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Woran denken wir, wenn wir gedenken?

Gedenkstunde 2017 bei Vitos Rheingau

Als ich das letzte Mal einen Blogbeitrag zum Thema Gedenkstunde geschrieben habe, dachte ich, dass das Thema damit für das Vitos Blog – zumindest von meiner Seite – durch wäre. Wie oft kann man eine noch so berührende Veranstaltung denn auch schildern, ohne redundant zu sein?

Und doch …

Der Kloß im Hals

Den hatte ich, als Dr. Lilienthal – ehemaliger Leiter der Gedenkstätte Hadamar, inzwischen im Ruhestand – mit seinen Ausführungen über die Kinderfachabteilungen der Nazis fertig war. Dann waren da die Rückmeldungen zweier Teilnehmer, die das erste Mal dabei waren, wie eindrucksvoll sie die Veranstaltung fanden. Und zu guter Letzt noch die drei Teenager-Patientinnen aus unserer Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ihren Beitrag zur Veranstaltung wunderbar gemacht haben, aber auch erkennbar geschockt waren über das, was sie da gerade gehört hatten: Das alles lässt mich jetzt hier sitzen und doch noch mal was zum Thema schreiben.

Wir machen die Gedenkstunde am 1. September seit 2009. Auslöser war die Tatsache, dass der sogenannte Euthanasieerlass Hitlers sich zum 70. Mal jährte. In diesem Schreiben (das kein Erlass war, es gab nie eine gesetzliche Grundlage für den Krankenmord) teilte Hitler seinem persönlichen Arzt mit, dass er zustimme, bestimmten Kranken, für die keine Aussicht auf Heilung bestünde, den „Gnadentod“ zu gewähren. Dieses Schreiben war aber nichts anderes als der Startschuss für die systematische, bürokratisch durchorganisierte Ermordung von Menschen. Von Menschen, die mit den Ideen der Nazis nicht konform gingen, weil sie weder ihren „Rasse“-idealen noch ihrem Nützlichkeitsdenken entsprachen. Konkret waren das Menschen mit Behinderungen, mit chronischen psychischen Erkrankungen, oder durchaus auch sozial (nach den Vorstellungen der Nazis) schlecht angepasste Personen. In der Folge wurden diese Gruppen zwischen 1940 und August 1941 in sechs zentralen Gasmordanstalten (eine davon war Hadamar) kollektiv durch Gas getötet. Von September 1941 bis zum Kriegsende wurden sie im Zuge der dezentralen oder regionalen Euthanasie in den Anstalten, in denen sie untergebracht waren, durch Überdosen von Medikamenten oder durch Vernachlässigung (Verhungern, Erfrieren) ermordet.

Gedenkstunde auf dem Eichberg

Ein guter Grund also, am 1. September über dieses Thema nachzudenken. Wir tun das auf dem Eichberg (also bei Vitos Rheingau) in einer Form, die sich bewährt hat. Nach einer musikalischen Einstimmung folgt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik. Dabei hatten wir Historiker, die den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu bestimmten Aspekten beleuchteten. Wir hatten einen Vortrag, in dem die im Hessischen Hauptstaatsarchiv noch vorhandenen Akten und die dazugehörigen Lebensgeschichten im Zentrum standen. Wir hatten eine Ethikerin da, die über die Frage der Namensnennung der Krankenmordopfer referiert hat. Wir hatten einen Arzt, der sich mit der Frage auseinandersetzte, wie aus Heilern Mörder werden konnten. Wir hatten einen Referenten, dessen Bruder als zweijähriges Kind in der Kinderfachabteilung des Eichbergs ermordet wurde und der berichtete, was das für seine Familie bedeutet hat. Und wir hatten dieses Jahr, wie erwähnt, den langjährigen Leiter der Gedenkstätte Hadamar als Referent zum Thema Krankenmord an Minderjährigen.

