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Schmerz lass nach

Warum wir ohne ihn nicht leben können und wie es gelingt, mit ihm zu leben

Schmerzen gehören zu den Lebenserfahrungen, die wir alle kennen und auf die viele Menschen gerne verzichten würden. Unsere körperliche Ausstattung mit Schmerzrezeptoren, mit der Schmerzweiterleitung und letztlich der Schmerzverarbeitung und Schmerzbewertung sind archaische Grundelemente, die der Körper dringend benötigt. Warum ist das so? Wieso kann man chronischen Schmerz nicht abgelöst von der Biografie des Einzelnen betrachten? Und wie können anhaltende Schmerzen gelindert werden?

Schmerzen sind ein wichtiges Warnsignal

Menschen, die unter einem Gen-Defekt mit fehlender Schmerzwahrnehmung leiden, haben keine lange Lebenserwartung. Sie spüren weder den entzündeten Blinddarm noch das gebrochene Bein oder die Verbrennung. Schmerzen sind also wichtig. Sie sind das Warnsignal einer gestörten Funktion. Schmerzen zeigen uns auch unsere Grenzen und unsere Verletzlichkeit auf. Sie machen uns zum wahrnehmenden Menschen, der sich um seine Unversehrtheit kümmern muss. Der Mensch ist schutzbedürftig und vermeidet als schmerzhaft erlebte oder interpretierte Ereignisse. Hier spielt die individuelle Bewertung des Ereignisses eine große Rolle. Je bedrohlicher und autonomiebegrenzender ein schmerzhaftes Erlebnis bewertet wurde, desto eher wird es vermieden.

Schuld und Schmerz sind in unserer Kultur eng verknüpft

Schmerzen als Strafe sind über Jahrhunderte die Regel gewesen und auch heute keine Ausnahme. Die in unserer Kultur enge Verknüpfung von Schuld und Schmerz lebt auch heute noch. In vielen Kulturen sind Schmerzen darüber hinaus in rituellen Handlungen zu finden. Wer am meisten Schmerzen ertragen kann, hat eine höhere Stellung in der Gesellschaft, gilt als tapfer und belastbar und hat Zugang zu höheren gesellschaftlichen Kreisen. Was in allen Kulturen aber gemeinsam ist, ist die Aufmerksamkeit, die man dem Schmerz einräumt. Auch bei uns ist der Schmerz eine sichere „Eintrittskarte“ in die ärztliche Praxis oder das Krankenhaus.

Sprachlich ist der Schmerz ebenfalls fest verankert, denn die Kränkung schmerzt uns ebenso wie die soziale Zurückweisung. Der Rückenschmerz wird „wie ein Messer im Rücken“ empfunden und die Redewendung „jemandem das Rückgrat brechen“ ist auch allgemein bekannt. In diesen Redewendungen kommt auch der Bezug zur schmerzenden Umgebung gut zum Ausdruck.

Schmerz ist ein Sinneseindruck

Diese unvollständigen Vorbemerkungen lassen uns die große Komplexität der so einfach erscheinenden Schmerzen erahnen. Schmerz, ob nun chronisch oder akut, ist ein Sinneseindruck, der, wie alle anderen Sinneseindrücke, in unsere Biografie mit ihren biologischen, sozialen und psychischen Gegebenheiten hineingehört. Wer sich das Bein bricht und gleichzeitig einen geliebten Menschen verliert, wird mehr leiden als ein frisch verliebter Lottogewinner mit einem vergleichbaren Erlebnis. Auch bei Rückenschmerzen sieht man zunehmend den seelischen Druck der Betreffenden im Vordergrund und weniger das mechanische Ereignis. Möglicherweise ist dies auch bei Bandscheibenvorfällen der Fall.

Das „Bio-psychosoziale Schmerzentstehungsmodell“ bei chronischem Schmerz
Dr. Borck und Patient

Eine gelungene Arzt-Patienten-Beziehung kann schmerzlindernd wirken.

Beim chronischen Schmerz ist die enge Beziehung von sozialen, seelischen und biologischen Faktoren als „Bio-psychosoziales Schmerzentstehungsmodell“ anerkannt. Es finden sich biografisch Traumata, Zurückweisungen, Kränkungen, Ausgrenzungen, Verrat, Betrug und eigentlich alles, was Menschen anderen Menschen antun können. Dazu kommen oft ungünstige Lebensbedingungen in der Kindheit, wie Armut, Flucht, Vertreibung, fehlende elterliche Unterstützung, fehlende Berufsausbildung und geringer sozialer Status. Da man Vergangenes nicht ungeschehen machen und die Lebensuhr nicht zurückdrehen kann, ist das Augenmerk des Schmerztherapeuten auf Veränderbares in der aktuellen Lebenssituation gerichtet. Wo sind Stärken, die man fördern kann? An welche erfolgreichen Strategien kann der Schmerzkranke anknüpfen? Wie kann er die Ohnmacht überwinden und sich selber wieder als autonom agierenden Menschen wahrnehmen? Welche positiven Ressourcen gibt es?

Medikamente helfen nur vorübergehend

Medikamente können bei akuten Schmerzen vorübergehend helfen. Je länger die Schmerzen andauern, desto seltener wird man damit Erfolg haben. Oft bleibt nur der bekannte Placebo-Effekt in Bezug auf die Wirksamkeit übrig, der zwar auch seine Wirkung hat, aber die Risiken der Medikamente nicht aufwiegt.

Medikamente

Medikamente helfen nur vorübergehend.

Was wirkt nun schmerzhemmend? Die langjährige Praxis zeigt, dass Bewegung, Singen, Lachen, Entspannung, körperliche Zuwendung und Berührung in der Einzelkrankengymnastik, emotionale Zuwendung in der Psychotherapie, eine gelungene Arzt-Patienten-Beziehung, Laufen und auch das Zuschlagen beim therapeutischen Boxen schmerzlindernd wirken. Wenn die Patienten sich selber wieder als handelnde Personen erleben, ihren Körper, trotz seiner Unzulänglichkeit, wieder als Freund annehmen können und positive Erlebnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen haben, dann sind wichtige Schritte in die richtige Richtung getan. Dennoch: Schmerz gehört zum Leben.

Bildquelle: Bettina Müller