Gesund aufwachsen in der digitalen Welt

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Gesund aufwachsen in der digitalen Welt

Teil 3 – Kreativität

„Zauberwort Digitalisierung“ – Sie macht vieles einfacher, gleichzeitig verändert sie unser Zusammenleben. Sie verändert vor allem die Art, wie die junge Generation, genannt Digital Natives, aufwächst. Welche Risiken und Nebenwirkungen gibt es schon jetzt? Und auf welche Herausforderungen müssen wir uns künftig einstellen?

Diesen und weiteren Fragen geht Professor Dr. Matthias Wildermuth, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, in einer dreiteiligen Interview-Reihe auf den Grund.

Heute geht es um das Thema Kreativität. Hilft uns die moderne Technik dabei, kreativ zu sein, oder macht sie uns zu passiven Konsumenten, indem sie uns den Anreiz nimmt, selbst etwas zu erschaffen?

Verhindert die Digitalisierung, dass Kinder sich kreativ betätigen? Oder fördert sie vielleicht sogar die Kreativität? Es gibt doch sehr viele kreative digitale Möglichkeiten: Bildbearbeitungsprogramme, Videos, Rollenspiele und vieles mehr.

Professor Wildermuth: Die Frage ist: Was ist Kreativität? Ist Kreativität, Programmen zu nutzen, die mir die Illusion vermitteln, mit drei, vier Bewegungen ein hervorragendes Bild oder eine Grafik zu erstellen? Oder ist es umgekehrt? Ich beginne mit Papier und Bleistift. Dann erst weite ich meine Skizze auf dreidimensionaler Ebene aus, ohne dass ich alles einzeln zeichnen muss. So machen es zum Beispiel Architekten.

Es gilt: Je ausgeprägter meine analogen Fähigkeiten sind und meine Hand-Auge-Koordination entwickelt ist, desto besser kann ich kreativ mit Medien umgehen. Es ist hervorragend, spezielle Programme dafür zu haben. Sie erleichtern uns das Arbeiten. Dennoch halte ich es für unerlässlich, kreatives Schaffen analog zu lernen und dann erst die Programme als Hilfsmitte zu nutzen.

Genauso verhält es sich, wenn ein Kind ein Instrument lernt. Dann geht es auch um Atmung, um die Hand-Auge-Hirnkoordination. Das bedeutet, ständige Wiederholung. Je analoger der Anfang ist, je bezogener zu einer tatsächlichen Handlung der Lernprozess stattfindet, desto unproblematischer ist es, später die moderne Technik anzuwenden. Also beispielsweise Computerprogramme zur Musikkomposition zu nutzen.

Kreativität ist, wie beispielsweise der Grazer Neurowissenschaftler Andreas Fink sagt, Fleiß und Üben. Kreativität ist also intensive Eigenbewegung. Sie ist nicht passiv verinnerlichbar. Man kann Wissen mithilfe der Technik schnell abrufen. Das Vermitteln von Werten, Vertrauen, unabhängigem Denken, Teamwork ist digital jedoch eher schwierig. Da dürfen wir uns fragen: Braucht es in der Schule nicht gerade verstärkt Fächer wie Musik, Kunst, Darstellendes Spiel, Sport oder ganz neue Ansätze, wie zum Beispiel das Unterrichtsfach „Glück“?

Nehmen wir den Sport. Sport kann nur mit eigener Bewegung verbunden werden. Schon vor zehn Jahren gab es Untersuchungen, welche Schulen die leistungsfähigsten Schüler hervorbringen. Es waren diejenigen die weniger die kognitiven Seiten betont haben. Sondern diejenigen, die ihren Schülern Motorik, Geschicklichkeit und Handwerkliches früh vermittelten.

Und moderne Technik verhindert die Bewegung eher?

Professor Wildermuth: Die Forschung zeigt klar, dass Tablets und Smartphones im Großen und Ganzen eher dumm und inaktiv machen. Selbst dann, wenn sie geschickt eingesetzt werden.

