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Wenn die eigene Bedürfnisbefriedigung zur zentralen Anspruchshaltung wird

Aggressionen und Gewalt sind Teil der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung, die wir seit jeher brauchen, um uns gegen eine feindliche Umwelt durchzusetzen. Heute jedoch reagieren immer mehr Menschen aggressiv, obwohl es, objektiv gesehen, gar keinen Grund dafür gibt. Etwa dann, wenn sie Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindern oder Feuerwehrleute im Dienst angreifen.

Wie kommt es, dass Fairness und gegenseitige Rücksichtnahme aus der Mode gekommen zu sein scheinen? Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn die eigene Bedürfnisbefriedigung zur zentralen Anspruchshaltung wird?

Persönliche Kränkungen führen oft zu aggressivem Verhalten

Aggressionen und Gewalt schlummern in jedem von uns. Ein Grund dafür, dass Menschen sich aggressiv verhalten, ist eine vorausgegangene Kränkung. Meist handelt es sich dabei um eine persönliche narzisstische Kränkung. Also das Gefühl, dass unser Gegenüber uns nicht ausreichend würdigt. Wie schnell sich jemand gekränkt fühlt, ist individuell sehr unterschiedlich. Sind die meisten Menschen heute also einfach dünnhäutiger oder hat sich unsere Anspruchshaltung geändert? Warum lassen gefühlt immer mehr Menschen ihren Aggressionen einfach freien Lauf?

Wir müssen den angemessenen Umgang mit unserer Wut erst lernen

Um ihre Spannungen regulieren zu können, brauchen Kinder von Geburt an eine Bezugsperson. Fehlt diese Bezugsperson, lernen Kinder nicht, wie sie mit Wut und Frustration angemessen umgehen.

Kinder müssen den Umgang mit ihren Aggressionen erst lernen

Kinder müssen den Umgang mit ihren Aggressionen erst lernen

Dabei kann es durchaus sein, dass stets ein Erziehungsberechtigter anwesend ist. Anwesenheit allein reicht aber nicht aus. Beschäftigt sich der Erziehungsberechtigte lieber mit dem Smartphone [1] als mit seinem Kind, kann es die Fähigkeit zur Impulskontrolle nicht entwickeln. Es wird in kritischen Situationen dann eher zu Gewalt und Selbstjustiz greifen, anstatt den Konflikt sozial kommunikativ auszuhandeln.

Helfer werden immer häufiger zu Opfern

Dass immer häufiger Rettungskräfte und Feuerwehrleute Opfer von verbalen oder sogar körperlichen Attacken werden, wirkt erst mal verwunderlich. Schließlich ist es ihr Job, Menschen zu helfen. Wer sollte etwas dagegen haben?

Als Opfer werden diese Berufsgruppen dann gesehen, wenn sie nicht als Helfer wahrgenommen werden. Manchen Menschen genügt es schon, wenn Rettungskräfte ihnen widersprechen.

Denken wir an die Situation, die 2017 durch die Nachrichten ging. Ein Sanitäter musste ein Kleinkind reanimieren und parkte deshalb nahe der Kita. Ein Anwohner wurde vorübergehend am Ausparken gehindert. Der Sanitäter erklärte ihm die Dringlichkeit der Situation, es ging schließlich um Leben und Tod. Doch der Anwohner war außer sich, demolierte den Rettungswagen, behinderte den Sanitäter bei der Arbeit und bedrohte ihn und seine Kollegen. Natürlich ist es ärgerlich, zugeparkt zu werden und deshalb vielleicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Aber kann es wirklich sein, dass vielen Menschen die eigene unmittelbare Bedürfnisbefriedigung wichtiger ist, als ein Menschenleben?

Sobald jemand in die persönliche Freiheit eingreift, indem er widerspricht oder Regeln aufstellt, wird er als Gegner wahrgenommen. Und das kann schon dann der Fall sein, wenn ein Polizist Schaulustigen untersagt, das Unfallopfer mit dem Smartphone zu filmen. Denn auch hier wird die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung des Gaffers behindert: das Sammeln von möglichst vielen Likes nach Veröffentlichung des Videos in den sozialen Netzwerken. Wir als Gesellschaft handeln im Alltag immer weniger gemeinsame Werte und Normen miteinander aus. Gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt bleiben da leider oft auf der Strecke.

Eltern müssen ihren Kindern Sitten und Werte vermitteln

War die Erziehung früherer Generationen meist von Autorität und Strenge geprägt, ist heute in vielen Familien das Gegenteil der Fall. Eltern wollen zunehmend mit ihrem Nachwuchs befreundet sein. Sie tun sich schwer zu akzeptieren, dass sie häufig auch einfach ein nicht besonders gemochtes, aber klares Gegenüber sein müssen. Dazu gehört auch, sich mit der jeweils gebotenen Deutlichkeit spürbar zu machen. Auf diese Weise vermitteln sie ihren Kindern Regeln und Werte und erziehen sie zu sozial kompetenten Wesen.

