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Was tun bei Prüfungsangst?

Klassenarbeit, Klausur, Test. Der Lehrer verkündet die Termine. Je näher sie rücken, desto schlimmer rückt auch der Albtraum vieler Kinder und Jugendlichen heran. Angst, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen – Prüfungsangst! Woher das kommt und was hilft, erklärt der Diplom-Psychologe Klaus-Dieter Ley, psychologischer Leiter der Vitos kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz Marburg der Vitos Klinik Lahnhöhe.

Natalie Kittler: Wo liegen die Ursachen für Prüfungsangst?
Klaus-Dieter Ley: Wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, so ist die Entstehung einer Prüfungsangst nur vor dem individuellen, persönlichen Hintergrund erklärbar. Historisch wurden in der Forschung zur Prüfungsangst unterschiedliche Modelle der Entstehung einer Prüfungsangst entwickelt. So erklären Lehm und Fydrich in Ihrem Buch „Prüfungsangst – Fortschritte der Psychotherapie“, folgendes: „Neuere Modelle betonen die Bereiche der Selbststeuerung geplanten Verhaltens, des Zusammenhangs zwischen Prüfungsleistungen und dem Selbstwertgefühl sowie in einem dynamischen Modell die sich gegenseitig aufschaukelnden Prozesse zwischen Persönlichkeitsvariablen, kognitiven und emotionale Faktoren und früheren Lernerfahrungen mit Prüfungssituationen.“

Natalie Kittler: Woran erkennt man Prüfungsangst? Gibt es hier ausschlaggebende Symptome?
Klaus-Dieter Ley: Prüfungsangst lässt sich als anhaltende und deutlich spürbare Angst in Prüfungssituationen kennzeichnen und ist in ihrem Ausmaß den Bedingungen nicht angemessen. Sie äußert sich auf den Ebenen des Verhaltens, der Gefühle, der Gedanken und der körperlichen Prozesse. Klinisch bedeutsam ist sie, wenn die Ängste das alltägliche Leben und/oder den Ausbildungsverlauf und die berufliche Karriere deutlich beeinträchtigen. Von den Kindern und Jugendlichen wird oft der „Black-Out“ in der Klassenarbeit trotz intensiver Vorbereitung genannt. Körperlich erlebbar ist häufig das Herzklopfen, der Schweißausbruch, das Bauchweh, die Schlafprobleme. Es treten zunehmend negative Gedanken auf, wie: „Ich werd´s eh wieder nicht schaffen!“. Zum Teil wird die ganze Familie in die Angstspirale der Kinder hineingezogen und leidet mit. Dennoch bleibt die Prüfungsangst als behandelbares Leiden leider oft im Verborgenen, wird nicht adäquat erkannt und behandelt und zieht weitere Probleme nach sich. Selbstwertproblematik, Schulunlust, dem eigentlichen Potenzial nicht angemessene schulische und berufliche Entwicklung. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

Natalie Kittler: Kann man die Anzahl also gar nicht in Zahlen ausdrücken?
Klaus-Dieter Ley: Es existieren leider nicht viele Studien, die Angaben zur Häufigkeit und dem Verlauf von Prüfungsängsten machen. Das liegt zum Teil an methodischen Problemen, weil beispielsweise dem Störungsbild noch keine eigene Störungskategorie zugeordnet ist. Generell lässt sich aber sagen, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer und dass der Anteil der Studierenden mit Prüfungsangst zugenommen hat. Wenngleich, wie in anderen Bereichen auch, nicht klar ist, ob nicht die Sensibilität für das Thema zugenommen hat und sich daher mehr Studierende an die Beratungsstellen wenden.

Natalie Kittler: Sie sprechen von Frauen, Männern und Studierenden. Ist Prüfungsangst nur in dieser Altersgruppe zu finden oder sind auch schon Kinder und sehr junge Menschen betroffen?
Klaus-Dieter Ley: Prüfungsangst ist unter Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet. Immer wieder kommen Kinder und Jugendliche zu uns, die unter Prüfungsangst leiden. Manchmal ist dies gar nicht der eigentliche Vorstellungsgrund, sondern wir stellen es während der Emotionaldiagnostik fest. In anderen Fällen ist die Prüfungsangst so stark ausgeprägt, dass sie der Vorstellungsgrund bei uns ist. Studien von Döpfner et al belegen, dass ca. 20 Prozent aller acht- bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen häufig Angst haben, durch eine Prüfung zu fallen. Etwa 13 Prozent aller Jungen und 15 Prozent der Mädchen ängstigen sich vor schlechten Noten. Das DJI-Kinderpanel 2005 des deutschen Jugendinstitutes zeigte, dass über 40 Prozent der acht- bis neunjährigen oft Angst haben, in der Schule viele Fehler zu machen. Bei jedem siebten Grundschulkind kommt es aus Sicht der Mütter zu zwei und mehr Belastungssymptomen durch die Schule. Prüfungsangst ist somit eine der häufigsten Angstformen bei Kindern und kann weitere Störungen nach sich ziehen, z. B. Depressivität.

