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„Wir sind keine Klagegruppe“

Gesprächsgruppe für Angehörige von Demenzkranken

An der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen hilft eine Gesprächsgruppe den Angehörigen von Demenzkranken, neue Kraft zu schöpfen.

Die Pflege eines demenzkranken Menschen bringt die meisten Angehörigen an ihre Belastungsgrenze. Eine große Hilfe kann hier der Austausch mit anderen Betroffenen sein. Yuliya Traum und Christa Speier, die an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen eine Angehörigengruppe leiten, erzählen, warum das so ist.

Wie geht es den Angehörigen, die zu Ihnen kommen?

Die meisten haben einen sehr großen Redebedarf. Das ist nachvollziehbar. Denn oft leben – vor allem in fortgeschrittenen Stadien der Krankheit – nicht nur die Demenzpatienten, sondern auch die Angehörigen sozial isoliert. Dann ist es häufig nicht mehr möglich, sich einfach so mit Freunden zu treffen oder an Veranstaltungen teilzunehmen. Meistens haben die Angehörigen auch Hemmungen, mit anderen Menschen über ihre Schwierigkeiten zu sprechen – sei es aus Scham, oder auch aus der Befürchtung heraus, die anderen hätten kein Interesse daran.

Die Teilnehmer unserer Gruppe bedanken sich jedes Mal für die Möglichkeit, zu uns zu kommen und andere Menschen kennenzulernen. Es ist ihnen auch wichtig zu sehen, dass sie mit ihrer Situation nicht alleine sind, dass es anderen Menschen genauso geht.

Was erwartet mich, wenn ich in eine solche Gruppe gehe?

Neue Teilnehmer dürfen natürlich erst einmal ankommen. Sie werden eingeladen, etwas zu sagen oder einfach zuzuhören – ganz wie sie möchten. Keiner wird dazu gedrängt, sofort seine Lebensgeschichte zu erzählen. Interessant ist, dass sich die Themen, über die gesprochen wird, immer von selbst entwickeln. Die Teilnehmer erzählen sich von Alltagssituationen, die schwierig für sie waren und für die sie keine Lösung hatten. Oder sie haben Fragen zu Fachärzten, Kliniken, Einrichtungen oder zur Finanzierung.

Wir springen nicht immer sofort ein, sondern warten ab, ob die Gruppe sich selbst helfen kann. Klar ist: Es gibt viel Nachholbedarf, was die Kenntnisse über die Erkrankung angeht. Und es gibt immer noch viel Halbwissen.

Und wie stillen Sie diesen Informationsbedarf?

Wir sind immer zu zweit in der Gruppe – eine Vertreterin aus dem Sozialdienst und eine Psychologin. Manchmal kommen auch Vertreter verschiedener Berufsgruppen aus unserer Klinik dazu: Zum Beispiel unser Oberarzt Markus Boss, der dann Fragen zur Diagnose und Behandlung beantwortet. Angedacht ist auch, dass jemand aus der Pflege vorbeikommt, um den pflegenden Angehörigen Tipps für den Alltag zu geben. Das ist auch mit Ernährungsberatern, Physio- oder Ergotherapeuten möglich. Ab und zu ist es gut, wenn es solche Impulse von außen gibt.

Information ist gut. Aber welche psychologische Hilfestellung gibt es?

Die Gruppe kann vieles: Sie kann Trost spenden. Sie kann zuhören. Und sie kann auch das Selbstbewusstsein stärken. Unsere Gruppenteilnehmer geben sich oft gegenseitig wertvolle Tipps für den Alltag, denn sie sind Experten aus eigener Erfahrung. Viele berichten voller Stolz, wenn sie für eine schwierige Situation eine Lösung gefunden haben. Und davon können auch die anderen profitieren. Wer anderen mit seiner Erfahrung helfen und sich so nützlich machen kann, bekommt dadurch selbst ein positives Gefühl. Unsere Teilnehmer fühlen sich von der Gruppe sehr ernstgenommen in ihrer Belastung und manchmal auch Überforderung. Das tröstet und stärkt.

Welche Themen kommen zur Sprache?

Bei uns dürfen alle Themen angesprochen werden, auch heikle Dinge wie Suizidalität, Alter, Intimität oder Liebe. Es fließen auch Tränen. Wichtig ist aber: Wir sind keine Klagegruppe. Wir lachen sehr viel und vieles wird mit Humor erzählt. Wenn wir als Moderatoren merken, dass die Gruppe in eine negative Schleife gerät, bringen wir sie durch eine neue Frage wieder auf eine positive Bahn. Uns ist wichtig, dass die Menschen nach einem Treffen nicht mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit nach Hause gehen, sondern mit dem Gefühl, das schaffen zu können.

Welche positive Auswirkung kann das noch auf den Pflegealltag haben?

Das schlechte Gewissen ist für alle ein sehr großes Thema. Viele können nicht loslassen und fühlen sich rund um die Uhr verantwortlich. Dabei vergessen sie, dass sie auch auf sich selbst achten müssen. Loslassen zu lernen, ist wichtig und manchmal ein langer Prozess, der durch die Gruppe gefördert werden kann. Die Teilnehmer ermutigen sich gegenseitig, neue Wege zu gehen – zum Beispiel auch mal das Angebot einer Tagespflege anzunehmen – und sich so Raum zum Durchatmen zu verschaffen. Nicht zuletzt erfahren sie, dass auch unsere Klinik mit ihrem stationären Therapieangebot zur Stelle ist, wenn die Situation zu Hause kritisch wird. Das beruhigt. Viele wussten vorher gar nicht, dass sie sich im Fall der Fälle an uns wenden können.

Kontakt: Tel. 0641 – 403 663

Interviewpartner:

Yuliya Traum arbeitet im Sozialdienst von Station 2 (Gerontopsychiatrie) der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen.

Christa Speier ist als Psychologin für die Patienten von Station 2 (Gerontopsychiatrie) an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen da.

Das Interview führte Susanne Richter-Polig, Kommunikationsmanagerin bei Vitos Gießen-Marburg.

Bildunterschrift: Von links: Yuliya Traum und Christa Speier leiten die Angehörigengruppe an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen. Oberarzt Markus Boss (rechts) gehört zu den Mitinitiatoren des Angebots. (Foto: Vitos Gießen-Marburg)