In der sogenannten „Sheffield-Studie“ leitete man kleine Kinder zum Basteln an. Einmal sprach die Bastelanleiterin über einen Bildschirm zu den Kindern. Das heißt, das Video wurde vorher aufgenommen, und die Kinder saßen dann davor und haben analog zu dieser Bildschirmaktivität der Bastelanleiterin gebastelt. Und das andere Mal saß sie Face-to-Face bei ihnen. Die Leistung der Kinder war deutlich besser, wenn die Erwachsene live anwesend war. Zumindest bei Kindern unter acht Jahren. Danach kommt eine Zeit, in der die Kinder auch andere kognitive Fähigkeiten haben und nicht mehr so stark den Erwachsenen imitieren und von ihm direkt profitieren.

Da kann man durchaus fragen: „Was ist denn live? Ist live auch, dass die Bastelanleiterin gespürt wird, dass sie gefühlt wird? Spätestens, wenn man zu zehnt lange in einem Raum war, weiß man, dass sich eine gemeinsame Wärme-, Duft- und sonstige Hülle gebildet hat. Das Ganze ist polysensorisch. Ein Zusammenspiel. Die Kinder haben in der live anwesenden Bastelanleiterin Reflexe ausgelöst. Sie hat sich individuell auf die Kinder eingestellt.

Das heißt, der Vorgang ist nicht einseitig, wie im Fernsehen, wo einer etwas produziert und die anderen nur konsumieren. Im Gegenteil: In der Bi-Lateralität entwickelt sich über rückläufige Schleifen eine immer bessere Feinabstimmung. Und diese Feinabstimmung führt bei den Menschen dazu, dass sie sich stärker mit der Sache identifizieren können.

Je mehr sie sich gefühlt und mitbeteiligt erleben und spüren, dass sie den anderen durch ihre Gegenwart beeinflussen können, umso intensiver ist das Lernerleben oder genauer gesagt der Flow. Das heißt, je höher die mentale und physische Präsenz ist, desto mehr wird gelernt. Ab dem achten Lebensjahr sollte das Kind dann fähig sein, auch ohne intensive Begleitung zu lernen.

In der Pubertät lernen Jugendliche meist sogar besser über eine gewisse Distanz zum Lehrenden. Aufgrund der „Coolness-Sehnsucht“ lernen sie sogar teilweise besser über Medien.

Spielt Belohnung in Bezug auf die Motivation und den Lernerfolg von Kindern eine Rolle?

Professor Wildermuth: Wir sind es eigentlich gewohnt, nur wenig Belohnung zu brauchen, um zu lernen. Geräte, wie Smartphones und Tablets, instruieren oft zu früh das Belohnungssystem in unserem Gehirn. Dann nutzt das Kind die Fähigkeiten nicht mehr, die es eigentlich schon hat. Denn diese Fähigkeiten sind für das Kind dann nicht mehr mit einer Belohnung verknüpft. Diese kommt ja über das Gerät von ganz allein und so oft es will.

Und die Abhängigkeit von der ständigen Belohnung steigt und steigt. Das nutzen leider fast alle Computerspiele in infamer Weise aus. Gerade wenn ich mich eigentlich einer anderen Sache zuwenden will, triggert das Computerspiel wieder mein Belohnungssystem und fordert so meine Aufmerksamkeit.

Unser Gehirn hat sich, was die Verarbeitung von Belohnungsreizen angeht, seit 30.000 Jahren kaum verändert. Heute kommen diese Belohnungsreize immer früher, immer schneller und durch immer kompliziertere Bilder und Klänge. Das Kind verliert den eigenen Antrieb, Dinge noch weiter lernen zu wollen. Die Fähigkeiten, die es im Ansatz gehabt hat, verkümmern.

Bildquelle: shironosov/www.istockphoto.com

Autor/-in
Matthias Wildermuth