Natalie Kittler: Um Prüfungsangst zu behandeln, bieten Sie Trainings an. Was hat es damit auf sich?
Klaus-Dieter Ley: Die Trainings sollen als kontinuierliches Angebot unserer Ambulanz jährlich stattfinden. Wer psychologisch oder ärztlich vordiagnostiziert ist, kann sich anmelden. Es ist demnach kein Präventionskurs. Bei allen nicht vordiagnostizierten Patienten und Patientinnen führen wir hier zuerst eine Leistungs- und Emotionaldiagnostik durch. Ursprünglich richtete sich das Kursangebot an Kinder der vierten bis sechsten Klasse. Um jedoch auch Schülerinnen und Schülern höherer Klassen und Auszubildenden, die unter einer Prüfungsangst leiden, ein Behandlungsangebot zu machen, haben wir die Altersbegrenzung nach oben aufgehoben. Demnach kann sich jeder vor Vollendung des 18. Lebensjahres bei uns melden. Bei jungen Erwachsenen jenseits des 18. Lebensjahres muss individuell geschaut werden, ob eine Teilnahme sinnvoll erscheint und ob die Krankenkasse die Behandlung übernimmt. Voraussetzung ist in jedem Fall, sich auf eine Teilnahme regelmäßig und ernsthaft einzulassen und auch zu Hause zu üben. Die Teilnahme ist kostenfrei.

Natalie Kittler: Wie verläuft solch ein Trainingskurs?
Klaus-Dieter Ley: Es wird im Trainingskurs an den Gefühlen und Gedanken gearbeitet, die die Prüfungsangst mitbedingen. Wir versuchen, an den Stärken anzusetzen. Daneben werden auch konkrete Entspannungstechniken erlernt, um die Angst in der Vorbereitungszeit, wie auch während der Prüfung, zu beherrschen. Neue Verhaltensweisen werden eingeübt, die zu einer Reduktion der Prüfungsangst führen. Bei einem ersten Elternabend erhalten die Eltern Informationen zum Thema Prüfungsangst, wie auch zum konkreten Ablauf des Kurses. Viele Eltern zeigen sich hier emotional sehr betroffen, weil eine langjährige Leidenszeit für ihr Kind hinter ihnen liegt und sie erst jetzt eine adäquate Hilfe angeboten bekommen. Im Anschluss an den Elternabend führen wir dann acht Gruppentermine mit den Kindern und Jugendlichen durch. Schließlich gibt es einen gemeinsamen Abschlusstermin für Eltern und Kinder. Es muss auch zu Hause regelmäßig für das Training geübt werden. Hier ist die Zusammenarbeit mit den Eltern sehr wichtig.

Natalie Kittler: Welches erste Resümee ziehen Sie vom jetzigen Trainingskurs, der seit September läuft?
Klaus-Dieter Ley: Zum diesjährigen Kurs kann ich bereits jetzt sagen, dass die Kinder und Jugendlichen trotz eines großen Altersabstandes sehr gut zusammenarbeiten und sich sehr motiviert einlassen. Es ist zwar auch anstrengend, gerade für die Jüngeren, sich am späten Nachmittag noch eine Stunde auf den Kurs einzulassen, aber das gelingt ihnen super. Auch die Phasen, die ein ruhiges Arbeiten nötig machen, wie beim Erlernen der Entspannungsverfahren, laufen sehr konstruktiv ab.

Natalie Kittler: Was können Sie Eltern raten, deren Kinder unter Prüfungsangst leiden?
Klaus-Dieter Ley: Es gibt mittlerweile eine Reihe von Büchern zum Thema. Aus unserer Erfahrung heraus reicht das in der Regel jedoch nicht aus, insbesondere, wenn die Prüfungsangst sehr intensiv erlebt wird und bereits chronisch ist. Im Gespräch mit dem Klassenlehrer sollte eine Vorstellung beim Schulpsychologen erwogen und eventuell ein niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut aufgesucht werden, um eine ausführliche Anamnese und Diagnostik durchzuführen. Es muss auch untersucht werden, ob Teilleistungsschwächen, wie eine Lese- und Rechtschreibstörung, oder eine mögliche intellektuelle Überforderung vorliegen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Lehrern ist ungemein wichtig. Unbedingt sollten die Eltern über mögliche eigene überzogene Leistungsanforderungen an die Kinder nachdenken. Auch niedergelassene Lerntherapeuten bieten oft spezielle Hilfen an. Natürlich können sich Hilfesuchende auch gerne an unsere kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz [1] wenden.

Natalie Kittler: Gibt es einen Rat, den Sie den Kindern und Jugendlichen geben können?
Klaus-Dieter Ley: Allgemein kann im Kontinuum der Prüfungsangst, welches vom aktivierenden Lampenfieber bis zur lähmenden Prüfungsangst reicht, geraten werden, sich Lernstrategien anzutrainieren. Zum Beispiel Mind-Maps und Karteikästen. Es sollte aber auch unbedingt für Ausgleich und Entspannung gesorgt werden. Es ist zudem hilfreich, die Prüfungssituation zu simulieren, im Rollenspiel oder auch als schriftliche Durchführung. Hinderliche, dysfunktionale Gedanken sollten identifiziert, hinterfragt und zu positiven Gedanken umformuliert und eingeübt werden. Problematische Situationen zu antizipieren und Reaktionen einzuüben, sowie die praktische Planung des Tags vor der Prüfung und des Prüfungstages selbst, können helfen, ein Gefühl der Kontrolle über die Situation zu erlangen. Das klingt jetzt alles sehr abstrakt und muss konkret mit Beispielen und Leben gefüllt werden. Bei starker Prüfungsangst rate ich, einen Experten aufzusuchen, und nicht jahrelang zu versuchen, alleine damit klar zu kommen. Neben der professionellen Unterstützung erleben die Kids in unseren Kursen zudem, dass es anderen genau so geht und wir zusammen nach Lösungen suchen und diese meist auch finden.

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