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„Bindung und Trennung gehören zusammen“

Wie Kinder an Trennungen wachsen können

Sich von einem geliebten Menschen trennen – das ist eine Erfahrung, die widerstreitende Gefühle auslösen kann: Einerseits Abschiedsschmerz, wenn wir loslassen. Andererseits das befreiende Gefühl, sich abzunabeln und autonom zu sein. Sich trennen zu können, will gelernt sein. Professor Dr. Matthias Wildermuth beschreibt im Interview, wie wir Kindern dabei helfen können, an Trennungen zu wachsen.

Lassen sich Trennungen vermeiden?

Prof. Dr. Matthias Wildermuth: Nein, Trennung gehören zu einem Menschenleben dazu. Es ist eine grundlegende Erfahrung, die wir alle machen müssen. Die allererste Trennung, die ein Mensch erlebt, ist die buchstäbliche Abnabelung von der Mutter. Damit ist im Grunde bereits der erste Trennungsschmerz verbunden. Aber dieser Schmerz ist notwendig. Um auf der Welt anzukommen, muss ein Mensch eben tatsächlich eigenständig atmen lernen. Und das setzt sich fort: In der Folge muss er immer mehr Dinge eigenständig tun.

Sich abzunabeln ist also notwendig?

Wildermuth: Ja. Das ist ein weiterer Aspekt von Trennung: Am Anfang erleben wir uns als sehr hilflos. Wir sind abhängig von der Fürsorge anderer. Dagegen versuchen wir so früh wie möglich zu opponieren. Denn um zu einem eigenständigen Individuum zu werden, müssen wir uns zunehmend auf unsere eigenen Fähigkeiten beziehen. Diesen Prozess bezeichnet man als Individuation.

Sich auf die eigenen Fähigkeiten beziehen zu können, setzt allerdings voraus, diese richtig einzuschätzen. Kleine Kinder können das teilweise nicht und übernehmen sich dabei. Aber es gibt eben auch Eltern, die ihre Kinder in diesem Prozess unterfordern.

Wie entsteht die Fähigkeit, sich zu trennen?

Wildermuth: Wenn ein Mensch die frühe Mutter-Kind-Beziehung gut bewältigt hat, wird zumeist eine zweite Beziehungsperson ganz zentral wichtig. Das kann der Vater sein. Ein Kind lernt dann, in einem Dreieck zu leben, sich also auf das Zusammenleben von zwei anderen Menschen einzustellen. Und wenn es schon Geschwisterkinder gibt, wird der Kreis entsprechend größer.

Diese früh erworbene Fähigkeit, sich nicht nur mit einem Menschen zu beschäftigen, sondern mit mehreren, ist eine Voraussetzung dafür, eine Trennungsfähigkeit zu entwickeln. Die Kinder haben dann schon die Erfahrung gemacht, dass es nicht nur eine zentrale Bindung in ihrem Leben gibt – sondern mehrere.

Wie geht diese Entwicklung weiter?

Wildermuth: Wenn Kinder eine gewisse Sicherheit in ihrer Ursprungsfamilie erlebt haben, in den Kindergarten gehen und Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie aufbauen, können sie Trennungssituationen zunehmend besser meistern. In der Pubertät folgt dann ein weiterer wesentlicher Abnabelungsprozess. Die Frage ist dann: Bleiben Jugendliche in der infantilen Bindung zu ihren Eltern verhaftet oder schaffen sie es, zu Gleichaltrigen gute Bindungen aufzubauen? – Wenn ihnen letzteres gut gelingt, können sie auch schwerwiegende Trennungssituationen gut bewältigen.

Bei einer Trennung stehen sich das Bedürfnis nach Autonomie und das Bedürfnis nach Sicherheit gegenüber. Wie bekommt ein Mensch das in Einklang?

Vor jede Trennung gehört das Erleben von Verbundenheit.

Wildermuth: Beides gehört zusammen. Vor jeder Trennung steht das Erleben von Verbundenheit. Schon Kleinkinder machen diese Erfahrung: Im ersten Lebensjahr gibt es bereits minimale Trennungssituationen – sei es beim Einschlafen, sei es, weil die Mutter sich mit etwas anderem beschäftigt. Immer erlebt das Kind sich dabei ganz kurz wie abgetrennt von der Mutter. Dann kommt die Mutter zurück und die Trennungssituation ist überwunden. In diesen Momenten erlebt das Kind, dass Trennung aus Verbindung resultiert. Fast alle Kinder entwickeln auf diese Weise gegen Ende des ersten Lebensjahres eine Bindungssicherheit.

