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„Und das ist alles nur in meinem Kopf!“

Fantasiereisen als therapiebegleitendes Angebot in der Psychosomatik

Barfuß laufen. Den warmen Waldboden unter den nackten Füßen spüren. Den Duft von Holz und Moos in der Nase, das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel im Ohr. An einem kleinen Waldbach innehalten. Dem Plätschern des Wassers lauschen. Ein Moment der Auszeit, der Entspannung und des ganz bei sich selbst Seins.

In der Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster schicken meine Kolleginnen und ich unsere Patienten auf die Reise. Im Gepäck: nur die Fantasie.

Die Imaginationsgruppe, ein therapiebegleitendes Angebot, steht allen Patienten offen. Es richtet sich aber insbesondere an all jene, die von einer psychosomatisch bedingten Stimm- und Sprachstörung betroffen sind. Deshalb trägt das Konzept den Namen „Sprache ohne Worte“. Was sich dahinter verbirgt und warum es heilsam sein kann, seine Fantasie auf Reisen zu schicken, möchte ich hier erläutern.

Was es bedeutet, seine Stimme zu verlieren

Die Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster verfügt über den Zusatzbereich Phoniatrie. Dieser Teilbereich der Medizin befasst sich mit Störungen der Stimme, des Sprechens, der Sprache und des Schluckakts. Besonders Menschen, die in sogenannten „Sprechberufen“ arbeiten, können von einer psychosomatisch bedingten Stimm- und Sprachstörung betroffen sein. Gemeint, sind zum Beispiel Lehrer, Erzieher, Call Center-Mitarbeiter, Pfarrer oder Manager. Also Personen, die in ihrem Beruf viel sprechen müssen. Übermäßige Belastung im Job oder auch ein traumatisches Erlebnis, können einem Menschen buchstäblich die Sprache verschlagen.

Die Stimme ist unsere ganz persönliche Visitenkarte. Ihr Klang gibt unserem Gegenüber eine Vielzahl an Informationen. Nicht nur unser Alter, unser Geschlecht und unsere Herkunft lassen sich aus dem Klang unserer Stimme ableiten, auch unser aktueller Gefühlszustand. Entsprechend schlimm ist es, wenn das Sprechen nicht mehr, wie gewohnt, gelingt oder die Stimme sogar völlig versagt. Die langjährige Erfahrung mit diesen Patienten hat uns unbewusst zu Pflegeexperten auf diesem Gebiet werden lassen. Dieses pflegerische Wissen und zugegeben auch die große Empathie wollte ich nicht verblassen sehen, sondern dazu nutzen, um neue Wege zu gehen und das Behandlungsangebot zu erweitern. Für diese Patienten ein spezielles therapiebegleitendes Angebot zu entwickeln, war mir deshalb ein besonderes Anliegen.

So kam es, dass ich das Konzept „Sprache ohne Worte“ entwickelte. Unterstützung bekam ich dabei von meinem Chefarzt und der Klinikleitung. Das Angebot wurde sehr gut angenommen. Mittlerweile nehmen auch Patienten mit anderen psychosomatischen Erkrankungen an unserer Imaginationsgruppe teil.

Die Fantasie auf Reisen schicken
Panoramablick

Die Fantasie führt uns an die abgelegensten Orte.

Acht bis zehn Teilnehmer hat so eine Gruppe. Wir beginnen, mit Atemübungen. Atem und Stimme sind eine Einheit. Zwerchfell, Brust und Rücken werden mithilfe gezielter Atmungs- oder Körperübungen gelockert. Es folgt eine Kombination aus Entspannungs- und Achtsamkeitsübung. Ziel ist es, einen entspannten Zustand mit verstärkter Aufmerksamkeit zu erreichen. Während der Übungen sitzen unsere Patienten aufrecht auf einem Stuhl, mit den Händen im Schoß und den Füßen auf dem Boden. Diese Haltung fördert die Wachheit und erleichtert bewusstes Atmen.

Nun beginnen wir mit der Imaginationsübung. Die Teilnehmer schließen die Augen und lauschen meiner Stimme. Ich entführe sie zum Beispiel in ferne exotische Länder, in malerische Seenlandschaften oder blühende Gärten. Farben, Formen, Gerüche und Klänge beschreibe ich dabei sehr genau. Die Imaginationsübung soll alle Sinne ansprechen. Oft sind unsere Geschichten von Naturklängen und Musik untermalt.

