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Vom Wert des Zuhörens

Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin

In seinem Buch „Momo“ schreibt Michael Ende über Momo:

„Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen.“

Ist Zuhören eine Kunst, eine Gabe? Ist es eine Frage der Haltung, der Technik oder doch nur eine Frage der knapp bemessenen Zeit? Ist Zuhören überhaupt noch up to date, wenn wir uns per WhatsApp, Twitter, Facebook, E-Mails etc. sekundenschnell mittels ein paar geposteter Zeichen austauschen können?

Hören als eine tiefe Form der Aufmerksamkeit

Warum ist das Hören für eine therapeutische Beziehung so ausschlaggebend? Der bekannte Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio plädiert in seinen Vorträgen und seinem neu erschienen Buch: „Auf den Menschen hören“ dafür, das Zuhören im medizinischen Kontext in den Mittelpunkt zu stellen. Wie er es ausdrückt: „ein geneigtes Ohr haben“ und sich einzulassen, ohne konkretes Ziel und ohne zu wissen, was kommt.

„In der modernen Medizin sind wir zu sehr auf das Sehen ausgerichtet, auf das optisch Wahrnehmbare und Objektivierbare. Zu wenig wird der Stellenwert des Hörens unterstrichen, das Hören als eine tiefe Form der Aufmerksamkeit. Das Sich-Einlassen auf den Anderen setzt eine Grundhaltung des Warten-Könnens voraus, des Nicht-Wissen-Könnens, was die Begegnung eröffnen wird.“ (Quelle: Giovanni Maio: „Geschäftsmodell Gesundheit – Wie der Markt die Heilkunst abschafft. Für eine Aufwertung der Beziehungsmedizin“, Suhrkamp, Berlin 2015).

Zuhören ist keine Frage der Zeit, sondern der Haltung

Ist es nicht gerade das Wort, das den Patienten zunächst Hoffnung vermitteln kann?

Die Erfahrung zeigt, dass Aufmerksamkeit durch „Fragen – Zuhören – Einbinden“ im Ergebnis sogar Zeit spart. Demzufolge ist Zuhören keine Frage der Zeit, sondern primär eine Frage der Haltung. Zuhören ist keine Strategie, kein Kalkül, kein Behandlungsplan, sondern Zuhören ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt zu einem gemeinsamen Behandlungsplan kommen kann.

Von Ärzten beziehungsweise Therapeuten erfordert das, dem hilfesuchenden Patienten die Möglichkeit der Mitteilung einzuräumen. Und das wiederum verlangt von uns, den Kranken zu Wort kommen zu lassen. Ihm Raum zu geben für seine Sorgen, Nöte, Befürchtungen, Erwartungen, Hoffnungen und dabei einen gerade daran interessierten, zuhörenden Arzt oder Therapeuten erleben zu können. Dafür braucht es Zeit.

Zeitdruck bestimmt insbesondere in somatischen Krankenhäusern die Abläufe

Wie sehr jedoch der Zeitdruck alle Abläufe bestimmt, zeigt sich daran, dass in vielen – insbesondere somatischen – Krankenhäusern jeder Handstrich in Zeitkontingente aufgefächert ist. So ist genau vorgesehen, wie viel Zeit ein Arzt für ein Aufklärungsgespräch haben darf, für die Visite oder für ein Entlassungsgespräch. Dadurch geraten zwischenmenschliche Werte wie das Zuhören in der medizinischen Behandlung immer mehr in den Hintergrund.

Auch wenn die Psychiatrie als „sprechende Medizin“ hier vielleicht (noch) nicht gemeint ist, sollten auch wir unser kommunikatives Handeln immer wieder kritisch hinterfragen: Gelingt es uns in unserer täglichen Arbeit, das Zuhören hochzuhalten? Haben wir für die oft nicht einfachen Gespräche mit unseren Patienten oder Klienten die notwendige Wertschätzung? Lassen wir uns auf das jeweilige Gegenüber ein und blenden den eventuellen Zeitdruck, unter dem wir stehen, für diese Gesprächs- und Zuhörzeit genügend aus?

Die Zeit, die wir unseren Patienten, Klienten oder unseren Kollegen und ihren Belangen geben, ist ein hohes Gut – auch wenn es sich nur in bedingten Kontexten (etwa der Psychotherapie) in messbaren Werten niederschlägt.

Von einer Kultur der Aufmerksamkeit profitiert nicht nur die Medizin, wir alle tun es. Hören wir also einander zu!

Bildquelle: Hannah Lebershausen