Können Eltern ihren Kindern beibringen, sich zu trennen?

Wildermuth: Bindung und Trennung gehören eng zusammen. Nur wer sich gebunden fühlt, kann sich trennen. Und nur wer sich trennen kann, kann sich auch wieder verbinden. Das heißt: Eltern müssen kleine Momente des Trennens immer wieder herbeiführen. Denn wenn Eltern nur um ihr Kind kreisen und es keine Minute alleine lassen können, erlebt das Kind nicht, dass man sich nach einer Phase des Getrenntseins auch wieder annähern kann. Umgekehrt gilt: Wenn Eltern ihr Kind zu stark auf Distanz halten – beispielsweise, indem sie ihr Kleinkind schreien lassen – dann erlebt das Kind ein absolutes Gefühl von Hilfslosigkeit, Bedrohung und Ohnmacht. Das verursacht ungeheuren Stress. Auch im späteren Leben können diese Menschen dann sehr stressanfällig sein.

Sich zu trennen lernen Kinder also nicht dadurch, dass man sie alleine lässt?

Wildermuth: Nein, Menschen lernen ja auch nicht dadurch schwimmen, dass man sie ins Wasser wirft. Und sich zu trennen lernen Kinder eben auch nicht, indem man sie in die Einsamkeit schickt. Die erste Form der Trennung geschieht vielmehr in distanzierter Anwesenheit eines andern. Eine typische Situation wäre, wenn sich Eltern und Kind im selben Raum aufhalten, sich aber mit jeweils anderen Dingen beschäftigen. Das Kind kann rufen oder Blickkontakt aufnehmen, sich anschließend aber wieder mit seinem Spiel beschäftigen. Das Kind merkt dann: Ich kann ganz für mich sein und habe trotzdem die Eltern nicht verloren. Trennungssicherheit erzeugt die Trennung in Anwesenheit des anderen, nicht in seiner Abwesenheit. Die nächste Form der Trennung besteht darin, dass das Kind ein Übergangsobjekt hat, beispielsweise eine Puppe. Typisch ist, dass ein zweijähriges Kind zur Puppe sagt: „Du musst nicht traurig sein, Mama kommt gleich wieder.“ Das bedeutet, das Kind lernt die Trennung dadurch, dass es mit einem Teil seiner selbst, nämlich dem größeren Teil, auf den kleineren Teil in sich einwirkt. Kommt die Mutter dann wieder zurück, fühlt sich das Kind erlöst, sucht kurz die Umarmung und kann sich dann wieder dem Spiel zuwenden. So sieht die gesunde Form des Trennens für ein Kleinkind aus.

Trennungen können aber auch schwerwiegend sein – zum Beispiel bei einer elterlichen Trennung. Wie belastend ist das für ein Kind?

Wildermuth: Das hängt ganz stark mit der Qualität der elterlichen Trennung zusammen. Haben Eltern anerkannt, dass zwar die gemeinsame Paarbeziehung nicht mehr funktioniert, der andere Elternteil aber in Ordnung ist, kann ein Kind diese Situation ganz anders bewältigen, als wenn sich die Eltern spürbar hassen. Eine Scheidung, bei der die Eltern sehr destruktiv miteinander umgehen, ist für das Kind kein normaler Entwicklungsweg, wie ich ihn zuvor beschrieben habe. Es ist vielmehr eine Hochbelastungssituation. Dazu muss man sagen, dass Scheidungen früher mit langen Stellungskriegen einhergingen – oder auch dem völligen Verstummen der Eltern. Die Kinder lebten dann schon lange in einem Zustand der Aufregung oder Verunsicherung. Viele Kinder konnten sich auch gar nicht äußern. Ihnen fehlte schlicht die Sprache dazu – auch weil ihre Eltern sie nicht dazu angeregt hatten, ihre Nöte und Bedürfnisse zu äußern.

Hat sich das geändert?