Es gibt auch spezielle „Licht- oder Reinigungsübungen“. Hier arbeite ich mit den starken Elementen Wasser, Licht und Energie. Wasser lässt sich gut benutzen, um sich die Lasten des Tages abzuwaschen, zu erfrischen, wenn man sich erschöpft oder ausgebrannt fühlt. „Sich vom inneren Gepäck distanzieren“, ist eine Übung, die dazu dient, sich zu entlasten, um mehr Raum und Luft zur Erholung zu bekommen. Die Patienten beenden das stete „Durchkauen“ ihrer Probleme und das sich ununterbrochen drehende Gedankenkarussell. Sie finden einen neuen Weg, mit ihren Problemen umzugehen. Sie lernen, diese zu erkennen und deren Vergänglichkeit anzuerkennen. Sie lernen, sich Luft und Raum zu nehmen für Erholung und neue Lösungen. Dieser Effekt wird verstärkt durch die „Tresorübung“, wo das Problem gänzlich weggesperrt wird, vielleicht über Stunden, über Nacht oder sogar übers Wochenende. Ziel der verschiedenen Übungen ist stets, den Patienten innere Zuversicht und Stabilität zu vermitteln. Ihre Fantasie soll sie ermutigen, neugierig machen. Gemeinsam mit anderen finden sie schöpferischen Freiraum in sich selbst. Gute Gedanken erzeugen ein Wohlgefühl, wirken entspannend und stärken das Ich. Stresshormone werden abgebaut, der Blutdruck sinkt. All das wirkt sich positiv auf Körper und Geist aus.

Ein sicherer Rückzugsort

Bei der Auswahl meiner Geschichten schaue ich immer, was meinen Patienten guttut, und mit was sie sich identifizieren können. Meine Kolleginnen und ich haben zahlreiche Bücher über Fantasiereisen gelesen. Mittlerweile haben wir unser eigenes Repertoire an Reisen parat. Die Patienten bauen sich aber auch ihre persönlichen Fantasiewelten, etwa ihren „inneren Garten“ oder ihre „sichere Höhle“. Diesen Ort gestalten sie in ihren Gedanken für sich selbst und dorthin können sie sich, wann immer sie möchten, zurückziehen.

Persönlicher Rückzugsort

Ein Apfelhaus in der Wüste als persönlicher Rückzugsort – warum nicht?

Innere Bilder sind immer mit Emotionen verknüpft

Nicht für jeden Patienten eignet sich das Konzept „Sprache ohne Worte“ gleichermaßen. Innere Bilder sind immer mit Emotionen verknüpft. Patienten mit einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung etwa, könnten durch die Reise in ihre Fantasie erneut mit dem traumatischen Erlebnis konfrontiert werden. Patienten mit Angsterkrankungen, mit massiven Zwängen oder schlimmen Depressionen haben zudem oft Angst vor Kontrollverlust. Entsprechend schwer, fällt es ihnen, sich auf solch eine Reise einzulassen. Studien mit Kontraindikationen gibt es aber keine. Für jeden Patienten, der mit uns auf die Reise gehen will, muss dennoch eine ärztliche Einschätzung vorliegen, ob er für die Teilnahme an der Imaginationsgruppe geeignet ist. Deshalb besprechen wir die Zuteilung immer im multiprofessionellen Team. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass es sich bei dem Konzept „Sprache ohne Worte“ nicht um eine Therapie handelt. Es ist ein therapiebegleitendes Angebot für unsere Patienten.

Entscheidend ist, dass sich die Patienten auf die Imaginationsgruppe einlassen. Nur durch die Bereitschaft, sich dem Angebot zu öffnen und durch regelmäßiges Üben, kann sich die positive Wirkung einstellen. Uns ist es dabei sehr wichtig, einen geschützten Raum für unsere Teilnehmer zu schaffen. Niemand muss im Nachhinein von seinen persönlichen Reiseerlebnissen berichten. Wer etwas erzählen möchte, darf das natürlich gerne tun. Wir bewerten die Reisen aber nie. Genauso wenig interpretieren wir etwas hinein, wenn uns ein Patient seinen persönlichen imaginären Rückzugsort beschreibt.

Erster Platz beim Hessischen Landespflegepreis

Für mein Konzept „Sprache ohne Worte“ wurde mir 2015 der Hessische Landespflegepreis verliehen. Das war natürlich eine schöne Wertschätzung meiner Arbeit und hat mich sehr gefreut. Der erste Platz sicherte mir ein Jahr später die Teilnahme am Bundespflegepreis der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie. Dort belegte ich den dritten Platz.

Eine persönliche und soziale Weiterentwicklung
Yvonne Schneider

Die Fantasie kennt keine Grenzen – Yvonne Schneider und ihre Kolleginnen

Für uns Pflegende bewirkt mein Konzept „Sprache ohne Worte“ nicht nur eine fachliche Weiterentwicklung pflegetherapeutischer Kompetenzen, sondern auch eine persönliche und soziale. Die Arbeit in dieser Gruppe bringt uns so viel Freude, aber auch Wertschätzung und Anerkennung vonseiten der Patienten sowie vom gesamten Behandlerteam. Wir erleben uns aktiv bei der Mitwirkung an der Heilung. Wir bauen eine tragfähige Beziehung zu den Patienten auf. Wir unterstützen und leiten an, damit unsere Patienten wieder gesund werden.