15 Mai Gesund aufwachsen in der digitalen Welt
Teil 1 – Kommunikation
„Zauberwort Digitalisierung“ – Sie macht vieles einfacher. Gleichzeitig verändert sie unser Zusammenleben. Sie verändert vor allem die Art, wie die junge Generation, genannt Digital Natives, aufwächst. Welche Risiken und Nebenwirkungen gibt es schon jetzt? Auf welche Herausforderungen müssen wir uns künftig einstellen?
Diesen und weiteren Fragen geht Professor Dr. med. Matthias Wildermuth, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, in einer dreiteiligen Interview-Reihe auf den Grund.
Heute geht es um die Frage, wie die Digitalisierung unser Kommunikationsverhalten verändert. Vor allem aber darum, wie sich früher Kontakt mit Smartphones und Co auf die Sprachentwicklung und die soziale Kompetenz von Kindern auswirkt.
Die Welt wird digitaler. Wie können wir die heranwachsende Generation frühestmöglich auf diese Herausforderung vorbereiten?
Professor Wildermuth: Früheste Vorbereitung heißt nicht, dass man möglichst früh schlichteste Anwenderprogramme einführt. Kinder lernen so überhaupt nicht, eigene Wege zu einer Lösung zu finden. Sie lernen lediglich, Google, Alexa, Siri und Co zu fragen. Bedeutet: Werden Medien mit ihrer hohen Informationsflut und mit ihrer hohen Geschwindigkeit zu früh eingesetzt, verhindert das, dass Kinder zeitanalog denken lernen, handeln lernen, Praktisches umsetzen können.
Wenn wir Kinder auf ein selbstständiges Leben vorbereiten wollen, müssen wir das analoge Denken fördern. Ein Beispiel: Wenn Kinder im Mathematikunterricht von Anfang an mit dem Taschenrechner arbeiten, dann entwickelt sich in ihrem Gehirn keine plastische Verknüpfung von Zahlen und Sprache. Sie bleiben auf dem Level einer basalen Intelligenz stehen, die keinerlei Vorbereitung auf die Zukunft bedeutet.
Kinder müssen problemorientiertes Denken erst lernen. Das funktioniert nur, wenn sie eine komplexe Sprache lernen, um Dinge präzise zu formulieren. Vorsprachliche Emojis oder Icons für alles einzusetzen, ist keine Option. Ist die Sprache im Gehirn verankert, spricht nichts dagegen, Parallelstrukturen auf der Computerebene zu nutzen. Aber Sprache beginnt immer über Face-to-Face-Kommunikation.
Was macht es mit einem Kind, wenn es in einem Umfeld aufwächst, in dem intensive Mediennutzung an der Tagesordnung ist?
Professor Wildermuth: Eine ganz einfache Beobachtung: Wenn ein Elternteil mit einem Kleinkind am Tisch sitzt und es füttert und sich gleichzeitig mit dem Tablet oder dem Smartphone beschäftigt, dann verringert sich die Aktivität dem Kind gegenüber. Das Kind bekommt nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit. Es wird nicht aktiviert und nicht zum Essen motiviert. Das führt dazu, dass das Kind selbst abdriftet, die Konzentration und die Verbindung zur Sache verliert. Ein Kind braucht einen anderen Menschen, ein direktes Gegenüber, eine ungeteilte Aufmerksamkeit, die ihm zugetan ist. Nur dann werden ganz viele Neuronen im kindlichen Gehirn aktiviert. Sogenannte Spiegelneuronen sorgen beispielsweise dafür, dass das Kind das Verhalten seines Gegenübers nachahmt. So bilden sich neue Synapsen in großer Zahl.
Ein anderes Beispiel: Wenn Eltern mit einem Kleinkind sprechen, ist es für das Kind entscheidend, dass sie das Kind dabei direkt ansehen. Je geringer der Abstand zu Kind, desto besser kann es alles wahrnehmen. Untersuchungen zeigen: Kommunizieren Eltern mit dem Kind und arbeiten gleichzeitig an ihrem Tablet, fühlt sich das Kind nicht angesprochen. Früher Spracherwerb kommt nur zustande, wenn Eltern ganz viele Ebenen, sogenannte Sinnesmodi mit dem Kind teilen. So können sich Emotion und Kognition im kindlichen Gehirn verknüpfen.
