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Zwangserkrankungen

Die Qual zwischen Gewissen und Lust

Die Hände immer wieder schrubben, bis die Haut ganz blutig ist. Immer erst bis 100 zählen, bevor man die Haustür aufschließt. Müll horten aus Angst, aus Versehen etwas Wertvolles wegzuwerfen. Zwangsstörungen haben viele Gesichter. Allen gemein ist, dass sie einen enormen Leidensdruck für die Betroffenen bedeuten.

Warum entwickeln manche Menschen eine Zwangserkrankung? Und wie kommen sie aus dem Teufelskreis aus Ängsten und Zwängen wieder heraus?

Ein Fall aus dem Leben: Tobias ist 16 und sehr verliebt in seine Freundin Anna. Er besucht das Gymnasium, ist fleißig und hat gute Noten, strebt das Abitur an. Er will in die Fußstapfen seiner Mutter treten, die ist Ärztin, überaus erfolgreich. Mit seiner Freundin ist Tobias´ Mutter nicht glücklich. Tobias solle sich mehr auf die Schule konzentrieren, und Anna hindere ihn ihrer Meinung nach daran.

Tobias trainiert dreimal in der Woche Kung Fu. Seit seinem achten Lebensjahr besucht er die renommierte Kampfsportschule in der nächsten Stadt. Er feiert Erfolge und unterrichtet mittlerweile die jüngeren Gruppen. Wenn der Trainer ihn bittet einzuspringen, kann Tobias nicht Nein sagen. Auch nicht, wenn Klassenkameraden ihn bitten, seine Hausaufgaben abschreiben zu dürfen. Pflicht, Erfolg und Ehre bedeuten Tobias viel. Geprügelt hat er sich noch nie.

Tobias und Anna verbringen gerne Zeit alleine auf Annas Zimmer. Hier liegen sie auf Annas Bett, küssen sich und kuscheln. In der letzten Zeit macht Anna ihrem Freund allerdings immer häufiger und eindringlicher klar, dass sie sich mehr von ihm wünscht, dass sie mit ihm schlafen möchte. Tobias ist hin- und hergerissen: einerseits findet er seine Freundin sehr attraktiv und fantasiert oft, mit ihr intim zu werden. Andererseits denkt er oft an seine Pläne, und auch an den Wunsch seiner Mutter, sich aufzusparen, wie sie sagt.

Sich ständig wiederholende Impulse und/oder Handlungen

Zwangserkrankungen, auch als anankastische oder obsessiv-kompulsive Störungen bezeichnet, sind sich ständig wiederholende, dem eigenen Ich zugehörige Vorstellungen, Impulse und/oder Handlungen. Sie drängen sich auf und werden als unsinnig und bedrohlich erlebt. Auch bei gesunden Menschen können sie in milder Ausprägung vorkommen. Um eine krankhafte Störung handelt es sich erst, wenn der Betroffene die Zwänge als quälend erlebt und sie ihn im alltäglichen Leben behindern.

Etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung haben eine Zwangserkrankung. Sie beginnt meist vor dem 25. Lebensjahr. Durchschnittlich sind Kinder bei Symptombeginn zehn Jahre alt. Zwangsstörungen können in seltenen Fällen jedoch bereits im Kindergartenalter auftreten.

Der Betroffene befindet sich in einem unlösbaren Konflikt zwischen verpönten bis verbotenen, aggressiven und/oder sexuellen Trieben und einem erbarmungslos strengen Gewissen. Zwangspatienten erscheinen oft bereits vor Krankheitsbeginn äußerst gewissenhaft bis perfektionistisch. Sie neigen zu starr-ritualisiertem Denken und pingeligem Hinterfragen der eigenen, aber auch anderer Personen. Oft unterdrücken sie ihre Aggressionen und haben ein gestörtes Verhältnis zu Sexualität.

Die Zusammentreffen mit Anna beginnen Tobias zunehmend zu beschäftigen: Wenn sie ihm nahe kommt, denkt er über eine ungewollte Schwangerschaft nach. Manchmal versucht er, darauf zu achten, dass sich beide beim Kuscheln nicht an den Hüften berühren. Tobias sagt Treffen mit Anna unter Vorwänden ab oder lädt seine Freunde zu Treffen mit ihr ein. Im Internet informiert er sich darüber, wie lange Spermien an der Luft überleben. Er beginnt, sich die Hände zu waschen. Zunächst nachdem er mit Anna zusammen war, später auch davor: Ein Spermium an seinen Händen könnte schließlich, an ungünstiger Stelle hinterlassen, Anna schwängern. Tobias reinigt vor Annas Besuchen die Toilettenbrille und das Waschbecken, er prüft mit einem Blick gegen das Licht, ob Tropfen auf dem Brillenrand zu sehen sind. Bald kann Tobias seine Freundin nicht mehr an der Hand fassen: Wenn sich beide treffen, gehen sie ohne Berührung nebeneinander her.

