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Wer sorgt sich um mich?

Wenn Menschen psychisch schwer erkranken, brauchen sie neben der bestmöglichen ärztlichen Behandlung vor allem jemanden, der ihnen zuhört und Kraft spendet. Matthias Gehrmann tut dies seit mittlerweile 20 Jahren. Am Vitos Klinikum Heppenheim arbeitet er als Klinikseelsorger und versucht mit den Patienten den Sinn des Lebens wiederzufinden, den viele aufgrund ihrer Krankheit verloren haben.

Natalie Kittler: Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?
Matthias Gehrmann: Um zu verstehen, was genau ich mache, ist es wichtig zu wissen, was ich nicht mache. Es ist nicht meine Aufgabe, Ratschläge zu geben oder mit den Patienten Behandlungsziele zu formulieren, so wie es ein Psychologe tut. Ich habe kein Ziel, welches ich mit den Patienten erreichen muss, so wie ein Psychotherapeut. Meine Aufgabe ist es, da zu sein, Trost zu spenden und Kraft zu geben. Ich gebe den Menschen die Möglichkeit, über all das zu reden, was sie belastet. Ich halte mit ihnen das Leid aus und suche mit ihnen, trotz der scheinbar oft ausweglosen Situation, den Sinn des Lebens.

Natalie Kittler: Wie kann man sich diese Sinnsuche vorstellen?
Matthias Gehrmann: Das passiert immer ganz individuell und ergibt sich aus Gesprächen. Ich folge keiner Methodik oder einem abhakbarem Schema. Ich lasse mich vollkommen auf den Menschen ein und bin jemand der zuhört, Denkanstöße gibt, aber niemals urteilt oder analysiert. Meine Arbeit bette ich in verschiedene Rahmen.
Ich organisiere beispielsweise eine Märchenrunde. Hier erzähle ich ein Märchen, wobei nicht dies im Vordergrund steht, sondern der Austausch mit den Patienten. Auf der Suche, wie das Märchen und seine inneren Bilder zu den jeweiligen Lebensumständen passt, finden die Patienten viel Trost. Kernaufgabe der Kirche ist es, kranken Menschen beizustehen. Ich beurteile nicht.
Ich organisiere Gottesdienste, die sich zu regulären Gottesdiensten doch sehr unterscheiden. Ich predige nicht einem nur zuhörenden Publikum. Da ich die Menschen kenne und sie mich, ist der Gottesdienst von Spontanität und Austausch geprägt. Es ist völlig normal geworden, das Zwischenfragen oder Meinungen ausgesprochen werden. Ich bereite mich auch nur wenig auf meine Predigten vor. Meistens entstehen die Themen aus den Geschehnissen und Gesprächen des Tages heraus.
Zudem ist es mir wichtig, dass die Patienten aus dem Bannkreis der Krankheit herauskommen. Und wenn es nur für wenige Stunden ist. Daher organisiere ich auch Ausflüge, wo wir zwei, drei Stunden wegfahren und vieles mehr. Eins muss ich noch hinzufügen was Menschen unglaublich viel Kraft gibt, ist das Singen. Singen tut der Seele gut und deshalb gibt es bei uns auch nicht allzu selten die ein oder andere Gesangseinlage.

Natalie Kittler: Gibt es neben dieser Vielzahl an Tätigkeiten auch Schwerpunkte in Ihrer Arbeit?
Matthias Gehrmann: Neben den bereits angesprochenen Gesprächen, Gottesdiensten und Ausflügen ist die Trauerbegleitung ein großer Bereich meiner Arbeit. Wir arbeiten mit Hospizvereinigungen zusammen. Es gibt Patienten, die über Monate hinweg immer wieder zu mir kommen, die ich begleite. Somit arbeite ich auch ambulant. Stationär arbeite ich seit 20 Jahren auch auf der Suchtstation als Seelsorger. Zusammen mit Sozialarbeitern und Psychologen bin ich als Klinikseelsorger ein Teil des mutiprofessionellen Teams.

Natalie Kittler: Das bedeutet, Sie sind ganz für die verschiedensten Patienten da?
Matthias Gehrmann: Ja, das versuche ich, immer individuell. Ich versuche, jedem Zeit zu schenken und gerecht zu werden. Doch neben den Patienten darf ich auch eine weitere Gruppe nicht vergessen und das sind die Mitarbeiter. Denn auch sie erleben in ihrem Arbeitsalltag schwere Situationen. Hier habe ich vor kurzem die „Atempause“ angeboten. In unseren „Raum der Stille“, ein Raum mit Altar, Ambos und Tabernakel, wurde dafür ein wenig Musik gespielt. Für zehn Minuten konnten die Mitarbeiter die hektische Arbeitswelt hinter sich lassen, wieder ganz zu sich finden und ausgeglichen an die Arbeit gehen. Ein ähnliches Angebot ist „Ein Tag für mich“.