Eltern sind immer auch Vorbild. Kinder orientieren sich an der Art, wie ihre Eltern mit modernen Medien umgehen. Es gibt Eltern, die, während sie mit den Kindern zu tun haben, stärker mit dem Smartphone verbunden sind, als mit dem Kind. Das führt dazu, dass das Kind selber lieber mit dem Smartphone interagiert, als mit den Eltern. Das ist dramatisch. Moderne Medien bieten weniger Qualität und Informationsfluss, aber auch weniger Herzensverbindung als ein menschlicher Interaktionspartner. Kinder lieben diese Objekte trotzdem mehr, als die Bezüge zu den Eltern. Das liegt daran, dass diese Objekte konstant da sind. Sie sind verlässlich und abrufbar. Man muss ihnen nicht hinterherbrüllen, bis sie mal kommen.
Wie verhält es sich bei älteren Kindern? Wirkt sich ständiges Kommunizieren über Whatsapp und Co negativ auf ihre Kommunikationsfähigkeit aus?
Professor Wildermuth: Es gibt sehr wohl die Möglichkeit, dass der Wortschatz reduziert wird, wenn man sich hauptsächlich über Messenger-Funktionen in sozialen Netzwerken oder Chats austauscht. Das Gehirn hat sehr viel mehr Neuronen, als später mal gebraucht werden. Wenn sie sehr früh aktiviert werden, sind sie später auch relativ stabil. Es gibt jedoch Übergangsphasen oder Stressphasen, in denen Vieles wieder verlernt wird. Wenn Kinder elterlichen Stress erleben, ziehen sie sich häufig zurück. Ergibt sich gleichzeitig die Möglichkeit der intensiven Mediennutzung, hören sie auf, ihr gewohntes Kommunikationsverhalten aufrecht zu erhalte. Sie flüchten sich in ein eher sprachloses Medium. So ist es durchaus möglich, dass sie bereits erworbene Sprachkompetenzen wieder verlieren.
Noch dramatischer ist es bei später gelernten Anteilen. Sie sind von vorherein nicht so tief verankert. Allein durch die Pubertät gehen sie zum Teil wieder verloren. Unser Gehirn ist eine autonome Baustelle. Es braucht, wie der Neurobiologe Dieter Braus das mal genannt hat, andauernd eine tiefe Verbindung zu dem, was man tut.
Smartphone, Tablet und Co. sind längst fester Bestandteil im familiären und schulischen Umfeld der Kinder und Jugendlichen. Was braucht es für Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen mit Medien?
Professor Wildermuth: Ich finde es eigentlich so trivial. Wir brauchen Bewegung und Natur. Wir brauchen Ernährung. Wir brauchen Entspannung und Achtsamkeit. Wir brauchen soziale Kontakte. Wir brauchen Dankbarkeit. Wir brauchen Rhythmen und Rituale. Und wir brauchen auch kognitive Stimulation. Kognitive Stimulation durch das Leben in Beziehungen, in sozialer Erreichbarkeit, in Kooperation statt Egoismus, in einem Lernen, was mit einem Wir-Gefühl verbunden ist. Kein ständiges: „Ich kann´s aber alleine“. Wir brauchen die Fähigkeit, Grenzen anzuerkennen. Diese Grenzen sind digital nicht vorhanden. Digital haben wir so viele Informationen gleichzeitig, dass wir von vornherein wissen, wir sind auf der Verliererseite.
Was ist Entspannung und Achtsamkeit? Ich brauche Zeit. Ich muss die Fähigkeit haben, abschalten zu können. Ich muss nach innen gehen, ohne zu erwarten. Wir wissen heute, dass die Erwartung eines Smartphone-Tons die Gedächtnis- und Auffassungsleistung bis zur Hälfte reduziert, allein durch das Erwarten eines Anrufs oder einer Nachricht. Die Fähigkeit, nichts zu erwarten, die Fähigkeit „Bei-sich-Sein“ zu können, allein sein zu können und zu genießen, haben viele Menschen bereits verlernt.
Nur das zu tun, was aus mir kommt und nichts anderes, macht uns übrigens auch weniger egoistisch. Das liegt daran, dass wir uns nicht die ganze Zeit die Frage stellen: Wo bleib denn ich? Soziale Kontakte pflegen, ist wichtig. Aber nicht im Sinne von: Ich muss dazu gehören. Ich darf nicht ausgeschlossen werden. Ich muss in meinem Chatroom erreichbar sein. Ich muss in meiner Whatsapp-Gruppe sofort antworten und ohne Instagram kann ich nicht übermitteln, was mir wichtig ist.