Ein Teufelskreis aus Angst, Zwang, kurzfristiger Erleichterung und langfristiger Zunahme der Zwänge

Infolge des eigenen sadistischen Gewissens bilden sich häufig Ängsten. Der Betroffene versucht, diese durch Handlungen zu mildern. Diese Handlungen erscheinen dem Patienten in aller Regel unsinnig und quälend. Sie stellen die klinische Ausprägung des Zwanges dar. Sich den Zwängen zu beugen, bedeutet eine kurzfristige Erleichterung von den eigenen Ängsten. Langfristig breiten sich Ängste und Zwänge unerbittlich nach und nach in jeden Winkel des Alltages aus.

Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus Angst, Zwang, kurzfristiger Erleichterung und langfristiger Zunahme der Zwänge. Je nach Entwicklungsalter unterscheiden sich dabei die Inhalte der Zwangsgedanken und -handlungen. Jüngere Patienten neigen zu zwanghaftem Meiden, zum Beispiel von bestimmten Farben, Zahlen oder Gegenständen. Sie zählen zwanghaft oder waschen oder bewegen sich nach zwänglichen Ritualen. Ältere Kinder und Jugendliche beschäftigen sich zusätzlich oft mit zwanghaftem Denken „verbotener“ Gedanken zum Beispiel aggressiven oder sexuellen Inhaltes. Sie bilden Kontrollzwänge und immer komplexere Rituale von Handlungen in festgelegter Reihenfolge aus.

Das Waschen und Reinigen zur Abwehr von Verschmutzungsfantasien und Kontaminationsängsten ist eine besonders häufig vorkommende Zwangsstörung. Wird der Betroffene in seinen oft minutiös getakteten Abläufen unterbrochen, kann es sein, dass er das Ritual im Anschluss teils stundenlang fortsetzen muss. Neben der schieren Qual durch den Zwang selbst, verliert er teils vielen Stunden des Tages. Auch körperliche Schäden durch übermäßigen Gebrauch von Reinigungsutensilien wie Waschlotionen, Toilettenpapier oder Bürsten sind möglich. Schulische Leistungsabfälle durch Fehlzeiten und/oder fehlende Konzentrationsfähigkeit können außerdem die Folge sein. Es kommt sogar vor, dass die Eltern ihrem Beruf nicht mehr nachgehen können, da das erkrankte Kind durch seine Qual derart viel Zuwendung benötigt, dass ein geregeltes Berufsleben nicht mehr stattfinden kann.

Tobias hat Anna mittlerweile in seine Sorgen eingeweiht. Um ihn nicht zu quälen, beginnt auch Anna auf Tobias Wunsch hin, Reinigungsrituale umzusetzen, im Verlauf unter dezidierter Anleitung ihres Freundes.

Auch Tobias´ Eltern bleibt nicht lang verborgen, dass mit dem Sohn etwas nicht stimmt. Er wirkt niedergeschlagen und durcheinander, zieht sich häufiger als sonst in sein Zimmer zurück. Wenn die Familie gemeinsam essen will, verschwindet Tobias oft im Badezimmer. Die Eltern hören manchmal viele Minuten lang das Rauschen des Wasserhahns, danach sind die Hände des Sohnes rot und aufgequollen. Nachdem Tobias der Mutter eine Mathematikarbeit vorzeigt, die mit „Mangelhaft“ bewertet wurde und der Mutter auffällt, dass ihr Sohn eine Vielzahl der Aufgaben nicht bearbeitet hat, stellt sie ihn zur Rede. Tobias erklärt zögerlich, er habe fürchterliche Angst davor, dass Anna schwanger werde. Er achte seitdem darauf, dass er nirgendwo etwas von sich zurücklasse, was eine Schwangerschaft auslösen könnte. Er selbst wisse, dass sein Handeln nicht verhältnismäßig und zunehmend unsinnig sei, doch sage ihm eine innere Stimme „Was, wenn der nahezu ausgeschlossene Fall eintreten sollte?“. Tobias´ Mutter rät dem Sohn dazu, die Kontakte zu seiner Freundin zunächst einzustellen. Sie hält deren sexuelle Aufdringlichkeit für den Auslöser seiner Symptome. Bis diese nachlassen, so meint sie, ist es das Beste, den Sohn die Reinigungsrituale vollziehen zu lassen. Durch Distanz zum Auslöser sollte bald Linderung eintreten.