Nach dieser inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema gehen wir mit den Teilnehmern zum Gedenkstein. Dort lesen Patienten oder Patientinnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie den Text vor, der in den Gedenkstein eingemeißelt ist. Danach legen alle Anwesenden auf dem Stein Rosen nieder.

Wissensvermittlung und emotionale Berührung

Ich glaube, diese Mischung aus Wissensvermittlung und emotionaler Berührung ist sinnvoll. Wir müssen wissen, was damals Menschen zugefügt wurde – und zwar im Detail, so unerträglich das sein kann. Die Kinderfachabteilungen, in denen Kinder untersucht und je nach Diagnose ermordet wurden, sind ein Teilbereich des Krankenmordes, über den ich wirklich lieber nichts wüsste. Aber ich muss es wissen, es ist ja passiert. Und ich brauche ein Ventil für die Gefühle, die durch dieses Wissen entstehen: Wut, Entsetzen, Fassungslosigkeit …

Womit ich bei meiner Frage wäre: Woran denken wir beim Gedenken?

Vielleicht sollte ich es präzisieren: Was wünsche ich mir, die diese Veranstaltung mit konzipiert hat und von Anfang an mit organisiert hat, an Gedanken bei den Teilnehmern?

Zum einen, ganz ehrlich, dass sie nicht nur denken, sondern tatsächlich berührt werden. Dass sie einen Kloß im Hals haben, wie ich heute. Dass sie die Ungeheuerlichkeit dessen, was die Nazis gemacht haben, für einen Augenblick an sich ran lassen. Und natürlich, dass sie daraus Schlussfolgerungen ziehen.

Eine Schlussfolgerung, die ich mir wünsche (und vor allem für mich selbst): Rückgrat! In der Demokratie, in der wir glücklicherweise heute leben, ist es möglich, den Mund aufzumachen, wenn etwas schief läuft. Unter den Nazis gab es Hebammen, die in der Lage waren, behinderte Kinder zu verschweigen, obwohl es eine Meldepflicht gab. Es gab Menschen, die ihre jüdischen Nachbarn versteckten. Es gab Menschen, die lieber an die Front gingen, als Aufseher im KZ zu werden. Dann sollten wir die heute deutlich geringeren Risiken auf uns nehmen können und bei erkennbaren Missständen oder Missverhalten (Mobbing, Abwerten, rassistischen Sprüchen, Fremdenfeindlichkeit, …) den Mund aufmachen.

Eine weitere Schlussfolgerung wäre, dass wir doppelt und dreifach sensibel mit den Patienten, Klienten, Bewohnern umgehen, deren Wohlergehen unser Job ist. Dass wir uns bewusst machen, dass ein nicht geringer Teil von ihnen von den Nazis ermordet worden wäre. Dass wir uns klar machen, dass die Orte, an denen wir arbeiten, die Orte waren, an denen Menschen mit ihren Krankheitsbildern getötet wurden. Dass wir uns klarmachen, dass auch wir vielleicht Täter geworden wären, wenn wir damals gelebt hätten.

Gedenken als Chance

Gedenken kann zum abgespulten Ritual werden, es kann zu korrekten Worthülsen führen, die pflichtgemäß reproduziert werden. Es bietet aber auch die Chance, es ernst zu nehmen. Dr. Lilienthal hat am Schluss seines Vortrags eindeutig die Aufgabe benannt: nicht fertig zu werden mit dem Krankenmord, nicht fertig werden zu wollen – ihn als bleibende Aufgabe zu verstehen, an der wir uns alle immer wieder abarbeiten müssen. Wir können die Vergangenheit nicht verändern, aber wir haben Anteil an der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Der Blick zurück auf das, was nie hätte geschehen dürfen, kann uns helfen, Menschlichkeit zu gestalten.

Ich glaube, mein erster Blogbeitrag [1] zu dem Thema endete mit dem Schmerz, den Schönheit auslösen kann: die Schönheit der Rosen auf dem Gedenkstein – das hat sich nicht geändert: Sie tut mir immer noch weh.