Hinzu kommt, dass es nicht genügt, die Kinder zu einem besseren Benehmen aufzufordern. Die Eltern müssen ihrer Vorbildfunktion nachkommen. Sie sollten die Haltung und die Werte, die sie von ihren Kindern erwarten, im Alltag vorleben. Allgemeine Phrasen ohne gelebten Alltag bewirken in der Regel wenig.

Ablehnung, Feindseligkeit und fehlende Solidarität der elterlichen Vorbilder wirken am stärksten auf Kinder, deutlich stärker als Medieneinflüsse oder Einflüsse Gleichaltriger. Auf Jugendliche wiederum hat der Freundes- und Bekanntenkreis meist einen größeren Einfluss.

Freunde haben einen großen Einfluss auf Jugendliche

Freunde haben einen großen Einfluss auf Jugendliche

Wenn Eltern ihren Kindern vermitteln, dass ihre Interessen und Bedürfnisse mehr zählen als die ihrer Mitmenschen und sie sich um jeden Preis durchsetzen sollten, lernen diese Kinder nicht, andere Menschen anzuerkennen. Wer denkt, nur die eigenen Bedürfnisse würden zählen, erwartet stets Respekt für sich, bringt diesen anderen gegenüber aber nicht auf. Eine funktionierende soziale Gesellschaft jedoch lebt von gegenseitigem Respekt und Rücksichtnahme.

Solidarität und Fairness sind nur in einem Klima der Wertschätzung und Würdigung möglich. Eine gewisse Hemmung der eigenen Impulse muss gegeben sein. Das bedeutet, dass wir nicht einfach ausrasten, wenn wir wütend sind. Und sei es nur deshalb, weil wir wissen, dass dieses Verhalten unangemessen wäre. Weil wir uns der gängigen Norm nicht widersetzen wollen, um nicht unangenehm aufzufallen.

Die Erwachsenen leben den Kindern den Verfall von Sitten und Werten vor. Sei es am Rand des Fußballfeldes, wenn Väter sich aus Rivalität prügeln oder den Trainer beschimpfen, weil sie meinen, ihr Nachwuchs würde nicht genügend berücksichtigt werden. Sei es, dass sie in der Arztpraxis aggressiv werden, weil sie so lange warten müssen, im Gespräch mit dem Arzt dann aber erwarten, dass er sich für ihr Anliegen alle Zeit der Welt nimmt. Ein Perspektivwechsel findet gar nicht mehr statt. Dabei ist er der Beginn aller Sozialisation.

Allgemeine Enthemmung und aggressiver Kontrollverlust kommen hingegen immer häufiger vor. Somit werden sie von einem Teil der Gesellschaft auch als immer normaler angesehen und toleriert. Schlimmer noch, Fairness und gegenseitige Rücksichtnahme werden zunehmend als Schwäche betrachtet.

Der Stärkere setzt sich mit Gewalt durch. Das war schon bei Darwin so. Wer glaubt, grundsätzlich im Recht zu sein, nimmt sein persönliches Gefühl als letzten Maßstab. Solche Menschen versuchen gar nicht erst, sich selbstreflektiert zu hinterfragen und sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Mit Kritik und Kränkung können sie nicht umgehen.

Aggression zeigt sich in verschiedenen Formen

Körperliche Gewalt ist eine Form der Aggression. Daneben gibt es noch Weitere. Beschimpfungen, Beleidigungen und Entwertungen zählen zu den verbalen Formen von Aggression. Letztere finden sich heutzutage besonders im Internet. Sei es in Form von Cyber-Mobbing, Hasskommentaren oder Shitstorms. Online fällt es vielen Menschen vergleichsweise leicht, verbal zu attackieren, bewegen sie sich dort doch meist unter dem Deckmantel der Anonymität. Selbst, wenn sie bei Facebook Hassbotschaften mit ihrem Klarnamen unter einen Artikel posten, agieren sie meist im Schutz der Masse. Innerhalb der eigenen Filterblase bewegen sich Gleichgesinnte. Wut und Hass gedeihen hier besonders leicht. Es finden sich dort immer weniger Menschen, die sich dem entgegensetzen. Mehr noch: Die Personen in solch einer Online-Filterblase bestärken sich gegenseitig in ihren aggressiven Ansichten. Auf diese Weise kompensieren sie die eigenen Versagensängste, die sie, aufgrund ihrer fehlenden Sozialkompetenz eigentlich haben müssten.

Was kann man dieser Entwicklung entgegensetzen?

Wir sollten Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass es wieder um Werte geht. Dafür braucht es Erwachsene mit einer gefestigten Moral und Gruppen, die sich für Fairness innerhalb der Gesellschaft einsetzen. In Sport, Wirtschaft oder Politik geht es immer um Gewinner oder Verlierer. In unserem täglichen Miteinander darf das nicht so sein. Rücksichtnahme sollte im Vordergrund stehen und nicht der Wunsch, andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Erwachsene müssen sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Werden beispielsweise Unfallvideos über soziale Medien geteilt, sollten sie keinesfalls Likes bekommen. Es sollte vielmehr kritisch hinterfragt werden, unter welchem Umständen die Person überhaupt an die Bilder gekommen ist. Eine Selbstverpflichtung der Zivilgesellschaft zu sozialem Handeln sozusagen.

Bildquelle: iStock; pixabay