Es kommt anders: Tobias verbringt in der Schule die Pausen überwiegend eingeschlossen in der Schultoilette. Zwischendurch wäscht er sich die Hände, erst zwischen den Stunden, dann währenddessen, nachdem er unter Vorwänden immer häufiger den Unterricht verlässt. Mittlerweile dreht er das Wasser auf „heiß“, damit die Spermien an seinen Fingern absterben. Er achtet darauf, Treppengeländer, Stühle und Tische möglichst nicht zu berühren. Mit Anna telefoniert er noch, meist heimlich, um die Mutter nicht zu verärgern. Auch zu Hause meidet Tobias die Berührung mit Gegenständen, insbesondere solchen, die seine Mutter anfassen könnte. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass er diese schwängert. Er reinigt Hände und Oberflächen mit Desinfektionsmitteln. Um den Sohn nicht unnötig zu belasten, beteiligt sich Tobias´ Mutter an der Sicherung der Umgebung. Sie reinigt Flächen, reicht dem Sohn mit Handschuhen das Duschhandtuch und die Kleidung, wenn dieser sich geduscht hat, was mittlerweile dreimal am Tag für jeweils dreißig Minuten geschieht. Zur Schule geht Tobias zunächst seltener, im Verlauf gar nicht mehr. Ein befreundeter Hausarzt, welchen die Mutter in die Problematik eingeweiht hat, schreibt den Sohn mehrfach krank. Zugleich bemüht sich dieser um Kontakt zu einer jugendpsychiatrischen Ambulanz.

Aufgrund von Scham suchen viele Betroffene erst spät nach professioneller Hilfe

Bei Zwangserkrankungen ist es typisch, dass zwischen Auftreten der Symptome und einer sinnvollen Behandlung eine lange Zeit vergeht. Aufgrund von Scham und Verheimlichung dauert es durchschnittlich zwei Jahre, ehe sich der Betroffene psychologische Hilfe sucht. Auch die Einbeziehung der Umwelt ins Störungsbild, (im vorliegenden Fall zunächst der Freundin, dann der Familie) führt durch eine relative Entlastung des Patienten oft zu einer Verschleppung der Störung beziehungsweise deren Behandlung.

Mittlerweile hat Tobias mit seiner Mutter eine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz aufgesucht. Dort wird zunächst sorgsam eine Anamnese erhoben, aus welcher schnell das drastische Ausmaß der Störung und die erhebliche Qual auf Patientenseite hervorgehen. In einem Gesprächsteil unter Ausschluss der Mutter traut sich Tobias zu berichten, dass er in den letzten Wochen mehrfach darüber nachgedacht habe, sich das Leben zu nehmen. Es biete ihm momentan keine Freuden mehr: Seine Freundin habe er seit Wochen nicht gesehen, seine Zukunftspläne zerschlügen sich gerade angesichts seiner schulischen Entwicklung. Außerdem habe er nach der mittlerweile langen Zeit von fünf Monaten, die er nun schon an der Störung leide, keine Hoffnung auf Linderung mehr. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, sich in die Ambulanz zu begeben, sei gewesen, dass er neulich aus Versehen eine Flasche zerworfen habe. Sie sei ihm durch die behandschuhten Hände geglitten. Er habe wie in Trance nach einer Scherbe gegriffen, die zu seinen Füßen gelegen habe. Er habe sich vor sich selbst erschreckt, insbesondere vor dem Gedanken, er könne sich mit der Scherbe das Leben nehmen.

Tobias wird für eine stationäre Therapie auf einer Jugendlichenstation angemeldet. Die Aufnahme dort erfolgt einvernehmlich nach kurzer Zeit. Dort erhält er ein umfassendes Therapieangebot, bestehend aus bewegungs-, kreativ- und ergotherapeutischen Gruppensitzungen, eingebettet in einen intensiv strukturierten stationären Alltag. Mit Tobias und den Eltern werden Gespräche geführt, die zuständige Ärztin führt mit Tobias Übungen durch, während der er sich seinen Ängsten und Zwängen stellen muss. Zunächst sind diese Übungen für ihn noch leicht zu bewältigen, im Verlauf bringen sie Tobias an seine Grenzen. Regelmäßig gerät er in Verzweiflung. Er weint, bisweilen schreit er und schlägt sich mit den Fäusten auf die Knie und gegen die Stirn.

Die Ärztin verordnet Tobias ein Medikament, welches ihm helfen soll. Zunächst merkt er keinen Unterschied, erst nach Wochen erfährt Tobias unter konsequenter Weiterbehandlung eine Linderung seiner Not.