Was sagt es über mich aus, wenn ich mein Essen als erstes fotografiere, um auf Instagram andere freundlich damit zu nerven? Wenn ich meine Joggingrunde aufzeichne und auf Facebook teile? Es heißt, dass ich das gar nicht für mich genießen kann. Ich erwarte Reaktionen darauf, anerkennende Kommentare und Likes aus der Community. Kurz: Ich erwarte Bestätigung. Dann sollte ich mich fragen: Kann ich überhaupt noch etwas für mich tun, ohne sofort zu denken, die anderen sollen es auch wissen?
Hingucken, Wahrnehmung und Gedanken gehören zusammen. Heute kommt der Reiz oft zuerst und dann denke ich hinterher.
Und zuletzt: Rituale. Wachen und Schlafen. Tag und Nacht. Wochen- und Jahreszeiten und verabredete Termine. Termine, die nicht eine Minute vorher abgesagt werden, weil man den anderen schließlich jederzeit erreicht. Das gute Gefühl, dass man sich aufeinander freuen kann. Wo bleibt die Vorfreude, wenn mein Freund eine Minute vorher textet: „Komm wir treffen uns“? Und dass ich mich, das klingt jetzt vielleicht etwas pathetisch, auf etwas ein Jahr lang freuen kann. Mich auf Weihnachten oder ein Vierteljahr vorher auf die nächste Jahreszeit freuen kann. Das heißt, alles, was sofort erfüllt wird, ist der Feind der Wünsche und der Erwartungen. Wir wissen aus der Glücksforschung, dass die größte Freude weiterhin die Vorfreude ist und mit der Erfüllung eigentlich schon das Unglück beginnt. Und die zweite Freude, nur die sein kann, dass ich nach der Erfüllung die Erinnerung habe. Sie gibt eine weitere Freude, die aber durch die Reizüberflutung fast nie zustande kommt.
Schule oder Eltern: Wer ist in der Pflicht, wenn es darum geht, Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien zu vermitteln?
Professor Wildermuth: Es ist wichtig, dass Eltern und Schule die mediale Welt begleiten, also nicht nur die Eltern oder nur die Schule. Beide müssen sich ergänzen. Sie müssen Kindern vermitteln, wie wichtig es ist, Medienpausen einzulegen. Oder noch besser: Das Medium wird nur in der Pause genutzt und danach wird es wieder ausgeschaltet. Es gibt also so etwas wie Rituale. Es wird nichts abgeschnitten, aber begrenzt.
Es gibt immer mehr Menschen, die, wenn sie das Medium nicht bei sich haben, schwere Ängste entwickeln. Mit Aufklärung darüber leisten wir Hilfe, damit das Objekt nicht zum Zwang für uns wird. Dass ich zum Beispiel nicht mehr Auto fahren kann, wenn ich mein GPS nicht vor mir habe. Das Medium in Abhängigkeit zu nutzen, schadet mir. Vielmehr sollte es eine Ergänzung sein. Und die Abhängigkeit davon, dieses ungute Gefühl, weil ich mein Smartphone nicht dabei habe, treibt den Puls hoch, macht sofort hilflos, lässt einen gar nicht mehr denken, was man eigentlich denken sollte.
Entwicklungspsychologisch ist es durchaus möglich, diese Medien immer wieder komplementär einzusetzen. Nämlich immer dann, wenn ein Kind eine Sache analog und sicher etabliert hat. Das müssen alle Eltern und Schulen wissen. Und was machen wir im Moment? Der schwarze Peter wird hin- und hergeschoben. Die Schule sagt, die Eltern seien dafür zuständig, die Eltern sagen, die Schule sei zuständig. Aber wir wissen, dass gerade bei den Kleinkindern, und da wird es verankert, die Eltern zuständig sind. Die Art, wie die Eltern in Anwesenheit der Kinder mit den Medien umgehen, entscheidet über deren eigene spätere Mediennutzung. Die Hygiene der Eltern sorgt dafür, dass die Kinder die Medien nicht obsessiv besetzen und zwanghaft lustvoll nutzen. Eltern, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Kind widmen, reduzieren den Gerätehunger der Kinder deutlich. Während die Eltern, die dem Kind das verbieten, was sie gleichzeitig selber machen, eine katastrophale Wirkung erzeugen. Die Kinder kommen dann in eine kognitive Dissonanz. Sie sehen ein Verbot und sie sehen, dass die Eltern sich nicht daran halten. Das Verbot wird total negativ besetzt. Und das, was die Eltern machen, wird total positiv besetzt. Damit haben Sie lernpsychologisch allein schon eine völlig verzerrte Ausgangslage. Und je kleiner die Kinder sind, desto mehr ist das so.
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