Wildermuth: Wir erleben heute vergleichsweise häufiger, dass Eltern sich scheinbar ohne Probleme verbinden und trennen. Die Kinder merken unter Umständen gar nicht, dass die Eltern schon lange vor der Trennung kein Paar mehr waren. Das führt teilweise zu geringeren Reaktionen, aber nicht unbedingt zu besseren Verarbeitungsformen. Denn Nachlässigkeit in der Kommunikation, Gleichgültigkeit oder die Nivellierung von Beziehungen wirkt zwar vordergründig nicht so aufregend, führt aber bei den Kindern zu einer anderen Form späterer Bindungsverunsicherung, nämlich zu einem so genannten vermeidenden Bindungsverhalten.

Was bedeutet das?

Wildermuth: Spürt ein Kind, dass Beziehungen unsicher sein können, dass Nähe nicht verlässlich ist, kann sich daraus ein Vermeidungsverhalten entwickelt. Das Kind vermeidet also, Bindungen einzugehen.

Kinder entwickeln durchaus auch ein Vermeidungsverhalten, wenn sich Eltern sehr dramatisch scheiden lassen oder sehr aggressiv miteinander umgehen. Bleiben die Auseinandersetzungen der Eltern im Rahmen, haben die Kinder aber zumindest das Gefühl, sie können eingreifen, korrigieren, mitwirken. Ganz typisch ist es dann, dass Kinder versuchen, ihre Eltern wieder zusammen zu bringen oder dass sie sich zum Bündnispartner eines Elternteils machen. Die Kinder machen das, weil sie lieber wirksam sein wollen als hilflos und ohnmächtig. Demgegenüber stehen Trennungsszenarien, in denen die Eltern schweigen: Die Kinder haben dann keine Möglichkeit, durch ihr eigenes Verhalten etwas zu verändern.

Wie können Kinder eine Trennung der Eltern gut überstehen?

Wildermuth: Es ist sehr hilfreich, wenn es einen Menschen außerhalb der Familie gibt, zu dem die Kinder schon vor der Trennung einen Zugang hatten. Das gilt übrigens auch für die Erwachsenen. Auch sie brauchen einen Menschen außerhalb der Familie, dem sie vertrauen können, bei dem sie sich aufgehoben fühlen. Es sollte kein Verwandter sein, der den familiären Loyalitäten unterworfen ist. Wir sollten insgesamt immer dafür sorgen, dass Kinder nicht nur unter der Käseglocke des eigenen Zuhauses leben. Aber wir sollten natürlich auch aufpassen, dass Kinder sich nicht nur bei anderen Menschen sicher fühlen und Zuhause gar nichts mehr erzählen. Das sind sozusagen Prophylaxe-Übungen, die beim Überstehen von Trennungen hilfreich sind.

Wann ist in Scheidungssituationen therapeutische Hilfe notwendig?

Wildermuth: Grundsätzlich gilt: Verhalten sich Kinder ganz anders als sonst, benötigen sie Hilfe. Allerdings sind Kinder, die sich auffällig verhalten, nicht unbedingt krank. Im Gegenteil: Häufiger sind sie sogar die weniger kranken. Denn Kinder, die auf eine schwierige neue Situation mit heftigen Reaktionen antworten, zeigen eine gesunde Abwehr- und Bewältigungsstrategie. Wenn Kinder verstummen oder sich gar nicht mehr von jemandem trösten lassen, ist das viel riskanter.

Bei einer Trennung sollten Eltern für sich und die Kinder eine außerfamiliäre Unterstützung in Betracht ziehen. Es muss nicht immer gleich eine therapeutische sein. Aber es ist empfehlenswert, schon vor einer Trennung eine Beratungsstelle zu konsultieren. Eltern, die sorgfältig mit ihren Kindern umgehen, müssen von Vorneherein daran denken, wie es ihren Kindern mit der Trennung gehen wird. Das geschieht nur leider nicht immer, weil das eben auch die Zeit ist, in der die Eltern sehr mit sich beschäftigt sind.

Zur Person: Professor Dr. med. Matthias Wildermuth ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Herborn. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bereits seit 1999 leitet er die Vitos Klinik Rehberg, eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie in Herborn. Die Klinik hat Standorte in Wetzlar, Limburg, Hanau und Gelnhausen.