. „Ich darf hier mein Inneres kennenlernen.“ In der Gestalttherapie malte er zwei Bilder mit Masken vor rotem und hellblauem Hintergrund. Sinnbilder für das Leben mit und ohne Drogen. Die hängen jetzt im Besuchsbereich der Klinik. Für Oliver J. ein wichtiger Schritt zu mehr Selbstbewusstsein. Seine Augen leuchten beim Erzählen. Die Anerkennung, die er im WG-Leben erfährt, spornt ihn an. Gleichzeitig weiß er, dass es noch ein gutes Stück Weg ist, bis er auf eigenen Füßen stehen kann. „Wir helfen uns gegenseitig. Wir sind nicht allein“, beschreibt er die Pluspunkte des WG-Lebens. „Es ist gut, dass wir gegenüber dem Pflegepersonal Dinge ansprechen können, die wir nicht hinbekommen. Wir brauchen Moderatoren“, sagt Markus B. und ergänzt: „In jedem Fall ist das hier ein guter Platz, um einen neuen Weg zu beginnen.“
Bildquelle: Rolf K. Wegst