Eine sorgsame Anamneseerhebung spielt in der Diagnostik der Zwangserkrankung eine zentrale Rolle. Bei der Anamnese fragt der Behandler unter anderem nach:

Daneben gibt es spezifische psychologische Testverfahren. Sie helfen dem Behandler dabei, die Störung einzugrenzen und von anderen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen abzugrenzen. Darüber hinaus stehen somatische Kontrolluntersuchungen, wie Labordiagnostik, Elektrophysiologie (EEG) und Bildgebung (MRT) zur Verfügung. Sie erlauben Aufschluss über körperliche Ursachen und Begleitstörungen.

Wenn möglich erfolgt die Behandlung ambulant

Wenn möglich erfolgt die Behandlung ambulant. Je nach Ausmaß und Gefährdung muss die Therapie im teil- oder sogar vollstationären Setting stattfinden. Therapiebausteine sind zunächst Beratungen, die sich an Patient und Familie richten. Außerdem gibt es familienzentrierte Interventionen, kognitive und kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren im Zusammenspiel mit tiefenpsychologisch und psychodynamisch fundierten Verfahren. Auch eine psychopharmakologische Mitbehandlung kann nötig sein. Dabei setzt der Behandler Antidepressiva ein. Je nach Ausmaß der Störung und wahnhaft-überwertigem Charakter der Ängste und Zwangsgedanken ergänzt er diese im Einzelfall um Neuroleptika.

In der kognitiven Verhaltenstherapie ist neben anderen Techniken die sogenannte gestufte Exposition mit Reaktionsverhinderung von zentraler Bedeutung. Das heißt: Der Patient provoziert unter therapeutischer Begleitung und Rücksprache das Auftreten der Zwänge und verhindert deren Ausführung. Folge ist entsprechend kurzfristig eine rapide Zunahme des Zwangsdrucks. Im Verlauf tritt jedoch eine Linderung der Symptome ein. Neu in der Behandlung der Zwangsstörungen ist das sogenannte tACS (transcranial alternating current stimulation). Dabei wird durch eine elektrische Stimulation der Hirnrinde die bewusste Steuerung der Gedanken verstärkt und die Kontrolle über starke Emotionen und Ängste wiedererlangt. Der Patient kann sich damit wieder für therapeutische Handlungen und Entscheidungen öffnen.

Die Behandlung zeigt Wirkung und Tobias kann nach drei Monaten aus dem vollstationären zunächst in den tagesklinischen Rahmen überführt werden, nach weiteren vier Wochen wird die Therapie ambulant fortgesetzt. Die Wiedereingliederung in den Schulunterricht gelingt bereits während der Behandlung in der Tagesklinik.

Die Beziehung zu Anna kann Tobias wieder aufnehmen. Immer wieder aufkeimende Zwänge kann er mittels Techniken aus der Therapie in Schach halten. Er kann sich im Alltag frei bewegen, seinen Hobbies nachgehen und Freunde treffen. Und doch: Wenn Tobias eine Toilette besucht, schaut er danach stets, ob er Spuren hinterlässt.

Die Rückfallquoten bei Zwangserkrankungen liegen je nach Studie zwischen 30 und 70 Prozent. Dabei ist die Prognose der Zwangsstörung von vielen Faktoren abhängig. Unter anderem spielen dabei eine Rolle:

All das sind sogenannte prognosegefährdende Einflussgrößen, also Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls erhöhen. Eine stabile Persönlichkeit vor Auftreten der Störung, ein höheres Ersterkrankungsalter und ein früher und konstanter Behandlungsbeginn wirken sich entsprechend positiv auf die Prognose aus. Auch der Struktur der Behandlung kommt eine tragende Rolle zu. So weiß man, dass es die Rückfallquote erheblich senkt, wenn nach der vollstationären Therapie eine Anschlussbehandlung in einer Tagesklinik stattfindet. Mitunter kann selbst eine Unterbringung außerhalb der Familie erfolgsversprechend sein. Etwa dann, wenn es psychiatrische Vorbelastungen in der Familie gibt und die Familienangehörigen nicht bereit oder imstande sind, bei der Therapie mitzuwirken.

Abschließend noch ein Hinweis aus aktuellem Anlass:

Die Abteilung für Psychiatrische Neurophysiologie der Institutsambulanz des Vitos Klinikums Hochtaunus sucht für eine neue Studie Probanden mit starken, therapieresistenten Zwangsstörungen.

Weiterführende Informationen finden Sie hier [1].

Bildquelle: pixabay