Natalie Kittler: Das hört sich nach einem sehr weiten Feld und einer Menge an, für einen Tag. Können Sie das alleine schaffen?
Matthias Gehrmann: Die ökumenische Klinikseelsorge am Vitos Klinikum Heppenheim besteht aus mir, ich bin katholischer Klinikseelsorger, einem evangelischen Pfarrer und zwei weiteren Mitarbeiterinnen. Ich arbeite also in einem Team und eigentlich nie wirklich allein. Zudem arbeiten wir immer Hand in Hand mit Sozialarbeitern, Psychologen,Therapeuten und besonders dem Pflegeteam. Nur durch diese Zusammenarbeit können wir dem Patienten wirklich auf jeder Ebene helfen.

Team [1]

Das Team der ökumenischen Klinikseelsorge am Vitos Klinikum Heppenheim.

Natalie Kittler: Warum ist das Angebot der Seelsorge so wichtig?
Matthias Gehrmann: Dazu vielleicht eine kurzes Beispiel aus der Praxis, das mich sehr geprägt hat. Eine schwerkranke Patientin aus dem psychiatrischen Bereich ist auf mich zugekommen und sagte mir „Ich brauche jemanden, der sich um meine Seele sorgt. Ich kann das im Moment nicht“.
Eine gute Psychiatrie braucht Seelsorger. Es gibt zwar sehr wenig kirchliche Patienten, aber sehr viele Gläubige und eins sind alle, nämlich Sinnsucher. Irgendwie glaubt jeder an etwas: an die Liebe, an zwischenmenschliche Beziehungen, an eine Kraft, an Gott oder etwas ähnliches. Menschen brauchen etwas, an das sie glauben können und um ihnen dafür eine Ansprechperson zu geben, bin ich da. Dazu bedarf es Feingefühl und Empathie, meine zwei Hauptwerkzeuge.

Natalie Kittler: Nun gibt es natürlich auch Seelsorger in regulären, somatischen Krankenhäusern. Wo sehen Sie den Unterschied zu Seelsorgern in einem psychiatrischen Krankenhaus?
Matthias Gehrmann: In der Psychiatrie ist man sehr viel stärker an den Abgründen und Sehnsüchten der Menschen. Man hat es mit Erkrankungen zu tun, bei denen die Seele betroffen ist. Depressionen und Manien führen nicht selten zu Suizidgedanken. Meine Aufgabe ist hier umso wichtiger: Mit den Patienten zusammen den Sinn des Lebens wieder zu entdecken.

Natalie Kittler: Das hört sich nach einer sehr verantwortungsvollen, aber auch belastenden Aufgabe an. Gibt es Nachteile bei Ihrer Arbeit?
Matthias Gehrmann: Natürlich muss ich mit dem, was ich tagtäglich höre, umgehen können. Das musste ich auch erst lernen, denn man kommt mit sehr viel Leid in Berührung. Umso wichtiger ist es, immer wieder neu zu lernen, auf sich zu achten. Man muss sich auch abgrenzen können und Kraftquellen schaffen. Gottesdienste, der Glaube, die Spiritualität und meine Familie sind meine Quellen. Neben meiner Arbeit habe ich ein Ehrenamt, was aus einem ganz anderen Bereich kommt und das ist auch gut so. Ich bin Mitglied im Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und Vorsitzender in der Region.
Es ist immer wieder schwierig, kein Schema anwenden zu können. Ich muss meine Arbeit aus der Situation und individuell auf den Patienten hin gestalten. Die Erfahrung hilft mir hier immer sehr weiter. Was ich außerdem lernen musste, ist, dass ich als Klinikseelsorger nicht zu dem eigentlichen Klinikteam gehöre, wie ein Arzt oder Therapeut. Vielleicht ein kleiner Wunsch für 2015, dass sich das noch ändert.

Natalie Kittler: Gibt es etwas, was Sie als das Schönste an Ihrem Beruf bezeichnen würden?
Matthias Gehrmann: Mein Beruf an sich ist das Schönste. Ich bin ganz bei den Menschen. Ich kann unterstützen, wenn Menschen es brauchen und mit meiner Arbeit helfen. Überwiegend vollkommen selbstbestimmt und frei. Ich liebe das, was ich tue.

Matthias Gehrmann [2]

Matthias Gehrmann ist Teil der ökumenischen Klinikseelsorge am Vitos Klinikum Heppenheim. Er hat Theologie studiert und eine Zusatzausbildung absolviert. Seit 20 Jahren ist er katholischer Klinikseelsorger.